Nationale Besonderheiten

In Deutschland schätzt man die Meinungsfreiheitsmöglichkeiten im Internet weltweit am niedrigsten ein

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Eine von der BBC in Auftrag gegebene Studie zeigte letzte Woche, dass man überall auf der Welt den Zugang zum Internet mittlerweile als Menschenrecht sieht. Allerdings war dieses in den Medien hervorgehobene Ergebnis nicht das einzige der Studie. Ein anderes ist möglicherweise noch interessanter - vor allem für Deutschland.

Dem Satz "Das Internet ist ein sicherer Ort, um meine Meinung zu äußern" konnten hierzulande nämlich nur 26 Prozent der Befragten ganz oder teilweise zustimmen. Damit erreichte Deutschland von allen befragten Nationen den niedrigsten Wert. Zum Vergleich: In den USA halten 56 Prozent das Internet für einen geeigneten Ort, um gefahrlos Meinungen zu äußern, in China immerhin noch 42 Prozent.

Dass das Internet gerade in wenig entwickelten Ländern wie Kenia (73 Prozent), Ghana (74 Prozent) und Nigeria (85 Prozent) als geeigneter Ort für Äußerungsfreiheit angesehen wird, könnte allerdings weniger an einem unterentwickelten Zensurwillen der dortigen Regierungen liegen, als an einem Mangel an Zensur-Infrastruktur. Ganz anders in Deutschland: Dort verbindet sich ein Vorschriftengewirr aus unterschiedlichen Bereichen wie dem Jugendschutz, dem Immaterialgüter- und dem Persönlichkeitsrecht mit großzügigen Abmahnmöglichkeiten, einem fliegendem Gerichtsstand und "Cyber-Patrouillen" zu einem ausgesprochen dichten Zensurfilz, der nicht nur theoretisch droht, sondern auch praktische Sanktionen nach sich zieht.

Die nationale Besonderheit, mit der wahrscheinlich die meisten der befragten Deutschen direkte oder Hörensagenserfahrungen gesammelt haben, ist das Abmahnrecht. Die Allzweckwaffe lässt sich bei weitem nicht nur gegen behauptete Urheberrechtsverletzungen einsetzen, sondern wird auch gern genutzt, wenn eine Firma sich mit Verbraucherkritik konfrontiert sieht. Dafür, dass es nicht darauf ankommt, ob die Kritik berechtigt ist oder nicht, sorgt unter anderem der fliegende Gerichtsstand. Denn dadurch, dass das zensierende Unternehmen beim Landgericht Hamburg klagen kann, müsste ein Gegner mit hoher Wahrscheinlichkeit bis zum BGH gehen, um sich zu wehren - was im Regelfall dazu führt, dass die Zensur von der ressourcenschwächeren Partei zähneknirschend hingenommen wird.

Das Landgericht Hamburg fasste zudem die Unangreifbarkeit von Politikern, die den richtigen Anwalt haben, so weit, dass die Majestätsbeleidigungsparagrafen mancher Drittweltdespoten dagegen durchaus harmlos wirken. Immerhin ist von dort noch kein Fall bekannt, bei dem Spekulationen über gefärbte oder nicht gefärbte Haare verboten worden wären.

Auch in anderen Bereichen gibt es zahlreiche Tretminen für die Meinungsfreiheit, die sehr schnell dazu führen können, dass Anwälte die Gelegenheit nutzen und von juristischen Laien drei- bis vierstellige Summen einfordern. In unfreiwillige aber potenziell kostspielige Rechtsverletzungssituationen kann ein Internetnutzer schon dann kommen, wenn er einen Film zu sehr lobt, der sich auf einem geheimen Index der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPjM) befindet, wenn er einen Namen verwendet, der einer geschützten Marke ähnelt, oder wenn er einen Link auf ein Produkt setzt, das als "Umgehungstechnologie" gewertet werden kann.

All das sind Gründe, warum Verlage trotz der eigenen Schwanengesänge Deutschland wahrscheinlich auch in absehbarer Zukunft erhalten bleiben - nicht, weil sie professionelle Journalisten beschäftigen, sondern, weil sie Rechtsabteilungen haben, die Kläger abschrecken wie eine bewaffnete Eskorte mittelalterliche Räuber. Trotzdem ist die Prüfung juristischer Fragen längst der Hauptaufwand im früher einmal schöpferischen Mediengewerbe - und vieles Interessante kann allein deshalb nicht gebracht werden, weil beispielsweise Automobilkonzerne das größere Budget haben, wenn es um Auseinandersetzungen geht.