Das Dritte Reich im Selbstversuch

Schatten

Teil 1: Hitlerjunge Quex

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Wie sich aus jetzt freigegebenen Akten des britischen Inlandsgeheimdienstes MI5 ergibt, versuchte die Hitlerjugend in der Vorkriegszeit, durch radelnde Kinderagenten das Vereinigte Königreich auszuspionieren und die britischen Pfadfinder zu unterwandern. Der Oberpfadfinder Robert Baden-Powell hatte gegen eine Annäherung der beiden Organisationen nichts einzuwenden und wollte sich sogar mit Adolf Hitler treffen, dessen Mein Kampf er für ein "wunderbares Buch mit guten Ideen" hielt. Die britische Regierung schob solchen Bestrebungen schließlich einen Riegel vor. In ihrer ablehnenden Haltung stützte sie sich auf ein Gutachten von MI5 und MI6, in dem es heißt, die Hitlerjugend sei eine Zwangsformation der Nazis, die Geist und Seele der deutschen Kinder vergifte und eine "Erziehung für den Tod" betreibe. Der Geheimdienst lag hier einmal richtig. Davon zeugt ein Film, der ein wichtiges historisches Dokument sein könnte, wenn er nicht verboten wäre: Hitlerjunge Quex.

Im Januar 1932 wurde der Hitlerjunge Herbert Norkus Opfer der vornehmlich von der SA angezettelten, die Reichstagswahl begleitenden Straßenkämpfe. Die Nazis erklärten den Jungen zum Märtyrer ihrer Bewegung. Überall in Deutschland wurden Trauerfeiern und Protestzüge organisiert. Im Dritten Reich wurde seiner (und anderer toter Hitlerjungen) alljährlich am 24. Januar gedacht. Über Norkus wurden Leitartikel und Bücher geschrieben. Im Nazi-Parteiorgan Völkischer Beobachter (und im Dezember 1932 auch als häufig neu aufgelegtes Buch) erschien Karl Aloys Schenzingers Roman Hitlerjunge Quex, der vorgab, Norkus' Lebensgeschichte zu erzählen. Als Morgengabe an die neuen Machthaber ließ die Ufa den Roman 1933 verfilmen. Damit beauftragt wurden zwei führende Repräsentanten des NS-Kinos, die später ein wenig in Vergessenheit gerieten, weil man sich hierzulande immer auf Veit Harlan und Jud Süß konzentriert: Hans Steinhoff (Regie) und Karl Ritter (Produktion).

Kleiner tapferer Soldat

Der Druckerlehrling Heini Völker lebt in einem von Erwerbslosigkeit, Hunger und Wohnungsnot geprägten Arbeiterviertel Berlins. Sein Vater, ein arbeitsloser Schlosser und Alkoholiker, bekennt sich aus Klassenbewusstsein zur KP. Er erwartet, dass sein Sohn Mitglied der Kommunistischen Jugend-Internationale wird. Aber Heini stoßen die unmoralischen und wenig strukturiert wirkenden Jungkommunisten eher ab. Er fühlt sich zur hierarchisch geordneten Hitlerjugend hingezogen. Dort hält man ihn zunächst für einen Spitzel der Kommunisten. Heini erfährt, dass ein HJ-Heim mit Dynamit in die Luft gesprengt werden soll. Da seine Warnungen auf taube Ohren stoßen, nimmt er die Sache selbst in die Hand: Er sprengt das Waffen- und Munitionsdepot der Kommunisten.

Während die HJ erkennt, dass Heini Unrecht getan wurde, gilt er bei den Kommunisten als Verräter, den man bestrafen muss. Als Heinis am Leben verzweifelnde und von ihrem Mann geschlagene Mutter davon erfährt, weiß sie keinen anderen Ausweg mehr: sie dreht den Gashahn auf, um sich und ihren Sohn zu töten. Die Mutter stirbt, Heini überlebt. Im HJ-Heim findet er eine neue Heimat. Weil er eifrig ist und "beweglich wie Quecksilber", erhält er von seinen Kameraden den Spitznamen "Quex". Obwohl von den Kommunisten bedroht, verteilt er im Wahlkampf in seinem alten Kiez Flugblätter der Nazis. Ein kommunistisches Rollkommando ermordet ihn. Im Illustrierten Filmkurier heißt es dazu:

Der kleine tapfere Soldat ist den Heldentod gestorben, für seine Sache, für die Kameraden, für die heißgeliebte Fahne und den Führer. Aber andere deutsche Jungens reißen die Fahne wieder hoch, die mit dem Blut eines der besten geweiht ist.

