Die Taliban der Antike

Bilder: Tobis

Spätrömische Dekadenz und frühchristliche Gewalt: Alejandro Amenábars "Ágora"

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Von "spätrömischer Dekadenz" war in den letzten Wochen oft die Rede. Wie liberal und aufgeklärt die Spätantike tatsächlich war, daran erinnert jetzt Alejandro Amenábars Film "Ágora". "Ágora" schildert den Kampf um das Wissen der antiken Welt - mit vielen Verbindungen zu unserer Zeit. Religion und Wissenschaft waren schon immer schwer zu versöhnen. Denn die Religion glaubt jene letzten Wahrheiten schon immer in ihrem Besitz, die die Wissenschaft erst sucht, und auf die hin sie die Überzeugungen der Menschen kritisch befragt. Diesen Konflikt entfaltet der Film mit kühler Härte. Dabei gibt es auch einen deutlichen inhaltlichen Unterschied zu den klassischen Hollywood-Kostümfilmen: Dort werden die Hauptfiguren nämlich fast immer christianisiert, oft sind es Kämpfer, die zu Quasi-Pazifisten mutieren. Hier sind die Christen eher die Bösen und die ambivalenten Charaktere des Films. Die Heldin ist dagegen eine Atheistin, die das Christentum als Fundamentalismus bekämpft.

After the extinction of paganism, the Christians in peace and piety might have enjoyed their solitary triumph.

Edward Gibbon: "Verfall und Untergang des römischen Imperiums"

Alexandria, 4. Jahrhundert: Eine Frau in der Männerwelt, eine Freiheitskämpferin unter lauter Herrschsüchtigen und Opportunisten, ein skeptischer Freigeist unter lauter Überzeugungstätern - das ist, auf wenige Floskeln gebracht, die Situation der spätantiken Philosophin Hypatia. Die Geschichte dieser ungewöhnlichen Frau, die zwischen 370 und 415 wirklich gelebt hat, erzählt der spanische Filmemacher Alejandro Amenábar ("Open Your Eyes", 1997; "The Others", 2001; "Das Meer in mir", 2004) jetzt in seinem neuen Film "Ágora", einem packenden Historiendrama, das überaus aktuell auch vom Konflikt zwischen Toleranz und Fundamentalismus handelt.

Vielleicht ist Gott ein Relativist?

"Ágora" ist gleichzeitig an spannender Abenteuerfilm wie eine dokumentarisch genaue Rekonstruktion der spätantiken Welt und ihrer geistigen Situation. Denn fast alles, was hier erzählt wird, ist historisch belegbar: Wer war Hypatia? Sie war Tochter eines Gelehrten und wuchs in Alexandria auf, das seinerzeit eine der größten Metropolen der Welt war und vor allem jene berühmte Bibliothek beherbergte, die als die größte ihrer Zeit das Zentrum des Wissens der Welt bedeutete.

Hypatia unterrichtete im "Lighthouse" einem Heiligtum der antiken Götter, sie ist Lehrerin an der angeschlossenen Universität - "The circle. The most perfect course" - ihr Spezialgebiet war Kosmologie, die Wissenschaft vom Universum - die hochpolitisch war. Denn um die Frage, ob die Sonne oder die Erde in dessen Zentrum steht, wurde bis aufs Blut gestritten. Hypatia zeigt im Film das Modell des ptolemäischen Systems. Die Erde ist das Zentrum. Aber es gibt schon Kreise im Kreis. Das Weltbild wurde bereits zu kompliziert, um widerspruchsfrei auf einfache Formeln gebracht zu werden.

Antike Kosmologie war der Versuch, das Wissen von der Welt in einer ganzheitlichen, trotzdem immer rationalen, Theorie zusammenzufassen. Das musste dann die Sterne, den Weltraum, Naturwissenschaften, aber auch die Auffassung von den Göttern beinhalten. Im Verhältnis zu den seinerzeitigen monotheistischen Religionen hatten die antiken Kosmologen eine tolerantere, pluralere Auffassung - Kosmologie war ja auch ein Zweig der Philosophie, keine Religion. Die kosmologische Hauptthese lässt sich sehr einfach zusammenfassen: Man darf Gott nicht vorschreiben, was er tun und lassen soll. Das ist hochaktuell. Man denke an Einsteins berühmten Ausspruch: "Gott würfelt nicht." Der klingt erstmal sehr demütig. Aber im Gegenteil: Es ist die pure Anmaßung. Denn vielleicht spielt Gott sehr gern mit Würfeln. Vielleicht ist Gott ein Relativist. Wer sind wir, um das zu entscheiden? Wir sollten uns keinen Gedanken verbieten lassen. So hat Bohr später auch gegen Einstein argumentiert.

