Von Antizionisten und Antisemiten

Ein kurzes historisches Lehrstück für das Umschlagen von Kritik in Antisemitismus (oder Antiislamismus) aus der Volksrepublik Polen des Jahres 1968

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Drei Ereignisse verliehen der öffentlichen Diskussion um den Nahostkonflikt – dem deutschen Dauerthema schlechthin - in den letzten Wochen erneut Auftrieb. Zum einen erhob der im Auftrag des UN-Menschenrechtsrates angefertigte Goldstone-Bericht schwere Vorwürfe gegen die israelische Armeeführung, die beschuldigt wird, während des Gaza-Krieges "inakzeptable Kriegsverbrechen" begangen zu haben. Zudem sorgte ein Mordanschlag auf Hamas-Führer Mahmoud al-Mabhouh, der vom israelischen Geheimdienst Mossad verübt worden sein soll, weltweit für Empörung. Schließlich musste einer der schärfsten und umstrittensten jüdischen Kritiker Israels, der Politologe Norman Finkelstein, seine Vortragsreise über den Gaza-Krieg in Deutschland absagen, da sowohl die Heinrich Böll Stiftung wie auch die Rosa-Luxemburg-Stiftung ihre anfängliche Unterstützung und Raumzusagen nach öffentlicher Kritik und internem Druck zurückzogen haben. Seitdem tobt nicht nur in der Linkspartei ein erbitterter Streit über das Thema, in dem sich israelkritische und proisraelische Kräfte gegenüberstehen.

Diese verbissen geführte Auseinandersetzung, bei der in Reaktion auf den obligatorisch und inflationär erhobenen Antisemitismusvorwurf schon mal von einer "Holocaustindustrie" und "Mossad-Fraktion" die Rede ist, findet auf einem Mienenfeld statt, nämlich in einer krisengeschüttelten deutschen Gesellschaft, in der die Suche nach handgreiflichen Sündenböcken mit jedem weiteren Krisenschub an Intensität gewinnen dürfte.

Über die Fallstricke einer unreflektierten und mit dem Holzhammer vorgetragenen Israelkritik versucht der folgende Text Aufschluss zu geben, der sich mit einem der dunkelsten Kapitel der Geschichte der Volksrepublik Polen, mit der "Antizionistischen Kampagne" von 1968, beschäftigt. Hiernach soll eine Annäherung an einen ganzen Fragekomplex gewagt werden, der mit dieser jüngsten Konfrontation in Zusammenhang steht: Darf, soll oder muss Israel gar kritisiert werden? Kann das offensive Anprangern der völkerrechtswidrigen israelischen Besatzung der palästinensischen Gebiete antisemitische Ressentiments in Deutschland wecken? Wie weit darf also diese Kritik gehen? Und wo fängt ordinärer Antisemitismus an? Wie sieht es mit anderen weitverbreiteten Ressentiments aus, wie beispielsweise dem Antiislamismus? Können auch hier analoge Trennlinien gezogen werden?

Die antisemitische Kampagne

Vor ziemlich genau 40 Jahren warfen auch etliche der letzten aufrechten jüdischen Kommunisten Polens das Handtuch. Er habe im August 1970 die polnischen Behörden um die Erlaubnis zur Emigration ersucht, schrieb beispielsweise Leopold Trepper in seiner Autobiographie. Im Gegensatz zu den meisten der rund 13.000 Juden, die bis zu diesem Zeitpunkt Polen schon verlassen mussten, wurde Trepper die Ausreise aufgrund seiner ehemals hohen Stellung und seines Bekanntheitsgrades als Symbolfigur des antifaschistischen Widerstandes verweigert.

Der jüdische Kommunist war maßgeblich am Aufbau der Roten Kapelle, des größten kommunistischen Nachrichtendienst- und Widerstandsnetzwerkes im faschistisch besetzten Europa beteiligt, das die Sowjetunion mit unschätzbaren strategischen und militärischen Informationen versorgen konnte. Erst nach internationalen Protesten konnte auch Trepper Polen 1973 verlassen. Vor ihm emigrierten bereits etliche prominente Intellektuelle und Sozialwissenschaftler. Der Soziologe Zygmunt Bauman gab schon im Januar 1968 seinen Mitgliedsausweis der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PVAP) ab, der Philosoph Leszek Kolakowski wurde 1966 aus der Partei ausgeschlossen und emigrierte 1968, nachdem ein Lehrverbot gegen ihn verhängt wurde. Insgesamt sollen - bis weit in die 70er Jahre hinein - bis zu 20.000 Juden die Volksrepublik verlassen haben. Nur wenige tausend Polen jüdischer Herkunft blieben im Land.

