Was führte zur Lehman-Pleite?

Bilanzbetrug mit "Repo 105": Wie man Milliardenbeträge an Schulden aufnehmen kann, ohne dies den Ratingagenturen, Regulatoren oder Kreditgebern bekannt zu machen

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Eine 2200 Seiten starke Analyse für das Konkursgericht von Manhattan durchleuchtet detailliert und kompetent die Vorgänge rund um der Lehmann-Pleite, die im Herbst 2008 das globale Finanzsystem kollabieren ließ. Telepolis startet darauf aufbauend eine kleine Serie. Den Anfang macht die illegale Bilanzgestaltung, mit der Lehmann 50 Mrd. Dollar an Schulden und faulen Assets aus der Bilanz eliminiert hatte.

So zeigt der Bericht von Rechtsanwalt Anton R. Valukas im "Chapter 11"-Konkursverfahren detailliert auf, mit welchen Tricks die damals drittgrößte Wall Street-Investmentbank ihre Bilanzen um faule Papiere "bereinigt" und die Risiken versteckt hatte. Vermutlich wird sich nun auch ihr Buchprüfer Ernst & Young zumindest einige Fragen gefallen lassen müssen, könnte im Extremfall aber gut selbst unter massiven Schadenersatzforderungen kollabieren.

Denn schon länger war höchst rätselhaft, wie bei Lehman bei einer Bilanzsumme von rund 700 Mrd. Dollar durch die Pleite plötzlich ein Abgang von 130 Milliarden zutage treten konnte, was ja immerhin ungefähr dem halben BIP der Republik Österreich entspricht.

Der Bericht deckt nun auf, dass das Hauptinstrument, mit dem Lehman seine Bilanzen systematisch geschönt hatte, bereits im Jahr 2001 etabliert worden war: Das "Repo 105" – Programm. Verwendet wurden dabei Repo-Geschäfte, mit denen Investmentbanken für gewöhnlich ihr Inventar finanzieren. Dabei handelt es sich um so genannte Rückkauf-Vereinbarungen, bei denen ein Vertragspartner Wertpapiere verkauft und mit dem "Käufer", der tatsächlich ein Kreditgeber ist, gleichzeitig einen fixen Rückkauftermin vereinbart, an dem er die Papiere zu einem im vorhinein vereinbarten um den Zins erhöhten Preis zurückkauft.

Es handelt sich also tatsächlich um einen voll besicherten Kredit, der an den Finanzmärkten zu den beliebtesten und günstigsten kurzfristigen Finanzierungen zählt, mit denen jede größere Bank täglich Milliardenbeträge umsetzt. Je nach Qualität der als Sicherheiten übereigneten Papiere werden diese indes übrigens nicht zu ihrem vollen Marktpreis belehnt, sondern mit einem Sicherheitsabschlag, dem so genannten "Haircut". Auf diesen bezieht sich übrigens die Zahl "105", da in diesem Programm Papiere verwendet wurden, die den relativ hohen Haircut von fünf Prozent erforderten (es gab zudem ein kleineres "Repo 108"-Programm, bei dem Papiere mit noch höherem Haircut verwendet wurden).

Die Coupons aus den übereigneten Wertpapieren bleiben dabei übrigens beim Verkäufer, womit klar ist, warum diese Geschäfte bilanziell als Finanzierungsgeschäfte zu betrachten sind, was bei Lehmen bei einem Großteil der umfangreichen täglichen Repo-Transaktionen auch der Fall war. Folglich standen die Papiere im Normalfall ebenso wie die dafür hereingekommenen Gelder als Aktiva in der Lehman-Bilanz, während die daraus resultierenden Zahlungsverpflichtungen als Passiva verbucht wurden.

Anders bei den Repo 105-Geschäften, die einfach als normaler Wertpapierverkauf bilanziert wurden. Dadurch verschwanden die zumeist zweifelhaften Papiere über die sieben- bis zehntägige Laufzeit der Repos aus der Bilanz, während gleichzeitig auf der Passivseite auch keine zusätzlichen Schulden auftauchten. Da das genau zu den Bilanzstichtagen erfolgte, konnte Lehman also Milliardenbeträge an Schulden aufnehmen, ohne dies den Ratingagenturen, Regulatoren oder Kreditgebern bekannt zu machen.