Hitlerjunge Quex ist der erste in größerem Umfang von der neuen Regierung unterstützte Spielfilm des Dritten Reichs. Zur feierlichen Premiere in München am 11. September 1933 kamen Hitler, Göring und Hess. Das Reichssymphonieorchester spielte Anton Bruckners Vierte Symphonie. Baldur von Schirach, als Reichsjugendführer einer der größten Schufte im an Schurken nicht eben armen Nazi-Deutschland, hielt eine Ansprache. Hans Steinhoff wurde von der Hitlerjugend, die er in den folgenden Jahren bei deren eigenen Filmversuchen unterstützte, mit einem goldenen Ehrenabzeichen bedacht. Hitlerjunge Quex erhielt das Prädikat "Künstlerisch besonders wertvoll", und Goebbels schrieb einen begeisterten Brief an den Ufa-Produktionsleiter Ernst Hugo Correll, der im SA-Blatt Der Angriff abgedruckt wurde. Goebbels sah sich in seiner Meinung bestätigt, dass

wenn Kunst und Charakter sich miteinander vermählen und eine hohe ideelle Gesinnung sich der lebendigsten und modernsten filmischen Ausdrucksmittel bedient, ein Resultat gezeitigt wird, das der Filmkunst der ganzen Welt gegenüber einen fast uneinholbaren Vorsprung einräumen wird.

Die Frage ist nun also: Wie wirkt das heute? Ich kann nur für mich sprechen und muss sagen, dass ich weder Hitlerjunge werden noch mich einer meinem Alter gemäßeren Nazi-Organisation anschließen möchte. Dem steht schon mein Musikgeschmack entgegen. Gefühlt hat man am Ende von Hitlerjunge Quex etwa hundertmal das Lied "Vorwärts! Vorwärts!" gehört. Weil die Nazis sehr geschäftstüchtig waren, konnten die Kinobesucher für eine Mark fünfzig Text und Noten des Werks erstehen, das dann zum offiziellen Lied der Hitlerjugend wurde. Hans-Otto Borgmann hatte eine dieser eingängigen Ohrwurm- und Marschiermelodien komponiert, bei denen Figuren wie Loriots Opa Hoppenstedt oder der durchgeknallte Offizier aus der Klimbim-Familie immer mitdirigieren. Wahrscheinlich würde das Lied längst zum Repertoire des Musikantenstadls gehören, wenn die Worte nicht wären. Von Schirach höchstpersönlich (oder sein Ghostwriter) hatte den Text geschrieben. Die erste Strophe beginnt so:

Vorwärts! Vorwärts!
Schmettern die hellen Fanfaren.
Vorwärts! Vorwärts!
Jugend kennt keine Gefahren.
Deutschland, du wirst leuchtend stehn
Mögen wir auch untergehn.

Wie Hitlerjunge Quex in einem Land wirkte, in dem in allen Bereichen des öffentlichen Lebens permanent dieselben Sprüche wiederholt wurden, lässt sich heute nur noch annäherungsweise rekonstruieren. Ende Januar 1934 hatten den Film bereits mehr als eine Million Menschen gesehen. Bis 1942 wurde er zu Propagandazwecken ständig neu eingesetzt. Inzwischen ist er ein zeitgeschichtliches Dokument und ziemlich angestaubt. Man muss aber befürchten, dass seine Wirkung über das Jahr 1942 weit hinausging. Es gibt kaum Erkenntnisse darüber, was ein Film wie Hitlerjunge Quex in den Köpfen der Kinder anrichtete, die ihn Jahr für Jahr zu sehen bekamen. Diese Kinder waren, so sie den Krieg überlebt hatten, die jungen Erwachsenen der 1950er, in beiden deutschen Staaten. Was das bedeutete, interessiert uns nicht besonders.