Den Auslöser für diesen Exodus der jüdischen Minderheit Polens bildete der Sechs-Tage-Krieg zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarstaaten vom 5. bis 10. Juni 1967, der ein neues, tragisches Kapitel des Nahostkonfliktes aufschlug. Durch einen Überraschungsangriff konnte die israelische Armee die Truppen Ägyptens, Jordaniens und Syriens besiegen und den Sinai, das Westjordanland, den Gazastreifen und die Golanhöhen besetzen.

Seit Juni 1967 hält Israel die völkerrechtswidrige Besatzung der palästinensischen Gebiete aufrecht, die als ursächliche Triebfeder des israelisch-palästinensischen Konflikts gilt. Seit Juni 1967 werden Palästinenser von ihrem Land vertrieben, werden illegal jüdische Siedlungen im Westjordanland errichtet, wird die Bewegungsfreiheit der Palästinenser in ihrem eigenen Land von den israelischen Besatzungstruppen eingeschränkt. Mit dem Sieg im Sechs-Tage-Krieg nahm schlicht die Unterdrückung der Palästinenser durch Israel ihren Anfang – und auf dieses schreiende Unrecht ist ein großer Teil der an Israel seit diesen 43 Jahren geübten Kritik zurückzuführen.

Vor diesem Hintergrund scheinen die entschiedenen Maßnahmen, mit der die Ostblockstaaten auf diesen israelischen Sieg reagieren, durchaus angemessen. Mit Ausnahme Rumäniens einigten sich alle Länder des Warschauer Paktes bei einer kurz nach Ende der Kampfhandlungen eiligst abgehaltenen Konferenz in Moskau auf den Bruch aller diplomatischen Beziehungen zu Israel. Den arabischen Staaten versprach man in Moskau zudem umfassende Hilfsmaßnahmen. Zugleich startete die Presse in den Ländern des real existierenden Sozialismus eine wütende Kampagne gegen Israel, in der die israelische Besatzungsherrschaft über die eroberten Gebiete scharf verurteilt wurde.

Nicht viel anders verhielt es sich auch in Polen, doch schon bald gab ausgerechnet Polens Staats- und Parteichef Wladyslaw Gomulka der Pressekampagne eine gefährliche Wendung. Auf einem Kongress der polnischen Gewerkschaften am 19. Juni sprach dieser von einer zionistischen fünften Kolonne in Polen, die mit den Israelis applaudiert habe:

Israels Aggressionen gegen die arabischen Staaten traf auf den Applaus jüdisch-zionistischer Kreise – polnischer Staatsbürger. Die Autoritäten behandeln alle Bürger gleich, aber wir wollen nicht, dass eine fünfte Kolonne in unserem Land auftaucht. Wir können nicht indifferent gegenüber Menschen bleiben, die den Aggressor unterstützen.

Wladyslaw Gomulka

Die Äußerung Gomulkas wurde live über das Radio übertragen, doch sie fehlte im anschließend veröffentlichten Redemanuskript. Angeführt von den Staatsratsvorsitzenden Edward Ochab protestierten etliche Mitglieder des polnischen Politbüros gegen diese Anschuldigungen Gomulkas, so dass dieser sich genötigt sah, die entsprechende Passage in seinem offiziell veröffentlichen Redemanuskript zensieren zu lassen – ein im gesamten Ostblock wohl einmaliger Vorgang. Dennoch schienen nach dieser Rede Gomulkas auf dem IV. Gewerkschaftskongress alle Dämme zu brechen: Unter dem Vorwand der Bekämpfung einer "zionistischen fünften Kolonne" in der Volksrepublik Polen überboten sich die staatstreuen Medien nun in der hysterischen Suche nach Verschwörerzirkeln und jüdischen Komplotts.

Doch vor allem offenbarte die Rede Gomulkas auf den Gewerkschaftskongress die tiefen Gräben innerhalb der polnischen Staatspartei, in der verschiedene Fraktionen verbissen um die Macht kämpften. In den frühen 60er Jahren konnte eine aggressive, straff organisierte Gruppierung innerhalb der PVAP, die sich größtenteils aus ehemaligen nationalkommunistischen Kampfgefährten Gomulkas rekrutierte, immer größeren Einfluss gewinnen. Die sogenannten Partisanen vertraten eine nationalistische ideologische Ausrichtung, die mit einem kaum gezügelten Antisemitismus einherging.