"Today the christians burned a man. I will not have this in the house."

Bezauberndes Kino ist vor allem, wie Amenábar Alexandria wiederauferstehen lässt, und wie nahe uns diese Zeit vor 1600 Jahren erscheint: Eine Welt aus Multikulti und Überfluss, aus Wissen und Hedonismus. Es gibt einen Showbetrieb für die Belustigung der Unterschichten, der aus Marktschreier und Zaubereren besteht, die Oberschichten ignorieren die wachsende Vulgarisierung und Gewalt - "today the christians burned a man. I will not have this in the house" - belustigen sich im Theater und interessieren sich für Wissenschaft.

Alle haben ihre eigenen Götter, die klugen haben mehr als einen und sind liberale Polytheisten, aber eine neue, fremde religiöse Sekte hielt sich nicht an das Toleranzgebot, sondern kämpfte fanatisch um Deutungshoheit und bedrohte die aus ihrer Sicht Ungläubigen an Leib und Leben. Die Christen spielten in jener Zeit eine ähnliche Rolle, wie jene, die Verbrämungen und giftige Ressentiments "dem Islam" in der heutigen Welt unterschieben wollen: Sie gehörten einer Religion der Ungebildeten an, der Unterschichten, der Zukurzgekommenen, die sich erniedrigt und beleidigt fühlten. Aus ihren Reihen kamen Fanatiker, die Andersgläubige verfolgten und die tolerante Ordnung eines freien Nebeneinander zerstörten.

Ihre Angriffe galten nicht zuletzt auch der Wissenschaft, die für Aufklärung und Zweifel an Glaubenswahrheiten eintrat, die die Argumente lieferte, um den Gottesglauben als solchen zur Privatsache zu machen.

Zittern und Zagen vor der Volksjustiz

"Ágora" ist zwar ein historischer Film, aber er wirkt ungemein aktuell - politisch wie weltanschaulich: Man kann sagen, er handle von Fundamentalismus. "Die Alexandriner", heißt es bei Theodor Mommsen, "gaben, wenn ein Auflauf entstand, nicht Frieden, bevor sie Blut gesehen hatten. Die römischen Beamten und Offiziere hatten daselbst einen schweren Stand. 'Alexandreia', sagt ein Berichterstatter aus dem 4. Jahrhundert, 'betreten die Statthalter mit Zittern und Zagen, denn sie fürchten die Volksjustiz; wo ein Statthalter ein Unrecht begeht, da folgt sofort das Anstecken des Palastes und die Steinigung'. … Die Fortsetzung dieses die Regierung wie die Nation gleich entehrenden Lynchsystems liefert die sogenannte Kirchengeschichte, die Ermordung … der schönen Freidenkerin Hypatia durch die fromme Gemeinde des Bischofs Kyrillos unter Theodosius II."

In dieser Welt der Spätantike finden sich auch sonst viele Gemeinsamkeiten zu unserer Welt: Eine multikulturelle Gesellschaft, verschiedene Religionen im Wettstreit miteinander, zugleich enorme Fortschritte in den Wissenschaften, die unser Weltbild verändern…

Die spätrömischen Jahre Alexandrias waren einer der hellsten, aufgeklärtesten Momente in der Zivilisationsgeschichte unseres Planeten. Die gebildeten Menschen dieser Zeit beschäftigen sich mit Philosophie, Astronomie, Poesie, Ethik, es gab ungemeine wissenschaftliche Fortschritte, Bürgerrechte für viele und eine relative Gleichberechtigung unter den Geschlechtern. Aber auch diese Leute hatten ihren blinden Fleck: Sie hatten Sklaven. Selbst einer wie der Philosoph Aristoteles war ein Verteidiger der Sklaverei. Einmal wird er im Film zitiert: "Sklaven sind wie Tiere", schreibt er. Man sollte es sich aber andererseits nicht zu einfach machen: Es gibt heute in unserer Welt auch Sklaven. Sie heißen nur anders. Sie arbeiten bei Läden wie McDonalds, in chinesischen Fabriken für Waren, die bei uns in Billigshops landen sollen oder bei uns zuhause als Putzfrauen - ihre Lage ist auch nicht grundsätzlich besser, als die antiker Sklaven.

