Sicherheit bei der Bahn: "Auf Kante genäht"

Schon bei der Bestellung von Schienenfahrzeugen wurde nur ein minimaler Sicherheitspuffer gefordert

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Immer wieder gab es bei der Bahn massive Probleme. Mit der zum Glück noch glimpflich abgelaufenen Entgleisung eines ICE bei der Ausfahrt aus dem Kölner Hauptbahnhof kam nach und nach ans Licht, dass es bei der Zugflotte der Deutschen Bahn nicht nur bei vereinzelten Achsen Sicherheitsprobleme gibt. Mittlerweile ist klar, dass das Achsenproblem die Bahn vor eine Mammutaufgabe stellt. 1.872 Radsätze an 67 Zügen vom Typ ICE T müssen ausgetauscht werden.

Doch nicht nur im Fernverkehr gibt es massive Probleme. Auch die Züge der Berliner S-Bahn kamen nach einer Entgleisung am 1. Mai auf den Prüfstand. Schnell wurde bekannt, dass die Hauptuntersuchung des verunglückten Zuges um zwei Jahre nach hinten verschoben worden war – ein gesetzlich zulässiger Vorgang, solange der Zustand des Fahrzeugs dies zulässt. Gut zwei Monate später musste die S-Bahn in der Hauptstadt ihren Betrieb größtenteils einstellen, weil das Eisenbahn-Bundesamt (EBA) immer wieder Züge entdeckte, die nicht ordnungsgemäß überprüft worden waren. Diese wurden vom EBA aus Sicherheitsgründen aus dem Verkehr gezogen und in die Werkstätten geschickt.

ICE-T. Bild: Lüko Willms. Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Gestern beschäftigte sich der Verkehrsausschuss des Bundestages mit der Sicherheit bei der Bahn. Als Experten waren Gerald Hörster, der Präsident des Eisenbahn-Bundesamtes, Dr. Klaus Baur, Präsident des Verbandes der Bahnhindustrie (VDB) und gleichzeitig Vorsitzender der Geschäftsführung des Eisenbahnherstellers Bombardier Deutschland eingeladen. Weiterhin vertraten Klaus Junker von der Deutschen Bahn und Dr. Carsten Hein vom Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) die Interessen der Verkehrsbetriebe, sowie Jens Schwarz, der Konzernbetriebsrat der Deutschen Bahn AG die Interessen der Beschäftigten des größten deutschen Bahnkonzerns.

Wartungsmängel und Sicherheitsreserven

Schon die ersten Worte des EBA-Präsidenten Hörster ließen keinen Zweifel aufkommen, dass die Probleme bei der Bahn alles andere als klein sind. Mit Blick auf die Probleme bei den Radsätzen des ICE-T und den anhaltenden Schwierigkeiten bei der Berliner S-Bahn erklärte er, die Schienenfahrzeuge seien "konstruktiv auf Kante genäht" worden. Zudem gebe es wenig Sicherheitsreserven und Probleme bei der Wartung und Instandhaltung der Züge. Genau diese Wartungsmängel sind der Bahn nun auf die Füße gefallen. Die Folge sind Verspätungen, Zugausfälle oder aber auch die nahezu vollständige Einstellung des S-Bahn-Betriebs in der Hauptstadt. Auch mehr als ein halbes Jahr später hat sich die Lage in Berlin noch nicht normalisiert.

Die Frage, was genau "auf Kante genäht" bei der Bahnsicherheit zu bedeuten habe, beschäftigte in zahlreichen Fragen die Mitglieder des Verkehrsausschusses. Auf den Punkt brachte es Valerie Wilms (Grüne) mit ihrer Frage, ob "auf Kante" bedeuten würde, dass Hersteller und Betreiber der Bahnen nur mit einem Sicherheitsfaktor von 1,01 kalkulieren. Dies würde bedeuten, dass die Züge nur auf einen Sicherheitspuffer von 1 Prozent über der gesetzlichen Norm ausgelegt sind. EBA-Präsident Hörster bestätigte, dass für einzelne Teile tatsächlich nur ein derart geringer Sicherheitspuffer eingeplant sei. Baur, der die Bahnindustrie vertrat, verteidigte diesen Sicherheitsstandard. Der Faktor 1 bedeute eine exakte Einhaltung der Norm. Höhere Sicherheiten seien in vorangegangene Berechnungen eingeflossen.

Darüber hinaus lobte Baur den "hohen Sicherheitsstandard unserer Erzeugnisse" und verwies darauf, dass für die Sicherheit letztlich vier Bereiche wichtig seien. Dies seien die Herstellung und der Betrieb der Fahrzeuge sowie die Infrastruktur und die Aufsicht. Die Hersteller fertigten nach europäischen Normen sowie nach Vorgaben der Kunden, das Eisenbahnbundesamt sei für die Abnahme der Fahrzeuge zuständig. Auf den Betrieb und die Wartung der Schienenfahrzeuge hingegen habe der Hersteller keinen Einfluss mehr. Allerdings sei es durchaus möglich, die Hersteller in die Wartung einzubinden. Derzeit nutze die Deutsche Bahn dazu jedoch eigene Ressourcen.