Wie der Name schon andeutet, rekrutierten sich ihre Mitglieder größtenteils aus dem mächtigen Veteranenverband ZboWiD, der auch Mitglieder der nationalistischen Heimatarmee (AK) zu integrieren vermochte. Der neue "starke Mann" der Bewegung war der Vorsitzende des Veteranenverbandes, der ehemalige Partisanengeneral und Chef der Sicherheitspolizei (UB), Mieczyslaw Moczar. Diese Gruppierung strebte, wie einstmals Gomulka, eine größere innen- wie außenpolitische Autonomie Polens gegenüber der UdSSR an. Zugleich forcierten die Partisanen eine autoritäre Ausrichtung der polnischen Gesellschaft, in der ohnehin die letzten freiheitlichen Errungenschaften des Polnischen Oktobers von 1956 einem schleichenden Erosionsprozess ausgesetzt waren.

Mitte der Sechzigerjahre konnte diese "nationalkommunistische" Fraktion bereits etliche Schlüsselstellungen innerhalb der Partei besetzen: Der für Organisations- und Personalfragen zuständige ZK-Sekretär und getreue Gefolgsmann Moczars, Ryszard Strzelecki, konnte zu einem der wichtigsten Berater Gomulkas aufsteigen und den Generalsekretär mit gefilterten Informationen beeinflussen. Im Dezember 1964 konnte Moczar den Posten des Innenministers besetzten und die Ernennung eines weiteren Verbündeten zum stellvertretenden Verteidigungsminister durchsetzen.

Moczar ging nun daran, den Sicherheitsapparat auszubauen und unter seine Kontrolle zu bringen. Blinden Gehorsam von seinen Untergebenen fordernd, wurde die Polizei (MO), der Geheimdienstapparat und die Arbeitermiliz (ORMO) von Moczar ausgebaut und reorganisiert. Neben dem Veteranenverband ZBoWiD fand Moczar einen weiteren Verbündeten: Boleslaw Piasecki, Gründer und Präsident des einflussreichen Katholikenverbandes PAX, teilte größtenteils die nationalistischen und antisemitischen Ansichten Moczars und unterstützte diesen propagandistisch mit seinem Zeitungsimperium. Rechtsgerichtete Nationalisten, deren gemeinsamer Nenner die Abneigung gegen Juden, Liberale, Deutsche und Russen war, füllten die Reihen der Partisanen im zunehmenden Maße.

Für diese rasch an Macht gewinnende Gruppierung bildete die Rede Gomulkas eine Art Fanal, nach dem die Vorbereitungen für eine umfassende Säuberungsaktion getroffen wurden:

Sie markierten den Beginn einer Phase, die man als eine "schleichende Kampagne" bezeichnen könnte. Gomulkas Worte waren das Signal für all jene, die seit Langem mit den Juden abrechnen wollten und nun fühlten, dass ihnen grünes Licht gegeben wurde, um zumindest den Ball ins Rollen zu bringen – vor allem im Ministerium von General Moczar und einem Teil der militärischen Führer. Der Sicherheitsdienst begann damit, Menschen mit jüdischer Abstammung in etlichen Institutionen zu überwachen und "verstecke Zionisten" zu identifizieren.

Quelle

Aus der "antizionistischen" Rhetorik folgte der blanke Antisemitismus

Was dieser aggressiven nationalistischen Gruppierung noch fehlte, war ein Vorwand, um die als "Antizionismus" getarnte, antijüdische Hetze lostreten zu können. Es fehlte schlicht eine Auseinandersetzung, die dem finsteren Wirken der "zionistischen fünften Kolonne" zugeschrieben, und propagandistisch ausgeschlachtet werden konnte. Diesen Vorwand lieferten den Partisanen die Studenten der Warschauer Universität Anfang 1968, als sie gegen die das Aufführungsverbot des Theaterstücks Dziadyg von Adam Mickiewicz protestierten, das wegen "russlandfeindlicher Äußerungen erlassen wurde. Darüber hinaus gab der polnischen Führung der Sieg der Reformkommunisten in der Tschechoslowakei Anlass zur Sorge – man fürchtete eine ähnliche Entwicklung in Polen.

