Echte Verbrechen in virtuellen Umgebungen

Mord, Diebstahl, Vergewaltigung, Betrug: Wann wird ein virtuelles Verbrechen so real, dass es tatsächlicher Strafe bedarf?

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Kann man allein mit Textbefehlen eine Vergewaltigung verüben? Einer der ersten dokumentierten Fälle von Gewalt in einer virtuellen Welt ereignete sich 1993 in einem textbasierten Multi-User Dungeon namens LambdaMOO.

Benutzer haben in dieser, noch heute existierenden virtuellen Welt die Möglichkeit, interaktive Objekte zu programmieren. Einer der User, nur unter seinem Pseudonym Mr. Bungle bekannt, nutzte dieses Feature in Form einer Voodoo-Puppe, die es ihm erlaubte, anderen Nutzern bestimmte Handlungen unterzuschieben - etwa die Beschreibung physischer Intimitäten mit anderen Usern.

In einer Welt, die nur aus Text besteht, ist das äquivalent dazu, eine Person gegen ihren Willen zu etwas zu zwingen - äquivalent zu einer Vergewaltigung also, und als solche wurde es von den Beteiligten damals auch aufgenommen. Eine Teilnehmerin, deren Avatar zu den Opfern gehörte, berichtete von „post-traumatischen Tränen, die über ihr Gesicht strömen“.

Diese Geschichte aus der Computer-Frühzeit nutzen australische Kriminologen als Einstieg für ein in Trends & issues in crime and criminal justice veröffentlichtes Paper, das den heutigen Stand der Forschung zu echten Verbrechen in virtuellen Umgebungen untersucht. Das Problem ist nach wie vor kompliziert. Denn zwar hat sich die Technik weiterentwickelt - statt nur per Textkommando navigieren moderne Avatare heute durch 3D-Welten, die nicht mehr in Worten beschrieben, sondern von prozessorintensiver Grafik erzeugt werden.

Bis wohin erstrecken sich unsere Gesetze, und wie sollen wir sie anwenden?

Die Gesetzgebung kann jedoch nach wie vor wenig mit Second Life & Co. anfangen. Bis wohin erstrecken sich unsere Gesetze, und wie sollen wir sie anwenden? Klar ist nur, dass eine simple Übertragung nicht funktioniert. Eine virtuelle Vergewaltigung kann nicht im realen Leben strafbar sein - sonst müssten Staatsanwälte gegen jeden „Mord“ vorgehen, den World-of-Warcraft-Spieler an anderen Spielern verüben (und womöglich auch an NPCs). Bei simpleren Vergehen wie einer Beleidigung jedoch sieht es anders aus: Das Gesetz definiert nicht, wie diese zu erfolgen hat. So, wie ich jemanden per E-Mail erfolgreich beleidigen kann, sollte das auch in WoW oder Second Life möglich sein.

Die meisten Betreiber virtueller Welten versuchen ihre Nutzer heute mit ihren „Terms of Service“ zu schützen, die beschreiben, welche Aktionen von der Firma als unpassend angesehen werden. Second-Life-Betreiber Linden Labs gibt seit einiger Zeit sogar wöchentliche Reports heraus, die alle Vorfälle beschreiben, inklusive Art des Verstoßes, Zeit, Ort und der verhängten Strafe.

Einfacher haben es da die Gesetzeshüter, wenn die Schwelle zum Reallife überschritten wird. Wenn Ingame-Währung oder -Items einen realen Wert bekommen, liegt (etwa bei einem Account-Klau mit Phishing-Methoden) auch ein wirklicher Diebstahl vor. Die Schwierigkeit besteht hier dann eher darin, den Dieb zu stellen, der gerade irgendwo in China oder Russland am Computer sitzt. Den größten Einzelschaden in der Geschichte der 3D-Welten dürfte wohl der Zusammenbruch der in Second Life ansässigen Ginko Bank verursacht haben. Die Nutzer, die auf bis zu 40 Prozent Zinsversprechen der virtuellen Bank hereingefallen waren, kostete der Konkurs damals insgesamt etwa einen sechsstelligen US-Dollar-Betrag.

Hintertüren der Staatsmacht

Eine weitere Hintertür, über die die Staatsmacht sich mit virtuellen Welten auseinandersetzen kann, liegt in den Kinderpornografie-Verboten, die in den meisten Ländern gelten. Teilweise ist jede Darstellung sexueller Akte an Kindern strafbar - das gilt dann auch, wenn es sich nur um einen kindlichen Avatar handelt.

Die australischen Forscher zeigen sich trotzdem skeptisch, ob sich mit Zwangsmaßnahmen eine Online-Welt regulieren lässt. Deutlich effizienter sei es, die Benutzer selbst einzubeziehen - etwa mit Hilfe eines Reputationssystems. So hat auch LambdaMOO damals das Kriminalitätsproblem gelöst: Zunächst entwickelte der Betreiber ein Petitionssystem, an dem jeder User teilnehmen kann. Mit dessen Hilfe beschloss die Community, das Kommando „boot“ zu schaffen, mit dem missliebige Gäste fortan aus dem MOO geworfen werden können. Den virtuellen Vergewaltiger, Mr. Bungle, hatte zuvor ein Programmierer eigenmächtig aus dem System geworfen. Im Reallife ging LambdaMOO übrigens nicht gegen Mr. Bungle vor.