Mehr als der Tod

Hier der Refrain, der Heini ständig durch den Kopf geht, nachdem er ihn das erste Mal gehört hat:

Uns're Fahne flattert uns voran.
In die Zukunft ziehen wir Mann für Mann
Wir marschieren für Hitler
Durch Nacht und durch Not
Mit der Fahne der Jugend
Für Freiheit und Brot.
Uns're Fahne flattert uns voran,
Uns're Fahne ist die neue Zeit.
Und die Fahne führt uns in die Ewigkeit!
Ja die Fahne ist mehr als der Tod!

Der Tod wartete dann in Stalingrad. Wer das heute noch schön findet, sollte eine psychotherapeutische Behandlung in Betracht ziehen. Durch ein Verbot von Hitlerjunge Quex lässt sich dieses Problem nicht lösen.

"Wenn man alle Ideologie beiseite lässt, was sicher nicht einfach ist", schreiben Francis Courtade und Pierre Cadars in ihrer Geschichte des Films im Dritten Reich, "dann muss man sagen, dass Hitlerjunge Quex unter technischen und ästhetischen Gesichtspunkten ein herausragender Film ist." Das mag so sein. Goebbels fand Hitlerjunge Quex vermutlich elektrisierend, weil der Film seine Forderung umsetzt, politische Ideen in ästhetische Formen zu übertragen. Anders gesagt: Es geht um Reklame. An dem Film kann man studieren, wie die Nazis versuchten, ihr Produkt an den Mann (und das Kind) zu bringen. Heini Völker ist der von konkurrierenden Firmen umworbene Konsument. Die Nazis und die Kommunisten könnten ihm statt einer Ideologie auch eine Versicherung, ein Schrott-Zertifikat oder ein neues Auto verkaufen wollen. Man erfährt nie etwas über die Parteiprogramme und auch nichts darüber, was auf den Flugblättern steht, die so wichtig sind, dass Heini sein Leben für sie opfert.

Inzwischen gibt es Krankenkassen, die Versicherte mit kostenlosen Wellness-Urlauben ködern. Das war früher auch schon so. Heini Völker soll Mitglied bei der Jugend-Internationale werden und darf umsonst am Wochenendausflug zum Seddin-See teilnehmen. Dorthin fährt auch die HJ. Beide Gruppen nehmen denselben Zug. Wenn ich die Wahl hätte (die es 1933 nicht mehr gab), würde ich mich für die Kommunisten entscheiden. Sie sind ein bunter, gut gelaunter Haufen, der zeigt, dass man auch ohne Marschformation zum Bahnhof gehen kann. Bei der HJ meldet ein streng dreinblickender Jugendlicher die Kameradschaft dem Bannführer ("Die Augen links!"). Die Kommunisten lachen die Uniformträger aus. Ich bin auf Seiten des Gelächters.

1938 erwarb das Museum of Modern Art eine Kopie von Hitlerjunge Quex. Der Ethnograph Gregory Bateson versuchte, durch ein genaues Studium des Films mehr über das Wesen des Nationalsozialismus zu erfahren. Dabei, so Bateson, könne es durchaus sein, dass Quex mehr über seine Macher verrate, als von diesen beabsichtigt. Ihm fiel etwas auf, das sich so ähnlich auch bei anderen NS-Filmen feststellen lässt: die Kommunisten sind das unheimliche Spiegelbild der Nazis (wohlgemerkt: die Kommunisten im Film, nicht in der Realität). Hitlerjunge Quex ist ein verkappter Doppelgänger-Film. Damit steht er ironischerweise in der Tradition des phantastischen Films der Weimarer Republik und somit eines Genres, das seiner subversiven Möglichkeiten wegen im Dritten Reich verpönt war. Man könnte eine interessante Geschichte erzählen, von den beiden stummen Versionen von Der Student von Prag (1913, 1926) und Arthur Robisons Schatten (1923) über Hitlerjunge Quex bis zu Strangers on a Train von Alfred Hitchcock, der ein genauer Kenner des deutschen Films war.