Die Repressionsspirale drehte sich im März 1968 weiter, als ein von Provokateuren des Innenministeriums angeheizter Studentenstreik ausbrach und bei den anschließenden Verhaftungen einigen der Festgenommenen ihre jüdische Herkunft nachgewiesen wurde. Die folgende antisemitische Hetze, bei der die formell "antizionistische" Rhetorik abblätterte und ordinären antisemitischen Ressentiments Platz machte, sollte die Ereignisse des Sommers 67 in den Schatten stellen. Oppositionelle und prominente dissidente Stimmen wurden zu "Lakaien des internationalen Zionismus" erklärt, die etwa den Befehlen eines "Internationalen Rabbinerrates" Folge leisten würden.

Lawinenartig schwollen immer abstruser anmutende Beschuldigungen gegen in Polen tätige "Zionisten" in den Medien an, während die Partisanen mit ihrer großen Säuberungswelle gegen Juden und oppositionelle Gruppen in der PVAP begannen. An die 8.300 Funktionsträger in Staat, Partei und Wissenschaft verloren ihre Posten. Darunter befanden sich 14 Minister und 80 hohe Parteifunktionäre. Zu den prominenten Opfern der Säuberung gehörten u.a. der Staatsratsvorsitzende Ochab, der Parteitheoretiker Adam Schaff oder Außenminister Adam Rapacki – er weigerte sich schlicht, sein Ministerium zu betreten, in dem gerade die "rassische Abstammung" der Mitarbeiter überprüft wurde.

Die antisemitischen Unterstellungen der Partisanen fielen bei Teilen der polnischen Bevölkerung durchaus auf fruchtbaren Boden und führten zu einer weitgehenden Isolierung der Studentenschaft und der Intellektuellen. Der Antisemitismus konnte 1968 wieder die Massen mobilisieren, obwohl es zu Beginn der 60er Jahre so aussah, als ob die Ressentiments gegen die sich immer stärker assimilierenden Juden in Polen am Aussterben waren. Es war, als ob die Gespenster der Vergangenheit urplötzlich "aus der Asche" auferstanden wären, erinnerte sich Leopold Trepper:

Mehr als 25 Jahre nach Kriegsende entstand im Lande des Warschauer Rektors, wo die Juden noch mehr als anderswo unter der nazistischen Barbarei gelitten hatten, dass ungeheuer des Antisemitismus neu aus der Asche. Die Feindschaft gegen Israel und den Zionismus wurde zu einer erklärten Feindschaft gegen die polnischen Juden. … Zu Hunderten wurden jüdische Studenten von der Universität ausgeschlossen und alter Kämpfer aus der Parteigejagt; Moczar organisierte spontane Kundgebungen mit dem Schrei: "Schickt die Schweine zu Dayan!" Bei dieser hysterischen Entfesselung fehlte nicht viel zu einem kleinen Pogrom.

Leopold Trepper

Tatsächlich konnte die Partei im Rahmen ihrer antizionistischen Kampagne eine beeindruckende Mobilisierung vollführen, die das Kalkül der Partisanen zu bestätigen schien, wonach nationalistischer Kitt die Herrschaft der PVAP zementieren und ihrer Gruppierung selbst zum Durchbruch verhelfen würde. Mittels dieser nationalistischen und antisemitischen Kampagne hofften die Partisanen, eine größere Akzeptanz der PVAP innerhalb der rechtsgerichteten polnischen Bevölkerungsteile erringen zu können. Kurzfristig hatten sie damit ja auch Erfolg: Breite Schichten der polnischen Bevölkerung schlossen sich zusammen mit der Partei gegen die "zionistische Bedrohung" zusammen. An die 3,7 Millionen Menschen sollen bei insgesamt 42.000 Veranstaltungen gegen die halluzinierten "zionistischen Umtriebe" im Lande protestiert haben.

Die Kampagne lief aber nach einigen Wochen langsam aus dem Ruder und entwickelte zusehends eine Eigendynamik, die vor allem die Parteiführung selber zu gefährden schien:

Gegen Ende April waren die wichtigsten Ziele der Kampagne verwirklicht. Zur selben Zeit bestätigten parteiinterne Berichte zunehmend Warnungen, wonach populäre Forderungen, die Aufregung innerhalb der Parteikader und die Ambitionen einiger Gruppen des Establishment den Respekt vor die Parteiführung schwinden, und die Situation teilweise außer Kontrolle geraten ließen. … Der Generalsekretär entschied sich, die Kampagne zu beenden, aber er war überrascht, wie schwer das war. … Erst nach ein paar Wochen, nach wiederholten Warnungen und der stillen Bestrafung einiger der aggressivsten Kampagneführer, konnte die Disziplin voll wiederhergestellt werden.