Schuld sind die Anderen

Auch Klaus Junker, der Bevollmächtigte des Vorstandes für Eisenbahnbetrieb bei der Deutschen Bahn AG, sieht prinzipiell Hersteller, Behörden und Betreiber gemeinsam in der Verantwortung. Jedoch seien die Hersteller in die Haftung seiner Meinung nach bisher nur oberflächlich eingebunden. Die Bahn überwache die Fahrzeuge fast täglich, dazu gebe es ein betriebliches Regelwerk. Doch konzernweite Regelungen zur Wartung und zum Qualitätsmanagement gibt es nicht.

Bei der Berliner S-Bahn beispielsweise wurde das Wartungsprogramm so "drastisch reduziert", dass vorgeschriebene Fristen nicht mehr eingehalten werden konnten, sagte S-Bahn-Betriebsratschef Heiner Wegener. Zwar hätten Mitarbeiter lange darauf aufmerksam gemacht, dass da etwas nicht stimme, jedoch sei dies ignoriert worden, so Wegener weiter.

Die Bahn jedoch sieht die Lösung des Problems derzeit vor allem in umfangreicheren Haftungsregelungen für die Hersteller der Züge, und kann sich in dieser Frage der Schützenhilfe von Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer sicher sein. Für den Grünen Verkehrsexperten Anton Hofreiter ist dies jedoch nur eine Pseudolösung, um von den wahren Problemen abzulenken, so Hofreiter im Anschluss an die Sitzung. Er befürchtet zudem, dass die neuen Achsen, die unter anderem für den ICE T entwickelt werden und erstmals ab 2011 eingebaut werden sollen, nicht ohne weitere Anpassungen an den betroffenen Zügen zulassungsfähig sein könnten, so dass hier erneut größere Schwierigkeiten auftauchen könnten.

Der Vertreter des Verbandes Deutscher Verkehrsunternehmen, Dr. Hein, sah hingegen keine größeren Probleme bei der Bahn. Bei den Pannen habe es sich nur um Einzelereignisse gehandelt, nach wie vor sei die Eisenbahn 36mal sicherer als die Straße. Zugleich warnte er vor zu viel Bürokratie. Bei der Bahn solle der Mensch entscheiden, damit in Sicherheitsfragen flexibel reagiert werden könne.

Keine eigenen Prüfstände

Ein weiteres Problem ergibt sich aus der personellen und technischen Ausstattung des Eisenbahnbundesamtes. Dieses verfügt nicht über eigene Prüfstände, auf denen Achsen oder gar ganze Züge Belastungstests absolvieren können. Das Bundesamt kann daher lediglich die Zahlen auf Stimmigkeit und Richtlinienkonformität kontrollieren, die es von den Herstellern und Betreibern der Züge zugeliefert bekommt. Die Daten, anhand derer das EBA über die Zulassung von Schienenfahrzeugen entscheidet, ermitteln Hersteller und Betreiber auf ihren eigenen Prüfständen.

Darüber hinaus ist das EBA derzeit nicht in die Wartung der Züge eingebunden. Dies sei aufgrund des hohen Aufwands auch nicht machbar, so EBA-Präsident Hörster. Stattdessen beschränke man sich darauf, die Prozesse in den Unternehmen zu überprüfen.

Für Jens Schwarz, Konzernbetriebsrat der Deutschen Bahn AG, liegen die Ursachen der Pannenserie bei der Bahn zum einen an Materialfehlern der Hersteller, zum anderen aber auch am Fehlen einheitlicher Qualitätsstandards bei der Bahn. So seien beispielsweise die Bremszylinder bei der S-Bahn nicht fachgerecht instand gehalten worden. Weitere Probleme würden die ausgedünnte Fahrzeugflotte und die gespreizten Instandhaltungsfristen verursachen. Schwarz forderte, wieder zur vorbeugenden Instandhaltung zurückzukehren und auf Werksschließungen und Entlassungen zu verzichten. Die mit der Reparatur der Personenzüge betrauten Mitarbeiter seien komplett ausgelastet, zudem gebe es in den Werken 800 Zeitarbeiter, so Schwarz weiter.

Bahn auf Börsenkurs?

Die Pannen bei der Bahn zeigen eindrucksvoll, welchen Einfluss das Schielen auf kurzfristigen finanziellen Erfolg im Hinblick auf die Sicherheit hat. Die Pläne dafür sind jedoch nicht vom Tisch, sondern lediglich aufgeschoben.

Zunächst, so der Parlamentarische Staatssekretär des Bundesverkehrsministeriums, Enak Ferlemann (CDU), müsse die "Börsenfähigkeit" des Konzerns erreicht werden. In der gegenwärtigen Wirtschaftslage sei ein Börsengang jedoch undenkbar. Hinzu kommt, dass wohl kaum ein Investor große Summen für ein pannengeplagtes Unternehmen wie die Deutsche Bahn ausgeben möchte, in das er erst einmal kräftig investieren müsste, um die grundlegenden Sicherheitsprobleme zu beseitigen.

Wirklich börsenfähig ist die Bahn wohl frühestens wieder ab 2013. Dann soll sowohl die Berliner S-Bahn als auch die ICE-Flotte wieder voll einsatzbereit sein. Es darf bezweifelt werden, ob die Kritik von Verkehrsminister Ramsauer am Börsengang der Bahn auch darüber hinaus anhält.