Bateson hat etwas entdeckt, das mir für die NS-Propagandafilme ganz wesentlich zu sein scheint. Die jeweils Bösen sind eine Projektionsfläche für die Ängste der Nazis; sie sind so, wie die Nazis zu werden fürchten, wenn sie ihre Triebe nicht durch Ordnung und Sauberkeit in Zaum halten. Was sich aus einer solchen Doppelgänger-Konstruktion alles machen lässt, demonstriert Veit Harlan in Jud Süß. Süß Oppenheimer installiert da eine die Bürger ausspionierende und seine Zwangsherrschaft absichernde Geheimpolizei. Im Dritten Reich waren es aber die Nazis und nicht die Juden, die über eine Gestapo verfügten. Manche Harlan-Apologeten möchten darin eine subversive Absicht des Regisseurs erkennen. Dabei ist es eher eine besondere Form der Perfidie. Harlan unterstellt den Juden, dass sie das tun, was in der Realität die Nazis machen. Damit fungieren sie als eine Art Blitzableiter. Die Frustration des Publikums über den von den Nationalsozialisten etablierten Überwachungs- und Unterdrückungsstaat wird auf die bedauernswertesten Opfer dieses Staates umgeleitet. Mit den schlichten Wirkungshypothesen zum NS-Propagandafilm, die wir uns zurechtgelegt haben, hat das wenig zu tun (dafür aber einiges mit den Demagogen von heute).

Kleinbürgerliche Zombies

"Die Schatten", schreibt Ado Kyrou über den Stummfilm von Robison, "sind wie die Spiegel unseres anderen Ichs. Sie können sich plötzlich von uns lösen, ihr eigenes Leben führen und uns vorführen, wie unser Leben verliefe, wenn wir unsere Begierden bis zum Paroxysmus ausleben würden." An Hitlerjunge Quex kann man sehen, wie kleinbürgerlich geprägt die Nazis waren. Die Kommunisten rauchen und sie haben Sex. Das sind die bis zum Paroxysmus ausgelebten Begierden, die sich dieser Film vorstellen kann. Heute wirkt das unfreiwillig komisch. Wenn sich die Kommunisten in einer rauchgeschwängerten Kneipe treffen, denkt man weniger an böse Verschwörer, die das deutsche Volk zum Vasallen Moskaus machen wollen, als vielmehr an den gegen ein strenges Rauchverbot kämpfenden Verein zum Erhalt der bayerischen Wirtshauskultur. Filme hängen eben vom historischen Kontext ab, in dem sie gesehen werden.

Schatten

Als die Zigarettenreklame noch erlaubt war, wurden uns schöne Frauen und "der Duft von Freiheit und Abenteuer" versprochen. Die Tabakfirmen verkauften ihre Produkte, indem sie das Rauchen mit einem Lebensgefühl verknüpften. Heini Völker findet sein Lebensgefühl im Wald. Im Zeltlager der Kommunisten wird gesoffen, zu Akkordeonmusik gesungen und getanzt. Sex und Zigaretten gibt es auch. Der einzige Hitlerjunge, der raucht, wird später seine Kameraden verraten. Außerdem singt er "Das ist die Liebe der Matrosen" wie Hans Albers in Bomben auf Monte Carlo (das Lied war bei den Nazis verpönt, weil es von einem jüdischen Komponisten stammte). Verführt wird er von der flotten Gerda. Sie macht jedem schöne Augen, wenn es der kommunistischen Sache dient. Heini aber ist immun. Statt mit Gerda die Internationale zu singen, geht er tiefer in den Wald, durch den das HJ-Lied dringt wie die Verheißung einer besseren Welt.