Sklavenmoral und Bildungsferne - die frühen Christen in der sozialen Hängematte

Es handelt sich einerseits um eine sehr sehr fortgeschrittene Kultur, die sich schnell verändert, die mit Traditionalismus und Restaurationen zu kämpfen hat. Die klügeren Menschen und Wissenschaftler sind Heiden, Religionen sind ein Phänomen der Armen und Ungebildeten, der Unterschichten. Die traditionellen Religionen erleben zugleich eine gewisse Dekadenz, einen Verfall - wie das Christentum heute.

Die historische Hypatia hat sich konstant geweigert, sich taufen zu lassen. Obwohl ihre besten Freunde Christen waren. Das Christentum war in der Antike eine fundamentalistische Revolte gegen den Rationalismus der Oberklasse, ein Sklavenaufstand. Amenábar zeigt eine Art Mönchs-Orden, die Palabanani, der sich in eine Armee verwandelt. Sie beginnen als eine Gruppe, die sich um die Armen kümmert, erinnern aber uns heutige bald an die Revolutionsgarden im Iran oder gar an die SS.

"Ágora" erzählt damit nicht, wie so viele andere Sandalenfilme, nur von den Christen als Opfern von Verfolgung. Er zeigt, dass Christen auch Täter waren. In diesem späteren historischen Moment verlagerten sich die Gewichte, die Christen bekamen die Oberhand, die Nicht-Gläubigen wurden nun umgekehrt Opfer einer Verfolgung, die oft noch radikaler und brutaler war als die Christenverfolgung: Es war ein bildungs- und freiheitsfeindlicher Aufstand.

Grenzen eines beeindruckenden Films

"Ágora" ist nicht nur ein blendend gespielter Film - Rachel Weisz sticht ebenso heraus wie Michael Lonsdale -, es ist - für vergleichsweise geringe Kosten von 50 Millionen - auf Hollywoodniveau inszeniertes europäisches Kino der Spitzenklasse.

Amenábar gelingt es, sich von den neuen digitalen Möglichkeiten nicht bestechen zu lassen, auf historische Fantasy zu verzichten, sondern die Zuschauer in die Position von unmittelbaren Augenzeugen zu versetzen. Es sieht nicht "schön" aus, sondern realistisch und expressiv. Die Geographie der Stadt stimmt. Spielfilm-Kino als Fortsetzung des Dokumentarfilms, der dem Publikum etwas wieder beibringt, das es vergessen hat. "Ich habe nichts gegen Erziehung, ich möchte meinem Publikum etwas vermitteln." sagt der Regisseur.

Obwohl dies kein Hollywood-Film ist, und der Film deutlich herausarbeitet, dass die Christen die Taliban der Spätantike waren, scheint sich der Regisseur doch nicht getraut zu haben, bestimte Tabu-Grenzen in der Behandlung des Christentums zu überschreiten: So ist es sehr schade, dass es immer noch nicht, auch hier nicht, auch nur eine einzige positive Kino-Figur geben kann, die zunächst Christ ist, und sich im Laufe der Handlung vom Glauben abkehrt. Eine positive Figur, die Gott - offen und aggressiv wie einst der biblische Hiob - leugnet und nicht später zu Kreuze kriecht. Man kann sagen: Hypatias Sklave tut es hier implizit und ein bisschen. Aber eben nur implizit und ein bisschen.

