"Der Staat muss das Urteil in der Tiefe durchdringen"

Stimmen zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Vorratsdatenspeicherung

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Für Claudia Roth hat das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Vorratsdatenspeicherung grundsätzliche Bedeutung: "Das Gericht hat dargelegt, dass das Internet kein rechtsfreier Raum ist." Auch die Regierung und die Strafverfolgungsbehörden seien an Recht und Gesetz gebunden. Das hat für die Bundesvorsitzende von Bündnis90/Die Grünen weitreichende Bedeutung: "Wir müssen uns fragen, was ist die Basis der Demokratie?"

Claudia Roth bei der Urteilsverkündung. Alle Fotos: Joachim Jakobs

Andere Beobachter appellieren an die Lernfähigkeit der Bundesregierung. Bundestags-Vizepräsidentin Petra Pau (Die Linke) weist darauf hin, dass es sich bei der Vorratsdatenspeicherung um "das erste vom Bundestag mit Mehrheit beschlossene Gesetz" handelt, "gegen das gleich drei amtierende Vizepräsidenten geklagt und Recht behalten haben". Zu den Klägern gehören nach Paus Angaben auch Katrin Göring-Eckardt (Bündnis 90/Die Grünen) und Wolfgang Thierse (SPD).

Petra Pau

Rechtsanwalt Burkhard Hirsch verlangt, dass "der Bundestag aus der Serie der Entscheidungen lernt". Innerhalb von 5 Jahren habe die Bundesregierung 14 Niederlagen in Karlsruhe erlitten. Der Staat müsse jetzt "in sich gehen und das Urteil in der Tiefe durchdringen", so die Forderung des FDP-Politikers.

Gerhart Baum

Seine Parteifreundin Gisela Piltz analysiert: "Das schwarz-rote Gesetz wurde komplett versenkt." Schlimmer noch: Die Nichtigkeit eines Gesetzes "bedeutet die Höchststrafe für den Gesetzgeber".

Piltz fordert Nachverhandlungen der EU-Richtlinie, auf der das deutsche Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung basiert. Dem schließt sich die Grüne Roth an und ergänzt: "Es kann nicht angehen, dass die Bundesregierung erst Entscheidungen im Ministerrat (der Europäischen Union, d. Red.) mitträgt und anschließend behauptet, sie habe Brüsseler Vorgaben umsetzen müssen." Die damalige Bundesjustizministerin "Brigitte Zypries hat das doch aktiv unterstützt."

Gisela Piltz

Das Umdenken in Europa ist bereits in vollem Gang: Die zuständige Kommissarin Viviane Reding erklärte dem Spiegel: "Die Vorratsdatenspeicherung kann jedermanns Grundrecht auf Privatsphäre einschränken." Es müsse "gewährleistet werden", dass die Vorratsdatenspeicherung mit der seit Dezember verbindlichen EU-Grundrechtecharta "vereinbar" sei. Außerdem sei der Nutzen der Daten zu hinterfragen.

Konrad Freiberg, Vorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft interpretiert das Karlsruher Urteil als "schallende Ohrfeige". Wiederum habe eine schlampige Gesetzesformulierung dazu geführt, dass der Polizei ein notwendiges Ermittlungsinstrument aus der Hand geschlagen wurde. Der Gesetzgeber müsse nun unverzüglich ein dem Richterspruch voll entsprechendes Gesetz vorlegen, mit dem die Polizei wieder gespeicherte Telekommunikationsdaten zur Aufklärung schwerster Straftaten nutzen dürfe.

Burkhard Hirsch

Burkhard Hirsch teilt zumindest die Ansicht über die handwerklichen Mängel des Gesetzes und nennt ein Beispiel: "In der Anhörung im vergangenen Jahr sagte der Präsident der Bundesnetzagentur, es müssten 'Verfahren entwickelt werden, um die Datensicherheit zu gewährleisten'." An solche Verfahren hätte Hirschs Ansicht nach nicht erst in der Anhörung bei Gericht gedacht werden dürfen. Stattdessen hätten sie bereits bei der Verabschiedung des Gesetzes vorhanden sein müssen. Hirsch kommt zu dem Schluss: "Der Präsident der Bundesnetzagentur war doch eine absolute Null."

Michael Rotert

Michael Rotert, Vorstandsvorsitzender des eco-Verbands der deutschen Internetwirtschaft e.V. sieht eine Reihe von Konsequenzen für die Mitglieder seiner Organisation: "Zum einen wird es sehr teuer. Die Vorgaben des Gerichts zur Datensicherheit könnten die Kosten womöglich verdoppeln." Außerdem vermisst Rotert "eine Aussage des Gerichts zu den Kosten der Datenabfrage und der Datenübermittlung an die Strafverfolgungsbehörden." In seinem Urteil sei Karlsruhe nur auf die Kosten der Speicherung der Daten eingegangen.

Hans-Jürgen Papier

Insgeheim hofft der eco-Verbandschef aber, dass die Vorgaben des Gerichts nicht zu erfüllen sind: Die Richter verlangten, dass die Telekommunikation besonders schutzwürdiger Gruppen grundsätzlich nicht gespeichert würden. Dazu zählten etwa Organisationen, die "telefonische Beratung in seelischen oder sozialen Notlagen" anböten. Michael Rotert ist "gespannt, wie der Gesetzgeber das umsetzen will".

Meinhard Starostik (r.)/ Julius F. Reiter

Der Vorsitzende des Bundestagsinnenausschusses Wolfgang Bosbach (CDU) wollte Telepolis seine Sicht zu den Konsequenzen des Urteils nicht erläutern. Für Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser Schnarrenberger ist das Urteil "Maßstab und Richtlinie für zukünftige Gesetzgebungsvorhaben im Bereich der Innen- und Rechtspolitik. Es ist uns Auftrag und Verpflichtung zugleich."