Kognitive Immunität vor Informationsflut

Medien haben wenig Chancen, für Aufklärung zu sorgen, weil die Menschen nur wahrnehmen, was sie wahrnehmen wollen

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Medien mögen die vierte Macht sein, aber sie scheinen nicht als Mittel der Aufklärung zu fungieren, sondern eher Meinungen zu zementieren. Schließlich rezipieren die Menschen nicht nur vorwiegend die Medien, in denen sie ihre Meinung eher wiederfinden, sie wählen auch selektiv aus, was ihnen passt – und ziehen mitunter aus Nachrichten schon einmal heraus, was dort gar nicht geschrieben oder gesagt wurde bzw. überlesen oder überhören begründete Widerlegungen einer Position, die aber trotzdem weiter aufrechterhalten wird. Offenbar gibt es auch wenig erfreuliche Mechanismen, sich vor der medialen Informationsüberflutung zu schützen.

Viele Menschen haben ein "selektives Gedächtnis", in dem bleibt, was einmal aufgenommen wurde, und das neue, korrigierende oder widersprechende Informationen wie ein Immunsystem Viren abwehrt, um energieökonomisch die Arbeit der Veränderung zu vermeiden. Das zumindest ist auch das Ergebnis einer Studie des Medienwissenschaftlers Barry Hollander von der University of Georgia, der dafür eine Umfrage unter 2.400 US-Amerikanern ausgewertet hat, die während der letzten Präsidentschaftskampagne zu drei Zeitpunkten im September, Oktober und November jeweils dieselben Fragen beantworten sollten.

Um die 20,2 Prozent der US-Amerikaner glaubten 2008, dass Barack Obama ein Muslim ist. Daran hielten sie auch fest, obgleich es genügend Medienberichte gab, die das Gerücht widerlegten. Wenn es eine mediale Aufklärung geben sollte, dann müssten Medienberichte, so die Hypothese Hollanders, eigentlich das politische Wissen korrigieren oder verändern können. Aber auch nach drei Monaten waren immer noch 19,7 Prozent derselben Meinung: "In diesem Fall hatte die Medienrezeption keine Auswirkung. Die Botschaft lautet letztlich, dass die Menschen einfach glauben, was sie glauben wollen."

Allerdings ist es dann doch nicht ganz so einfach. 60 Prozent derjenigen, die im September Obama für einen Muslim hielten, waren auch noch im November dieser Meinung. 90 Prozent derjenigen, die ihn für einen Christen hielten, änderten ihre Meinung nicht, aber 10 Prozent liefen ins andere Lager über. Es gibt also Bewegung – und auch trotz vermehrter Aufklärung von der zuerst richtigen Position zur falschen. Jüngere, weniger gut ausgebildete und politisch interessierte Menschen, die noch dazu eher politisch konservativ sind und an eine wörtliche Auslegung der Bibel glauben, haben trotz der Medienberichte und selbst der Korrektur durch den reprublikanischen Präsidentschaftskandidaten McCain ihre Meinung geändert und Obama zum Muslim gemacht. Für Hollander sind das die Gruppen, die generell den Mainstream-Medien nicht vertrauen: "Wenn Journalisten ihnen sagen, dass das nicht wahr ist, kann das auch den gegenteiligen Effekt haben und sie stärker an das Gerücht glauben lassen."

Ein Beispiel, das die These von Hollaner belegt, ist die von der Bush-Regierung in Vorbereitung zum Irak-Krieg verbreitete Desinformation, dass Saddam Hussein irgendwie in Verbindung mit al-Qaida gestanden oder gar die Anschläge vom 11.9. mit inszeniert habe. Viele Amerikaner glaubten auch noch Jahre nach dem Einmarsch in den Irak, trotz andauernder, die Meinung widerlegender Medienberichte, dass Hussein im Besitz von Massenvernichtungswaffen war. Der damalige Verteidigungsminister Rumsfeld hatte die Behauptung trotz fehlender Beweise etwa damit zu retten gesucht, dass sie halt irgendwo in der Wüste versteckt worden seien. Ende 2005 glaubten noch immer 41% der US-Bürger, Hussein habe enge Verbindungen mit al-Qaida gehabt. 22% meinten, dass Hussein irgendwie an den Anschlägen vom 11.9. beteiligt war, und 24%, dass Iraker unter den Attentätern waren (Saddam steckt hinter den Anschlägen vom 11.9.). Wissenschaftler sprachen damals von einer Realitätsverdrängung, die Bush-Anhänger würden nur sehen, was sie sehen wollen, und versuchen, eine kognitive Dissonanz zu vermeiden. Die ist eben ungemütlich und erfordert ein Umdenken, was auch eine Veränderung der Identität mit sich bringt (Bush-Anhänger zeichnen sich durch Realitätsausblendung aus).

Hollander prophezeit, dass ähnliche Phänomene sich in den USA – und auch anderswo - in Zukunft vermehren werden. Die großen Medien verlieren Leser und Publikum, auch das Fernsehen werde parteilicher. Das selektive Gedächtnis breitet sich aus, das allerdings schon durch selektive Informationsaufnahme geprägt wird. Letztlich hat dies der philosophische radikale Konstruktivismus immer behauptet, nämlich dass die Menschen keinen direkten Zugang zur "Wirklichkeit" haben, sondern ihre Wirklichkeit konstruieren, was natürlich auch durch Ausblendung geschieht.

Nur wenn "Störungen" oder "Irritationen" groß genug werden, kann Neues nicht mehr assimiliert werden, sondern muss das träge System verändert werden. Es kommt wie nach den Bush-Jahren und dem alles beherrschenden Krieg gegen den Terrorismus sowie dem Fokus auf Sicherheit "Change" zustande, was freilich nicht bedeuten muss, dass sich wirklich etwas tiefgreifend verändert. In dem Fall hat eine knappe Mehrheit der US-Bürger die Irritation Bush durch das Mem Obama ersetzt, um zur Ruhe zu kommen oder ein neues Gleichgewicht zu finden, was aber in der realen Welt nicht gelingt, wenn nicht langatmig Strukturen verändert werden und kognitive Prägungen aufgelöst werden. Meme sind Infektionen, führen zum Widerstand des Immunsystems und müssen dieses überwinden, um integriert zu werden, d.h. ihren Code in den Wirt einzubauen. Daran beginnt Obama zu scheitern, die Gehirne wurden nicht umgebaut, das Fieber ist vorbei, die Wirtschaftskrise hat die Gehirne von Change wieder auf (Selbst)Erhaltung umgestellt.