Bomben auf Monte Carlo

Dieses Lied übt eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf Heini aus und scheint alle anderen Gedanken aus seinem Hirn zu saugen. Wer sich nicht dafür begeistert, als Einzelner im großen Ganzen aufzugehen, kann Quex auch als die Geschichte einer Gehirnwäsche sehen, oder als einen Zombiefilm. Der Naziwald ist kein wild wuchernder Dschungel der Leidenschaft, sondern eher die auf Triebunterdrückung ausgerichtete Baumschule, von der Bismarck (Emil Jannings) in Die Entlassung (1943) träumt. Da, wo die HJ-Kapelle das Lied spielt, stehen die geraden Bäume des Dr. Brett (Die Feuerzangenbowle). Die Hitlerjugend hat schön ordentlich ihre Zelte errichtet, und jetzt haben alle in Reih und Glied um einen brennenden Scheiterhaufen Aufstellung genommen, um die Sonnwendfeier zu zelebrieren. Von Caß, dem Bannführer der HJ, haben wir bisher - am Bahnhof - nur ein "Stillgestanden!" gehört. Am Scheiterhaufen sagt er Folgendes:

Mit den lodernden Flammen steigen unsere Gedanken in die Nacht empor ... über Deutschland ... Deutschland, das in Sklavenketten liegt, die wir Jungens einst zerbrechen werden. Wir erneuern in dieser Nacht dem Führer und seiner Idee den Treueschwur. Sieg Heil! Sieg Heil! Sieg Heil!

Hitlerjunge Quex

Da die Kommunisten die Doppelgänger der Nazis sind, macht ein Vergleich den sadomasochistischen Gehalt der Veranstaltung deutlich. Bei der Jugend-Internationale entsteht ein wildes Durcheinander, als Gerda einem der Jungen einen Klaps auf den Po gibt. Sofort stürzen sich alle freudig auf sie, um ihr den Hintern zu versohlen. Das ist der Moment, in dem der entsetzte Heini die Flucht ergreift. Im Wald der Nazis wird das Chaos durch die streng geometrische Form ersetzt, der Sadomasochismus tritt sublimiert auf. Zelebriert wird die lustvolle Unterwerfung unter einen Führer. "Wir sind der Zukunft Soldaten", heißt es im HJ-Lied. "Träger der kommenden Taten. / Führer, wir gehören dir, / Wir Kameraden, dir!" Wo das endete, weiß man zur Genüge (wer es nicht weiß, sehe sich Bernhard Wickis Die Brücke an). Würden solche Sprüche heute jemanden dazu veranlassen, als Kanonenfutter in den Krieg zu ziehen?

Hitlerjunge Quex

Heinis Vorbilder sind der HJ-Kameradschaftsführer Fritz und seine Schwester Ulla. Ulla trägt das Kurzhaar streng gescheitelt. Dieser Frauentyp wird später als Domina in den Ilsa-Filmen wieder auftauchen. Die Geschwister gehören zur wohlhabenden Mittelschicht. Aber ihre Eltern sieht man nie. Heini hat Mutter und Vater. Sie werden von Berta Drews und Heinrich George gespielt (im realen Leben die Eltern von Götz George). Im Film sind sie dazu da, aus Heinis Welt zu verschwinden. Das ist ihre wichtigste Funktion. Ersetzt werden sie durch Heinis neue Familie, die Hitlerjugend.

Apotheose auf Nazi-Art

Als der knapp dem Tod entronnene Heini nach dem Selbstmord der Mutter im Krankenhaus wieder aufwacht, bekommt er eine HJ-Uniform geschenkt. Und als er nicht recht gesund werden will, sucht der Bannführer das Gespräch mit seinem Vater. Caß erinnert an den Ersten Weltkrieg und erzählt begeistert von den Kindern, die da ihren Mann gestanden haben: "Zwei Millionen Jungs haben sich zum Krieg gemeldet!" Und jetzt? "Wo gehört der Junge heute hin?" fragt Caß. Die Antwort: In die Hitlerjugend.

