Mexiko im Sog der Gewalt

Soziale Ungleichheit und Kriminalität fordern in dem US-Nachbarstaat immer mehr Opfer. Der Staat antwortet mit noch mehr Repression

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Mexiko versinkt in der Gewalt. Während das Land südlich der USA vor einigen Jahren noch als beliebtes Urlaubsziel für Rucksackreisende aus den USA und Europa galt, häuften sich zuletzt die Negativschlagzeilen. Drogenbanden und soziale Auseinandersetzungen kosten immer mehr Menschenleben. Die Staatsführung unter dem konservativen Präsidenten Felipe Calderón setzt in beiden Fällen vor allem auf eine weitere Militarisierung des Landes. Menschenrechtsgruppen warnen jedoch vor den Folgen. Angesichts der Entsendung zehntausender Militärs und Polizisten sehen sie die Gefahr einer Zunahme staatlicher Gewalt. Droht Mexiko nun gar eine "Kolumbianisierung"?

Die Zahlen sind alarmierend: Kurz nach Ende Januar dieses Jahres fielen der Kriminalität in Mexiko 1000 Menschen zum Opfer. Internationale Nachrichtenagenturen fassen die verheerende Entwicklung inzwischen nur noch in nüchterne Statistiken. Im laufenden Jahr sei die 1000-Opfer-Marke bereits nach 34 Tagen durchbrochen worden, hieß es im spanischen Dienst der französischen Nachrichtenagentur AFP. Im Vorjahr habe es noch 51 Tage gedauert, bis diese Zahl erreicht wurde. Im Schnitt, so rechnete die AFP vor, würde in Mexiko alle 48 Minuten ein Mensch ermordet werden. Zentrum der Gewalt ist nach offiziellen Angaben der Bundesstaat Chihuaha – 24,3 Prozent der Mordopfer sind hier zu beklagen.

Wie in anderen Staaten mit ähnlichen Problemen – in Lateinamerika betrifft das vor allem Kolumbien – ist ein Gewöhnungseffekt zu beobachten. Nur noch krasse Fälle von Massenmorden schaffen es in die internationalen Medien. So etwa Ende Januar, als ein Killerkommando in Ciudad Juárez, an der Grenze zu den USA, eine Geburtstagsparty stürmte und 16 Jugendliche hinrichtete. Die Aktion war akribisch geplant. Zunächst versperrten die maskierten Mörder die Straße vor dem Haus, dann versammelten sie die männlichen Gäste im Patio des Hauses und eröffneten das Feuer. Der Fall zeigt, wie sicher die Banden in Mexiko inzwischen agieren. Die Ermittlungsbehörden vermuten die Täten im Drogenhandel.

Militarisierung kann Gewalt nicht eindämmen

Die Regierung von Präsident Calderón reagiert auf die zunehmenden bewaffneten Auseinandersetzungen mit Gegengewalt. Seit seinem Amtsantritt Ende 2006 hat der konservative Politiker rund 50.000 Soldaten gegen die Drogenbanden und kriminelle Gruppen mobilisiert. Der Erfolg hält sich in Grenzen: 15.000 Morde wurden in Mexiko seither verzeichnet, Tendenz steigend.

Sorgen bereitet Beobachtern vor allem der Einflussverlust des Staates. Mitte Januar kündigte die mexikanische Armee an, sich aus den Straßen von Ciudad Juárez – der Hauptstadt der Gewalt – zurückzuziehen, weil man den Banden kaum mehr etwas entgegenzusetzen habe. Nun verlagern die Militärs ihre Aktionen auf die ländlichen Gebiete, um den Drogenbanden die Zugangsrouten abzuschneiden. Der Strategiewechsel wurde in mexikanischen Medien als Zeichen der Schwäche gedeutet. Immerhin waren in der Stadt 8000 Soldaten im Einsatz.

Die Entwicklung schürt in der Grenzregion zu den USA die sozialen Probleme. Rund 30.000 Bewohner des Grenzortes Ciudad Juárez seien in den vergangenen Jahren in die benachbarte US-amerikanische Stadt El Paso geflüchtet, berichtete die spanische Agentur EFE. Die wachsende Grenzverkehr birgt auch Gefahren: Experten sehen den illegalen Import von Waffen aus den USA als einen Grund für die wachsenden bewaffneten Auseinandersetzungen in dem südlichen Nachbarstaat.

Die Entwicklung droht Mexiko in die internationale Isolation zu drängen. Aus den USA, für deren Bürger Mexiko von jeher ein beliebtes Urlaubsziel war, kommen immer weniger Besucher. Ende Februar erneuerte das US-Außenministerium seine Reisewarnung für das südliche Nachbarland. Urlauber liefen Gefahr, in "gefährliche Situationen zu geraten".

Debatte über Alternativen abgeblockt

Menschenrechtsgruppen und kirchliche Akteure drängen angesichts der immer katastrophaleren Situation auf neue Konzepte. Persönlichkeiten wie der peruanische Schriftsteller Mario Vargas Llosa, Mexikos Expräsident Ernesto Zedillo und der ehemalige kolumbianische Staatschef César Gaviria hatten unlängst die Legalisierung von Marihuana verlangt, um den mächtigen Drogenkartellen des Landes die ökonomische Grundlage zu nehmen. Die US-nahe Regierung Calderons lehnte den Vorstoß entschieden ab. Eine solche Legalisierung sei ein "enormer Rückschritt", sagte Gesundheitsminister José Ángel Córdova.

Neben Menschenrechtsorganisationen und linken Oppositionsparteien weist indes auch die in Mexiko einflussreiche katholische Kirche auf die soziale Ungleichheit als eine Ursache für die Gewalt hin. Jede polizeiliche und militärische Strategie gegen das organisierte Verbrechen müsse "von sozialen Entwicklungsprogrammen begleitet" werden, hieß es Anfang Februar in der Zeitung "DLF" der Erzdiözese von Mexiko-Stadt. Das Land sei in einer "dramatischen und Besorgnis erregenden Situation", schreibt das Blatt, das eine weitere Mobilisierung von Soldaten kritisch kommentierte.

Politische Beobachter sehen hinter der Militarisierung Mexikos auch eine außenpolitische Strategie der USA. Bereits 2007 verwies der Autor Carlos Fazio in der linksliberalen Zeitung "La Jornada" auf das Beispiel Kolumbien. Der sogenannte Kolumbienplan der USA, in dessen Rahmen hunderte US-Militärs in dem südamerikanischen Staat stationiert wurden, stelle eine Gefahr für die Souveränität des Landes dar. Die Einschätzung ist inzwischen bestätigt worden: Gegen den entschiedenen Widerstand der übrigen lateinamerikanischen Staaten hat die rechtsgerichtete Regierung des kolumbianischen Präsidenten Alvaro Uribe den USA sieben Militärbasen zur Verfügung gestellt (Geheimabkommen zwischen Kolumbien und USA unterzeichnet).