Quelle

Umstritten ist in der gegenwärtigen Geschichtsschreibung immer noch die eigentliche Rolle Gomulkas bei dieser antisemitischen Kampagne, wie auch die strategische Zielsetzung Moczars. Gomulka hat zwar mit seiner Rede vor dem Gewerkschaftskongress den Startschuss für die Hetzjagd gegeben, doch könnte der Parteichef diese Entgleisung aufgrund der entsprechend präparierten Lageeinschätzung getätigt haben, die die Partisanen ihm zuspielten.

In etlichen Monographien wird Moczar als ein erbitterter Rivale Gomulkas dargestellt, der die antisemitische Kampagne weitertreiben wollte, bis er die Gelegenheit hätte, einen Machtwechsel zu vollführen (Bsp.: Czubiski Antoni, Historia Polski XX Wieku, Poznan, 2001, S. 292). Bezweifelt werden darf beispielsweise, ob es sich bei Gomulka um einen bewusst handelnden Antisemiten handelte, da seine Ehefrau eine Jüdin war. Wahrscheinlicher ist eher, dass der für seinen cholerischen Charakter berüchtigte Parteivorsitzende - angestachelt durch die fingierten Berichte der Partisanen - sich in seinem "antizionistischen" Eifer bei der genannten Rede zu den verhängnisvollen Äußerungen über die zionistische "Fünfte Kolonne" hinreißen ließ.

Tatsächlich wirkte Gomulka in dem späteren Kampagneverlauf nicht mehr als Antreiber. Schon in einer Rede vor Parteiaktivisten am 19. März - auf den Höhepunkt der antisemitischen Hysterie - widersprach er der Behauptung, der Zionismus sei eine Gefahr für den Fortbestand der Volksrepublik Polen. Im Juni 1968, auf einer Plenarsitzung des ZK der PVAP, distanzierte sich Gomulka von der antizionistischen Kampagne und stellte eine "antirevisionistische" Rhetorik in den Vordergrund. Schließlich brachte der V. Parteitag der PVAP im November 1968 eine von der Parteiführung dank sowjetischer Unterstützung erfolgreich durchgesetzte Minderung des Einflusses der Partisanen mit sich. Moczar verlor seinen Posten als Innenminister und somit seine Machtbasis. Von den circa 20.000 als "Zionisten" gebrandmarkten und aus Polen vertriebenen Juden ging übrigens nur ein kleiner Teil nach Israel, die meisten blieben in Europa.

Einige Schlussfolgerungen und Diskussionsanreize

Welche Schlussfolgerungen können wir aus diesem finsteren Kapitel polnischer (und staatssozialistischer) Geschichte ziehen? Die Berücksichtigung zweier zentraler Aspekte des polnischen März 1968 könnte vielleicht zur Klärung des Frontverlaufs bei den aktuellen Auseinandersetzungen rund um den Nahost-Konflikt beitragen.

Zum einen wurde diese antisemitische Kampagne größtenteils ohne die Anwendung klassisch antisemitischer Parolen geführt – nur auf dem Höhepunkt der Hetze schimmerten uralte antisemitische Stereotype auf. Niemals wurde von den Juden als solchen in den offiziellen Presseorganen Polens gesprochen, sondern nur von "Zionisten", die durch Verschwörungen die Volksrepublik zu destabilisieren versuchten. Die beteiligten Akteure beteuerten hingegen immerfort, dass ihre Zionistenjagd nichts mit Antisemitismus zu tun habe, wie diese Resolution der Arbeiterschaft einer Fabrik an den polnischen Sejm veranschaulicht:

Wir schwören, im Gedenken an alle jene, die für die Errichtung der Volksmacht fielen, dass wir mit unseren Arbeiterhänden die Erde Polens von allen Anstiftern und Anführern des Staatsstreichs gegen die Arbeiterklasse und die Regierung säubern werden. Wir werden nicht erlauben, dass Revisionisten und zionistische Randalierer uns des Antisemitismus bezichtigen.

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Hier scheint ein grundlegendes Problem der Israelkritik auf, das bis zum heutigen Tage fortwirkt. Die antisemitische Hetze kann sich "verpuppen" und auch bei einem Formwechsel zu "antizionistischen Protesten" ihre Wirkung entfalten. Die uralte antisemitische Vorstellung einer jüdischen Weltverschwörung wandelt sich also in die Verschwörung "imperialistischer Zionisten". Zugespitzt formuliert könnte man sagen, dass hier eine "politisch korrekte" Modernisierung des Antisemitismus zu Vorschein kam, die das reale Unrecht der israelischen Besatzungsherrschaft in Palästina zum Vorwand nimmt, um hiernach antisemitische Ressentiments zu verbreiten.