Hitlerjunge Quex

"Jungen sind etwas Wunderbares", schwärmt Caß und grinst dazu wie der Wolf im Märchen. Ich weiß nicht, wie das damals ankam. Heute sind die pädophilen Untertöne schwer zu überhören. In der Szene bringt ein Päderast einen Vater dazu, ihm sein Kind zu übergeben. Der Film stellt sich durch die Inszenierung (Caß und Heini in einer Einstellung, der Vater in einer anderen) auf die Seite des Bannführers. So paart sich in dieser Szene die Begeisterung für Krieg und Opfertod mit einer anderen Lust, die auch nicht eben für die Nazis einnimmt.

Quex endet mit einer Apotheose auf Nazi-Art. Bevor Heini den Heldentod stirbt, sagt er ein letztes Mal die magischen Worte: "Uns're Fahne flattert uns voran." Das wird aufgenommen von einem Chor der Hitlerjugend, der ergänzt: "Wir marschieren für Hitler / Durch Nacht und durch Tod" usw. Dazu sehen wir uniformierte Kolonnen, die zu einem überdimensionalen, im Wind flatternden und aus vielen anonymen Leibern bestehenden Hakenkreuz verschmelzen. So wird der Tod als ästhetisches Erlebnis inszeniert. Laut Liedtext ist es der Anfang einer neuen Zeit, in die die Hitlerjugend da marschiert. Inzwischen wissen wir, dass es bereits das Ende war. Zu sehen ist der Zug der Lemminge. "Die Fahne ist mehr als der Tod", sind die letzten Worte des Films. Sie war dann aber doch nur das Symbol eines kollektiven Selbstmords.

Hitlerjunge Quex wünscht sich also Zuschauer, die strammstehen, in Naziuniformen marschieren, einem pädophilielastigen Verein beitreten und sich für einen eingebürgerten Österreicher aus Braunau umbringen lassen wollen. Das ist das Offensichtliche und das, was unter Paragraph 86 des Strafgesetzbuchs fällt. Laut Abs. 4, Nr 4 von § 86 StGB ist die "Verbreitung von Propagandamitteln unter Strafe" gestellt, "die nach ihrem Inhalt dazu bestimmt sind, Bestrebungen einer ehemaligen nationalsozialistischen Organisation fortzusetzen". Interessanter, weil nicht sofort ersichtlich, sind die Werte, die nicht nur von eindeutigen, ganz unverstellten Propagandafilmen wie Quex propagiert werden, sondern vom NS-Kino insgesamt - das also, was jenseits der Uniformen und der Hakenkreuzfahnen bleibt, die Schnittmenge zwischen den Vorbehaltsfilmen und der vorgeblich harmlosen Unterhaltung. Ich will hier nur zwei dieser Werte nennen, die in Rühmann-Komödien genauso gepriesen werden wie in antisemitischen Hetzfilmen: Ehrlichkeit und Gehorsam.

Die Kommunisten erzählen Heini Völker, den sie für einen der ihren halten, dass sie das HJ-Heim sprengen wollen. Heini möchte das verhindern. Wie würden wir meistens nicht ganz so heldenhaften Normalbürger das machen? Wie würden wir versuchen, den Anschlag einer terroristischen Organisation zu vereiteln? Wahrscheinlich würden wir zur Polizei gehen, eine Aussage machen und um Vertraulichkeit bitten, um nicht zum Opfer eines Racheaktes zu werden. Heini dagegen sagt den Kommunisten ins Gesicht, dass er ihren Anschlag vereiteln wird. Das ist doch eigentlich ganz schön blöd, weil er sich so selbst ins Visier der Mörder begibt. Er wird dann auch als Verräter gejagt und umgebracht.

Hitlerjunge Quex

Aber so sind sie eben, die Nazis. Statt Heimlichkeiten zu haben, sagen sie immer gerade heraus, was sie planen - koste es, was es wolle. Nun ist gegen diese Ehrlichkeit im Prinzip nichts einzuwenden. Sie wird aber im Auftrag eines Staates propagiert, dessen führende Repräsentanten logen, dass sich die Balken bogen (weshalb ihnen Zensur, gleichgeschaltete Medien und Abschaffung der Informationsfreiheit so wichtig waren). Hier wird das Ideal des Überwachungsstaats ausgegeben: der Bürger ohne Geheimnisse, der bereitwillig alles offenlegt, weil er ein ehrlicher Mensch ist und als solcher keine Heimlichkeiten haben muss. Damit bricht Hitlerjunge Quex aus dem zeitgeschichtlichen Rahmen aus, ist der Film ganz nah an aktuellen Debatten über ständig neue Sicherheitsgesetze, deren Befürworter gern argumentieren, dass jemand, der nichts zu verbergen hat, auch keine Angst davor haben muss, wenn er - nur zu seinem Besten - ausspioniert wird.