Seit 2001 hatte Lehman zum Quartalsende auf diese Weise also jeweils kurzfristige Kredite in Höhe von 20 bis 25 Milliarden Dollar aus der Bilanz eliminiert, wobei es eine interne Handlungsanweisung gab, die diese Volumina zuerst auf 22 Milliarden und später auf 25 Milliarden Dollar beschränkte. Die Manager waren zudem angehalten, auch während des Quartals eine bestimmte Summe in dieser Form zu halten, dies offenbar um das Programm als normales Geschäft erscheinen zu lassen.

Als im Sommer 2007 an den Finanzmärkten aber ernste und zudem berechtigte Zweifel an der Werthaltigkeit der strukturierten Hypothekaranleihen auftauchten, die einen wesentlichen Bestandteil der Lehman-Bilanz ausmachten, begannen Ratingagenturen und Analysten die hohe Fremdfinanzierung ("Leverage") der großen Investmentbanken als Problem zu sehen und drängten folglich auch Lehman dazu, Verschuldungsgrad bzw. Bilanzsumme zurückzufahren. Für Lehman ging es dann insbesondere darum, eine Herabstufung zu verhindern, da dadurch nicht nur künftige Kreditaufnahmen verteuert würden, sondern sofort hohe Zahlungen aus Derivativgeschäften fällig geworden wären. Denn Lehmann hatte bestimmte fremde Kreditrisiken garantiert und hätte bei einer Rückstufung des eigenen Ratings sofort höhere Sicherheitsleistungen bereitstellen müsste, wobei jeder Grad laut Lehmans eigener Einschätzung sofort 1,7 Mrd. USD gekostet hätte.

Warum ein Blackberry besser als ein Computer sein soll

Im Januar 2008 rief Lehman-Boss Dick Fuld zudem eine konzernweite Deleveraging-Strategie ins Leben, um die Positionen in Immobilienpapieren reduzieren. Inzwischen wäre dies aber nur mit substantiellen Verlusten möglich gewesen und hätte zudem Lehmanns eigenen Bilanzansätzen massiven Zweifeln ausgesetzt. In der Folge erhöhte Lehman einfach die unter Repo 105 verbuchten Geschäfte auf rund 50 Milliarden, was die von den Analysten so genau beobachtete Leverage-Ratio, die das Verhältnis des Eigenkapitals zur Bilanzsumme ausdrückt, in den Quartalsberichten deutlich besser aussehen ließ, als es war. So stand nun beispielsweise eine Ratio von 12,1 im Quartalsbericht vom 31. Mai 2008; ohne Repo 105 wären es immerhin 13,9 gewesen.

Gegenüber Valukas leugnete Lehmanns Ex-Chairman Dick Fuld - so wie die meisten anderen Lehman-Vorstände, bevor ihnen das Gegenteil bewiesen wurde - später jede Kenntnis dieser Manipulationen, und erklärte, er hätte auch nie entsprechenden Berichte gesehen. Denn wenn er derlei gesehen hätte, "wäre er ja sicher sehr besorgt gewesen". Allerdings konnte Valukas nachweisen, dass etwa Fulds Sekretärin am Tag vor einer Bilanzsitzung im März 2008 in Fulds Namen per Email einen Bericht an andere Vorstände gesendet hatte, der diese Vorgänge diskutierte. Laut Fulds Anwalt habe das indes nichts zu bedeuten, da "Fuld keinen Computer und nur einen Blackberry nutzt" und daher derartige Attachments gar nicht öffnen könne. Lehmans Chief Operating Officer Herbert H. "Bart" McDade III sagte demgegenüber aus, das Thema mehrmals mit Fuld detailliert besprochen zu haben. Und insgesamt ist Valukas überzeugt, dass kein ernster Zweifel bestehen könne, dass das gesamte Führungspersonal von den Vorgängen informiert war.