Der Antisemit kann somit in weiten Teilen die (durchaus zutreffende) Kritik an Israel nachvollziehen, die von Menschen geübt wird, die tatsächlich über die israelische Politik beispielsweise gegenüber Gaza empört sind. Der Judenhasser geht dann halt in seiner Argumentation "weiter" ins Irrationale und versucht an uralte antisemitische Vorurteile in dieser "neuen" Form anzudocken. Beliebt unter Antisemiten ist beispielsweise auch die Anklage gegenüber dem Juden, ein "vaterlandsloser Gesell" zu sein, der sich stärker seiner religiösen Gemeinschaft als seinem Staat verbunden fühlt. Anfang April 1968 konnte Polens Premierminister Cyrankiewicz auch dieses Ressentiment in eine dem damaligen gesellschaftlichen Umfeld adäquate – und somit akzeptierte - Form bringen:

Unter den polnischen Bürgern jüdischer Ethnizität gibt es eine bestimmte Anzahl von Individuen mit zionistischen, nationalistischen Überzeugungen, die deshalb pro-israelisch sind. Loyalität zum sozialistischen Polen und imperialistischen Israel ist nicht gleichzeitig möglich.

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Ein nationalistisches Ressentiments gegen die Juden wird hier praktisch "umgedreht", indem "polnischen Bürgern jüdischer Ethnizität" selber Nationalismus vorgeworfen wird. Mit diesem grundlegenden Widerspruch - der Fähigkeit des Antisemitismus zum anscheinend "fortschrittlichen" Formwandel - müssen sich auch heutzutage jene Teile der Linken auseinandersetzen, die sich mit dem Nahostkonflikt beschäftigen. Wir können keine Gedanken lesen und prinzipiell ist immer davon auszugehen, dass auch scharf formulierte Kritik an der israelischen Palästinapolitik sich aus der Empörung über das dort begangene Unrecht speist. Dennoch gibt es einige Indizien, die auf eine ins Irrationale und Antisemitische abdriftende Kritik hindeuten.

Zuallererst ist natürlich jegliche Kritik fraglich, die über die Kritik von Unrecht, Ausbeutung und Unterdrückung hinaus geht. Sobald beispielsweise die kulturelle Identität oder bestimmte Sitten und Gebräuche einer Gruppe kritisiert werden, tendiert die Kritik ins Ressentiment. Das gilt selbstverständlich auch für den zunehmenden Antiislamismus in westlichen Gesellschaften. Fremdenfeindliche Bewegungen wie Pro-Köln üben Kritik an der islamischen Kultur, weil sie andersartig ist, und nicht etwa weil es in ihr auch rückwärtsgewandte Momente – wie die Unterdrückung von Frauen in Teilen des islamischen Kulturkreises - gibt. Dennoch vollziehen auch viele fremdenfeindlich motivierte Islamhasser denselben anscheinend "politisch korrekten" Formwandel ihrer Ressentiments, wie er am Fall der antizionistischen Kampagne verdeutlicht wurde. Dann werden schon mal Ehrenmorde kritisiert, nur um vor der "Überfremdung" der eigenen Kultur zu wahren. In diesem Sinne können sicherlich Parallelen zwischen Israelkritik und Islamkritik gezogen werden: Sobald diese über die Kritik von Unrecht hinausgeht (ob nun afghanische Burka oder israelische Besatzerwillkür), wird sie illegitim.

Ein weiteres wichtiges Indiz für eine illegitime Kritik bilden Argumentationen, denen zufolge die Existenz einer bestimmten ethnischen Gruppe oder eines Staates als Ursache für das beklagte Unrecht aufgeführt wird. Hierzu gehört beispielsweise die Behauptung, dass Israel als ein künstlicher "Retorten-Staat" (als ob nicht alle Nationalstaaten im 19. Jahrhundert der Retorte des Nationalismus entsprungen wären) einfach nicht "friedensfähig" sei und folglich Frieden in Nahost erst nach Auslöschung des jüdischen Staates möglich würde. Ähnlich verhält es sich mit der Kritik an den ja tatsächlich teilweise gegebenen, repressiven Aspekten islamischer Kultur, nur um damit die Unvereinbarkeit eines gesellschaftlichen Zusammenlebens verschiedener Kulturkreise zu behaupten. "Die Moslems müssen hier verschwinden." "Israel muss verschwinden." - so die implizite Schlussfolgerung dieser Argumentation.