Die Kommunisten in Quex betätigen sich als Unterdrücker der Meinungsfreiheit. Gerda stiftet den rauchenden Hitlerjungen dazu an, die Flugblätter seiner Kameraden zu vernichten. Heini druckt rasch neue, die er persönlich in der Hochburg der Linken austragen will. Bannführer Caß erlaubt das nicht, weil es zu gefährlich ist. Wäre Heini Völker der Held in einem Hollywoodfilm, würde er es trotzdem tun. Hollywoodhelden machen das, was sie für richtig halten; mit dem Befolgen von Befehlen tun sie sich traditionell sehr schwer. Aber Heini soll das Vorbild für alle Hitlerjungen sein. Also bittet er Caß so lange, diese Flugblätter austragen zu dürfen, bis der Bannführer endlich die Erlaubnis gibt. So bleibt das Führerprinzip gewahrt. Merke: Der brave Hitlerjunge stirbt "für seine Sache, für die Kameraden, für die heißgeliebte Fahne und den Führer" den Heldentod - aber erst, nachdem der Chef sein Okay gegeben hat. Sogar im Tod bleibt die Befehlskette intakt.

Wunder des Fliegens: Von Quex zu Quax

Sollte man diese Verherrlichung des Sterbens gesehen haben? Ich finde schon - und sei es nur aus Gründen der Kontinuität. 4% ihres Tonfilmbestandes, so die Murnau-Stiftung, stehen unter Vorbehalt. So haben wir uns demnach die Relationen vorzustellen. Das NS-Kino bestand zu 96% aus harmloser Unterhaltung. Der kleine Rest muss unter Verschluss gehalten werden, weil sich in ihm die gefährlichen, hoch ansteckenden Propagandaviren verstecken. Mit dieser vorsorglichen Isolierungsmaßnahme werden nicht nur wir, die Zuschauer, geschützt sondern auch die 96% - allerdings ganz anders, als man meinen könnte. Denn wenn man die vielen Komödien und Schmonzetten im Zusammenhang mit den Vorbehaltsfilmen sieht (also so wie das Kinopublikum im Dritten Reich), kann die schöne Relation von 4:96 ganz schnell ins Rutschen geraten. Außerdem ist da noch die Frage, wie man rechnet. Die Murnau-Stiftung hat sehr viele Kurzfilme. "Unter Vorbehalt" stehen ausschließlich Spielfilme. Das ergibt zwar keinen Sinn, weil Propaganda keine Mindestlaufzeit braucht, ist aber trotzdem so. Wenn man das schon so handhabt, sollte man die Vorbehaltsfilme zu den Spielfilmen insgesamt in Relation setzen, nicht zu allen Tonfilmen.

Jürgen Ohlsen, der Darsteller des Heini Völker, stieg in der Hierarchie rasch auf. Aber 1935 machte das Gerücht die Runde, er habe mit Juden Tennis gespielt und sei deshalb aus der HJ ausgeschlossen worden. Die Reichsjugendführung ließ dementieren, doch von Jürgen alias Heini hörte man bald nichts mehr. Seine Fans durften den Jungen wenigstens noch an der Seite des Fliegerhelden Ernst Udet erleben, im bereits abgedrehten Film Wunder des Fliegens (1934/35), mit dem Deutschlands Jugend für die Luftfahrt (und insbesondere die Luftwaffe) begeistert werden sollte. Von da führt der Weg zum mit dem Prädikat "jugendwert" bedachten Wehrertüchtigungsfilm Quax der Bruchpilot, über den ein Rezensent schrieb, er sei ein "völlig unaufdringliches Loblied auf die deutsche Fliegerei". Die deutsche Fliegerei war damals gerade damit beschäftigt, über andern Ländern Bomben abzuwerfen. Quax der Bruchpilot würde kaum so heißen, wenn es Hitlerjunge Quex nicht gegeben hätte. 1941, als Quax anlief, wurde Quex noch immer aufgeführt. Ein Vergleich ist interessant. Wenn man die beiden Filme hintereinander sieht, wirkt Heinz Rühmann in seiner Paraderolle plötzlich gar nicht mehr so unpolitisch.