Wissenschaftsfeindschaft = Frauenunterdrückung = Judenverfolgung

Die wertvolle Bibliothek von Alexandria wurde geplündert und zerstört, und noch fast zwanzig Jahre danach erregte der Anblick der leeren Regale das Bedauern und die Entrüstung eines jeden Betrachters, dessen Verstand durch religiöse Vorurteile nicht völlig verdunkelt war. Die schöpferischen Werke aus alter Zeit, deren so viele unwiederbringlich verlorengingen, hätten zur Unterhaltung und Belehrung späterer Jahrhunderte gewiss vom Ruin der Abgötterei ausgenommen und sowohl der Eifer als die Habgier des Erzbischofs durch die reiche Beute gestillt werden können, die den Lohn für seinen Sieg darstellte. Während die Bildnisse und Gefäße von Gold und Silber sorgfältig eingeschmolzen, die aus weniger wertvollem Metall verächtlich zerbrochen und auf die Straße geworfen wurden, bemühte sich Theophilos, die Betrügereien und Laster der Götzendiener aufzudecken, nämlich ihre geschickten Manipulationen mit dem Magnetstein, ihre geheimen Methoden, einen lebendigen Schauspieler in einer hohlen Statue zu verstecken, und ihre unerhörte Art, das Vertrauen frommer Ehemänner und argloser Frauen zu missbrauchen.

Edward Gibbon: "Verfall und Untergang…"

Amenábars Film ist auch deshalb so beeindruckend und sympathisch, weil hier ein Regisseur gleichzeitig gut unterhält, und es jederzeit absolut ernst meint, und weil er etwas will. Und weil er alles Mögliche, das billig wäre, konventionell und doof, vermeidet: Kein christlicher Bekehrungsschmarrn wie in Hollywoods Sandalenfilmen, wo die Soldaten regelmäßig ihre Schwerter zu Pflugscharen umschmieden müssen. Und keine billige Love-Story.

"Ágora" ist ein freigeistiges Manifest für die Vernunft und gegen Fundamentalismus jeder Art. Ein Film, der ganz gut das System der Radikalisierung vorführt und den historischen Moment einfängt, in dem das Christentum totalitär wurde, zu einer Religion, die über Jahrhunderte Andersdenkende verfolgte, ein totalitäres System, in dem Inquisition und Hexenverfolgung entstehen konnten - und der außerdem zeigt, wie falsch verstandene Toleranz und die Nachgiebigkeit des Staates dem Terror Vorschub leisten.

Ist "Ágora" ein optimistischer oder ein pessimistischer Film? Aus Wissensfeindschaft entstand in wenigen Jahrzehnten Frauenunterdrückung und Judenverfolgung. Man sieht die Christen wettern und hetzen: "Diese Juden, die Gott töteten. Diese Juden, die Gottes Sohn nicht erkannten, als er mitten unter ihnen stand." Auch das ist historisch erwiesen: Als die echte Hypatia jung war, wurde die berühmte Bibliothek endgültig verstört. Hypatia selbst wurde etwa 30 Jahre später von fanatischen Christen ermordet - weil sie eine Frau war, und weil sie sich nicht taufen lassen wollte. Zur selben Zeit begannen in Alexandria die Verfolgungen der Juden.

Ein pessimistischer, trauriger Film also. Objektive Wissenschaft unterliegt dem Furor der Religion. Aber am Ende wird der Astronom Johannes Kepler erwähnt, der über 1000 Jahre später Hypatias kosmologische Theorien bestätigte. Sie erhält damit postum recht. "Ágora" ist damit zwar Geschichte einer Niederlage, der Niederlage der Vernunft. Heute bestreiten 40 Prozent der Bevölkerung der USA die Evolutionstheorie. Und die USA sind gewiss das Römische Imperium unserer Zeit.

Natürlich erleben wir eine Krise: Nicht nur wirtschaftlich, sondern - viel wichtiger! - auch politisch und kulturell. Wir spüren, dass wir irgendwohin treiben. Wir glauben auch, dass es Zeit für Veränderungen ist. Weil ich Optimist bin, glaube ich nicht ernsthaft, dass wir in ein neues dunkles Mittelalter zurückfallen. Aber wir spüren doch alle, dass vieles gerade nicht gut läuft, dass wir Rückschläge erleben, und mit vielen Entwicklungen nicht zufrieden sein können.

Alejandro Amenábar

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