Bedenklich sind ferner anscheinend "gut gemeinte" Mahnungen an die Mitglieder einer bestimmten Minderheit, sich ja bloß vorbildlich zu benehmen, da sie ansonsten selber für die Verbreitung der gegen sie gerichteten Vorteile verantwortlich seien. Der Moslem hat pünktlich, ordentlich, leistungsbereit und assimilierungswillig zu sein, um ja nicht die Ressentiments des Moslemhassers zu wecken. Der Jude hingegen darf selbstverständlich auf keinen Fall jedwede Solidarität mit Israel zeigen oder als Banker oder Anwalt tätig sein, da ansonsten der Judenhasser gar nicht anders kann, als seine Ressentiments bestätigt zu sehen. Menschen, die den ethnisch oder religiös definierten Minderheiten vorwerfen, durch ihre Handlungen selber für die gegen sie gerichteten Ressentiments verantwortlich zu sein, verbreiten Ressentiments. Hier werden unzulässig fiktive kollektive Gruppeneigenschaften konstruiert, die aus dem - vielleicht tatsächlich gegebenen - Fehlverhalten einer Person auf die Gesamtheit der betreffenden Gruppe projiziert werden.

Ähnlich verhält es sich mit allen Beschuldigungen, die bestimmte - durchaus negative - gesellschaftliche Phänomene ausschließlich mit einer bestimmten Gruppe in Verbindung bringen. So beschuldigen christliche Fundamentalisten gerne den Islam, eine fundamentalistische Religion zu sein. Und nichts tut der zum Antisemitismus tendierende "Antizionist" lieber, als ausschließlich die Umtriebe der jüdischen Lobby in den USA zu verdammen und ins Phantastische aufzubauschen – als ob in Washington nicht jede nennenswerte gesellschaftliche Gruppierung ihre eigene Lobby hätte (die kubanische Lobby beeinflusst beispielsweise maßgeblich die Kubapolitik der USA).

Sicherlich lassen sich noch weitere Indizien finden, die auf die Unredlichkeit einer scheinbar legitimen Israel-Kritik (oder auch Islamkritik) hindeuten. Zum Beispiel deutet die selektive Wahrnehmung von Unterdrückung und Unrecht auf eine unmoralische, ideologisch konstituierte Motivationslage hin, wie es auch bei den aktuellen Auseinandersetzungen in der Linken deutlich wurde. Während die sogenannten "Antideutschen" Krokodilstränen über die brutale Niederschlagung der iranischen Oppositionsbewegung vergießen, stehen sie der verzweifelten Lage der Palästinenser bestenfalls indifferent, schlimmstenfalls verachtend oder schlicht gehässig gegenüber. Spiegelverkehrt verhält es sich bei den selbsternannten "Antiimperialisten", die wutschäumend die israelische Besatzungspolitik verurteilen - und zugleich das brutale iranische Regime verklären und legitimieren. In der ideologisch motivierten Instrumentalisierung menschlichen Leidens sind sich diese beiden angeblich grundverschiedenen ideologischen Strömungen auf einmal zum Verwechseln ähnlich.

Die Empfänglichkeit für antisemitische Propaganda wächst vor allem in Krisenzeiten

Einen weiteren zentralen Aspekt des polnischen "März 68", der auch heutzutage Beachtung finden sollte, stellt die anscheinend aus dem Nichts auftauchende Wucht und Intensität der antisemitischen Welle dar. Das "Ungeheuer des Antisemitismus" schien "neu aus der Asche" zu entstehen, bemerkte hierzu Trapper. Es war gerade die engagierte Teilnahme breiter Bevölkerungsschichten - die zuvor den Juden eher indifferent gegenüberzustehen schienen - an der Zionistenhatz, die verblüffte. Bei einem oberflächlichen Blick auf die polnische Gesellschaft der frühen sechziger Jahre könnte man meinen, dass der Jahrhunderte alte polnische Antisemitismus im Verschwinden begriffen sei. Antisemitische Übergriffe, wie sie in der unmittelbaren Nachkriegszeit vorkamen, gehörten der Vergangenheit an. Die Juden Polens befanden sich größtenteils in einem Assimilierungsprozess, bei dem auch konfessionsübergreifende Eheschließungen üblich waren. Eine Ausgrenzung oder eine Gettoisierung der jüdischen Minderheit fand nicht statt.