Hitlerjunge Quex

Auf ganz andere, weniger schonende Weise ist Fritz Lang von der deutschen Liebe zum Verbot betroffen. Am Anfang von You Only Live Once, seinem zweiten im US-Exil entstandenen Film, gibt es einen italienischen Lebensmittelhändler mit starkem Akzent, der einen Apfeldiebstahl anzeigen will. Bei der für Schwerverbrechen zuständigen Staatsanwaltschaft wird er abgewiesen, weil es sich um ein Bagatelldelikt handele. Die Szene wirkt wie eine schlecht integrierte Nummer, die für eine komische Auflockerung sorgen soll, als es noch nichts aufzulockern gibt. Nur wer Hitlerjunge Quex gesehen hat, erkennt den ernsten Hintergrund. Quex beginnt damit, dass ein Junge einen Apfel stehlen will. Das führt zu einem Aufruhr, durch den die mit marschierenden Parteisoldaten endende Handlung in Gang gesetzt wird. Bei der Abteilung für Schwerverbrechen ist der Italiener (wie Lang ein Exilant?) also genau richtig.

You Only Live Once (oben), Cloak and Dagger

Am Anfang von Cloak and Dagger (1946), Langs erstem Nachkriegsfilm, taucht der Apfel wieder auf. Diesmal hält ihn Gary Cooper in der Hand. Aus diesem Apfel, sagt er, könnte eine Bombe werden; in ihm stecke genug Energie, um die Welt in Schutt und Asche zu legen. Wenn man weiß, wo der Apfel herkommt, eröffnet sich eine zweite Bedeutungsebene (vordergründig geht es um die Atombombe). Aber in den 1950ern, als Langs US-Filme erstmals in deutschen Kinos liefen, hatten deutsche Zensoren Hitlerjunge Quex weggesperrt und damit das Bezugssystem entfernt. Das leistete einer anderen, spezifisch deutschen Art von "Vergangenheitsbewältigung" Vorschub. Ins Exil gegangene Filmkünstler, die gern zurückgekehrt wären, mussten in der Nachkriegszeit damit rechnen, als "Vaterlandsverräter" beschimpft zu werden. Das war die plumpe Variante. Andere - leider auch viele Filmkritiker - pflegten ihr Ressentiment, indem sie über den künstlerischen Niedergang schwadronierten, der die Emigranten im kulturlosen Amerika angeblich ereilt hatte. Der italienische Lebensmittelhändler in You Only Live Once wurde nun als Beleg dafür gewertet, dass Langs Weggang nach Amerika eine irreversible Schaffenskrise eingeleitet habe. So stellt man sich durch Zensur seine eigene Wirklichkeit her.

Weitere bereits erschiene Folgen der Serie "Das Dritte Reich im Selbstversuch":

Teil 2: Hans Westmar - Ein deutsches Schicksal
Teil 3: Braune Volkstänzer im russischen Wald
Teil 4: Nicht ohne die Gestapo, oder auch: Ich will meine Mutter wiederhaben!
Teil 5: Ritt in die Freiheit
Teil 6: Die Russen kommen! Aber wo?
Teil 7: Verräter und Unternehmen Michael
Teil 8: Robert und Bertram und Die Rothschilds
Teil 9: Fälschung und Entartung im NS-Kino
Teil 10: Gefahr aus dem Bierkeller
Teil 11: "Es wird ein Signal, ein Weckruf sein!"
Teil 12: "Feinde" und "Heimkehr"
Teil 13: "… reitet für Deutschland"