Laut Valukas hätte Lehman sogar noch größere Summen auf diese Weise verschoben, wäre es am Markt nicht immer schwieriger geworden, dafür Handelspartner zu finden. So brach laut vorgefundenen Emails einmal kurzzeitig Panik aus, als sich zehn Tage vor dem Ende des zweiten Quartals 2008 einige der üblichen Repo 105-Partner zurückzogen und die Handelslimits mit den verbliebenen Partnern ausgeschöpft waren. Daraufhin gelang es dem Finanzvorstand, das Limit gegenüber der japanischen Mizuho Holding vorübergehend um 3,5 Mrd. USD anzuheben, womit es möglich wurde, "uns über den Monat zu bringen", wie in einer Email zu lesen war.

Ian Lowitt, Lehmans Chief Financial Officer ab Juni 2008, gab dann auch zu, dass Lehman ein "Regime" etabliert habe, bei dem jeder Abteilung monatliche Bilanzziele vorgegeben wurden, die sie in Eigenregien zu erreichen hatten, wobei für die Aktien- und die Anleiheabteilung das Repo 105 Programm zur Verfügung stand, "um die Bestände vorübergehend abverkaufen zu können."

Ein "ziemlich hässlicher" Brief, "der jeden unter Stress setzt und viel Arbeit macht"

Wirklich gefährlich dürfte es intern dann geworden sein, als am 16. Mai 2008 bei höheren Managern ein Brief des "Whistleblowers", Matthew Lee, damals Vizepräsident in der Finanzabteilung, einlangte, der unter anderem die Repo 105-Praxis kritisierte. Darüber hinaus stellte Lee übrigens fest, dass "Lehman Teile seines illiquiden Inventars nicht in einer realistischen oder vernünftigen Weise" bewerte und zudem "Milliardenbeträge ins Blaue hinein" ansetze, "ohne selbst zu wissen, was diese nun wert" wären. Darüber hinaus verfüge Lehman "nicht über ausreichend qualifiziertes Personal, um die eigene Bilanz zu erstellen und zu prüfen".

Nachdem der Brief bekannt geworden war untersuchten die Lehman-eigene Innenrevision gemeinsam mit dem externen Buchprüfer Ernst & Young die Angelegenheit, wobei Ernst & Young von Lee ausdrücklich über die verschobenen 50 Mrd. USD informiert wurde. Ernst & Young machte dies bei der nächsten Sitzung mit dem Lehman-Aufsichtsrat dann aber nicht zum Thema, sondern gab gegenüber dem Lehman-Vorstand nur die Stellungnahme ab, dass die Repo 105-Vorgangsweise wohl "theoretisch" zulässig wäre.

Im Zuge ihrer Quartalsprüfung unterließ Ernst & Young es jedoch, auch nur eine der Repo 105-Transaktionen genauer zu prüfen. Ebenso wenig wurde bei Lehman nachgefragt ob diese Praxis zuletzt vielleicht vermehrt angewendet worden sei. Bei Ernst & Young hieß es diesbezüglich dazu in einem internen Schreiben, dass man sich mit einem "ziemlich hässlichen" Brief beschäftigen müsse, "der jeden unter Stress setzt und viel Arbeit macht". Dennoch sei man aber "überzeugt, alle Vorwürfe wegbringen zu können". Und tatsächlich erteilten die Wirtschaftsprüfer Lehmans Quartalsbericht nur wenige Tage später den Bestätigungsvermerk.

Laut Valukas dürfte diese Verbuchung jedenfalls ein glatter Rechtsbruch gewesen sein. Zwar lässt die betreffende Buchführungsregel ("SFAS 140 - Accounting for Transfers and Servicing of Financial Assets and Extinguishments of Liabilities") durchaus einigen Spielraum. Sollte es dadurch aber zu einer "materiellen" Veränderung des Bilanzbildes kommen, müsste jedenfalls eine Bewertungsmethode gewählt werden, die den realen Schulden- und Vermögensstand widerspiegle.

Ernst & Young selbst hatte 2007 diesbezüglich übrigens definiert, ab wann bei Lehman von einer "materiellen" Veränderung des Leverage die Rede sein müsse, nämlich bei jeder Transaktion, die das Net-Leverage um mehr als 0,1 Zähler ("typischerweise 1,8 Mrd. USD") verändern würde, also deutlich weniger als ein Zehntel der tatsächlichen Wirkung von bis zu 1,9.