Über das Desinteresse vor allem der jungen jüdischen Generation an ihrer Kultur zu Beginn der Sechziger gibt folgender Bericht aus Wroclaw Aufschluss:

Es gab damals fünf Schulen, die Jiddisch lehrten, aber ihr Direktor beschwerte sich, dass die Schüler dieser Sprache kaum können, weil sie zuhause die ganze Zeit polnisch sprechen, was auf weit vorangeschrittene Assimilationsprozesse hinweist.

Jerzy Eisler, Polski Rok 1968, Warszawa, 2006, S. 103

Woher also dieser plötzlich ausbrechende Antisemitismus? Die Wahrheit ist, dass er nicht zwischenzeitlich verschwand, sondern nur nicht sichtbar war. In Gesellschaften weit verbreitete Ressentiments - und hier insbesondere der Antisemitismus - können zeitweilig für den Beobachter unsichtbar in einem Zustand der Latenz verbleiben, bis sie durch bestimmte Ereignisse in ein manifestes Stadium treten. Hierbei handelt es sich vor allem in Ländern wie Deutschland, Polen oder auch Russland de facto um eine antisemitische Tradition, die in Hunderten von Jahren tiefe Wurzeln im gesellschaftlichen Bewusstsein geschlagen hat. Die Überwindung dieser unsäglichen Traditionslinie, die selbst gesellschaftliche Systemwechsel überstehen kann, ist dementsprechend ein mühseliger und langwieriger Prozess, die sich innerhalb von Generationen – und nicht in wenigen Jahren oder gar Monaten – vollziehen kann. Umfragen verdeutlichen immer wieder die Hartnäckigkeit antisemitischer Vorurteile.

Die Empfänglichkeit für antisemitische Propaganda - wie auch die Bereitschaft, seine antisemitischen Anschauungen manifest werden zu lassen - wächst vor allem in Krisenzeiten. Polen befand sich Ende der sechziger Jahre in einer Phase der ökonomischen und politischen Stagnation, in der die hochfliegenden Erwartungen und Hoffnungen nach dem "Polnischen Oktober" von 1956 bereits enttäuscht wurden. Die übliche Suche nach dem Sündenbock begann, den die "Partisanen" in Gestalt der "zionistischen Verschwörer" präsentieren konnten.

Nicht anders sieht es derzeit in Deutschland aus, dessen Bevölkerung sich dem größten Verelendungsschub seit Bestehen der Bundesrepublik ausgesetzt sieht und selbstverständlich ebenfalls nach Schuldigen sucht. Nicht nur in einer solch brisanten Lage gleicht die Kritik an Israel einem Balanceakt, bei dem beispielsweise die Empörung über das Redeverbot der Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS) für Norman Finkelstein in einer Form vorgetragen werden muss, die nicht zur Intensivierung antisemitischer Vorurteile beiträgt. Wer etwa in Reaktion auf die Raumabsage der RLS Finkelsteins umstrittene und im Kern auch falsche These von einer "Holocaustindustrie" aufgreift – laut der jüdische Organisationen den Holocaust instrumentalisieren würden, um daraus Profit zu schlagen -, der findet sich selbstverständlich in der Nähe antisemitischer Stereotype wieder.

Es reicht eigentlich zu sehen, wie wütend der deutsche Stammtisch auf etwaige deutsche Hilfszahlungen an Griechenland reagierte, um zu wissen, in welch einer angespannten Situation wir uns befinden. Ein Blick auf die Leserforen von Welt reicht eigentlich vollkommen aus. Wer bei seiner Israelkritik so vorgeht, als ob es keinen Antisemitismus gäbe, der handelt zumindest politisch fahrlässig.

Letztendlich kann aber nicht ausgeschlossen werden, dass es auch innerhalb der deutschen Linken - analog zu den polnischen "Partisanen" - nationalbolschewistische Gruppierungen und Strömungen gibt, die gezielt mit nationalistischen und antisemitischen Ideologieversatzstücken hantieren, um hieraus politische Vorteile zu ziehen. Wie brüchig dieser nationale Kitt in Wahrheit ist, offenbarte sich in Polen übrigens schon zwei Jahre nach der antizionistischen Kampagne, bei der es ja schien, als ob die nationalkommunistische Partisanen-Fraktion und der nationalistische Mob während ihrer Zionistenjagd zusammengeschweißt würden. Ende 1970 musste Gomulka nach blutigen Unruhen zurücktreten, die nach massiven Preiserhöhungen ausbrachen.