"Eine Million Menschen sitzen auf der Straße, weil wir nicht pünktlich Feierabend machen"

Interview mit Jörn Boewe über Ausmaß, Weisen und Folgen von unbezahlter Mehrarbeit in der Bundesrepublik Deutschland

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In der Debatte über den Arbeitsmarkt werden die Dimensionen und Auswirkungen unbezahlter Mehrarbeit kaum diskutiert, obgleich diese einen relevanten volkswirtschaftlichen Faktor zugunsten der Arbeitgeber darstellt. Telepolis sprach mit Jörn Boewe, der sich in dem Buch "ArbeitsUnrecht" mit einem Beitrag dem Thema widmete.

Herr Boewe, laut einer Umfrage der Hans-Böckler-Stiftung arbeiten in 84 Prozent der Betriebe die Menschen z.T. erheblich mehr als sie bezahlt bekommen. Welche Finten haben die Unternehmen entwickelt, um ihren Mitarbeitern diese Mehrarbeit abzupressen?

Jörn Boewe: Direkt angeordnet wird so etwas, wenn überhaupt, äußerst selten. Normalerweise kommen vielfältige psychologische Tricks zum Einsatz. Wenn z. B. jemand neu in ein Unternehmen kommt, wird sich dieser Mensch an den dort gängigen Verhaltensweisen orientieren. Wenn also alle Angestellten üblicherweise eine halbe Stunde früher kommen und eine halbe Stunde später gehen, wird sich jeder Neueinsteiger zunächst genauso verhalten. Verbreitet ist auch die Masche, dass ein bestimmtes Arbeitspensum angeordnet wird, das innerhalb der Regelarbeitszeit gar nicht zu bewältigen ist. Normalerweise ist die Hemmschwelle bei den Beschäftigten hoch, darauf hinzuweisen, dass man dazu mehr Zeit braucht. Schließlich möchte man im Unternehmen nicht als wenig belastbar und leistungsfähig gelten. Ein dritter Punkt ist das, was in der einer Studie des DIW von Silke Anger als "Investition in die Karrierechancen" bezeichnet wird. Wenngleich meiner Meinung nach die Begrifflichkeiten schief sind, beschreibt sie den Sachverhalt korrekt: Lohnabhängige leisten oft ohne Klagen unbezahlte Mehrarbeit, um ihre Entwicklungsperspektiven im Unternehmen zu verbessern. "Verbessern" kann in diesem Sinne übrigens auch bedeuten, einfach nicht auf die nächste Entlassungsliste zu kommen.

Allerdings ist der Begriff "Investition" falsch, weil eine Investition mit bestimmten Anrechten verbunden ist, während die Mehrarbeit einfach ein Geschenk an den Unternehmer darstellt. Ob dieser sich im Gegenzug nun bei einer Stellenbesetzung erkenntlich zeigt, bleibt seine Sache. Dadurch, dass sich jemand für seinen Chef krumm macht, erwirbt er noch lange keinen Anspruch auf irgendetwas.

Sind diese Methoden legal? Haben die Lohnabhängigen eine Möglichkeit, diese juristisch unterbinden zu lassen? Sind hier die Gesetze zu unklar formuliert oder gibt es sie gar nicht?

Jörn Boewe: Das findet überwiegend in einer rechtlichen Grauzone statt. Klar illegal wäre die Sache, wenn gegen das Arbeitszeitgesetz verstoßen wird. Aber in der Praxis ist das oft gar nicht der Fall, oder die Verstöße sind nicht so einfach nachweisen. Das Gesetz wird z. B. übertreten, wenn regelmäßig länger als zehn Stunden gearbeitet wird. Oder wenn die durchschnittliche Arbeitszeit über den Zeitraum eines halben Jahres acht Stunden je Werktag überschreitet. Aber kein Gesetz verbietet es, dass Angestellte mit einer 38,5-Stunde-Woche jeden Tag eine halbe Stunde früher kommen und eine halbe Stunde später gehen, weil die Arbeit sonst nicht zu schaffen ist. Illegal wäre es nur, wenn der Arbeitgeber dies direkt anordnet - deshalb hüten sich die Chefs im Allgemeinen auch davor, gerade in den Unternehmen, wo so etwas systematisch betrieben wird. Wenn ein Chef seinen Unterstellten Arbeitsaufgaben erteilt, die in der zur Verfügung stehenden Zeit nicht zu leisten sind, läuft das rechtlich übrigens aufs selbe hinaus. Es liegt aber auf der Hand, dass so etwas vor Gericht nicht so einfach zu beweisen ist.

Andererseits ist niemand verpflichtet, unbezahlte Mehrarbeit zu leisten. Nur kann es für den einzelnen Mitarbeiter unter Umständen äußert schwierig sein, sich dagegen zu wehren. Wenn es im Unternehmen einen Betriebsrat gibt, ist es einfacher, weil dieser in puncto Arbeitszeit recht weitgehende Mitbestimmungsrechte besitzt: Er kann Überstunden verweigern, Zeiterfassungsregeln einführen und auf die Dienstplangestaltung Einfluss nehmen. Allerdings wird weniger als Hälfte der Beschäftigten in der Bundesrepublik von Betriebsräten vertreten, und bei einem nicht sehr geringen Teil dieser Vertretungen muss man davon ausgehen, dass sie ihnen eher die Interessen der Geschäftsleitungen am Herzen liegen. Rund 90 Prozent aller Betriebe kennen überhaupt keine Betriebsräte.

"Die Gewerkschaften sind kein homogener Block"

Welche Möglichkeiten haben Gewerkschaften, diese unbezahlte Mehrarbeit zu unterbinden?

Jörn Boewe: Prinzipiell kann die Arbeitszeit durch Tarifverträge geregelt werden. Allerdings gibt es immer mehr Betriebe, für die solche Regelungen nicht gelten. Interessanter noch ist das Phänomen der Unternehmen, die einen Tarifvertrag unterschrieben haben, aber trotzdem systematisch auf unbezahlte Mehrarbeit setzen. Ein gutes Beispiel hierfür beschreibt die Lidl-Betriebsrätin Ulrike Schramm-de Robertis in ihrem gemeinsam mit Daniel Behruzi geschriebenen Erfahrungsbericht: "Ihr kriegt mich nicht klein", der vor kurzem bei Kiepenheuer und Witsch erschienen ist. Lidl hat bereits vor vielen Jahren Tarifverträge Im Einzelhandel unterschrieben und trotzdem ein System eingerichtet, in dem die Leute permanent zu Mehrarbeit genötigt wurden und wahrscheinlich immer noch werden. Überall, wo es keine Betriebsräte gibt, die die Einhaltung kontrollieren und im Notfall auch vor Gericht ziehen, besteht die Möglichkeit, Tarifverträge zu unterlaufen. Die Gewerkschaften haben dies nach meiner Beobachtung viel zu lange vernachlässigt. Schaut man sich die aktuelle, erfreulich aggressive DGB-Kampagne zu den diesjährigen Betriebsratswahlen an, scheint es dort allerdings ein Umdenken zu geben. Allerdings ist es mit Kampagnen nicht getan. Betriebsräten gerade in kleinen und mittleren Betrieben, wenn sie dann einmal zustande gekommen sind, fehlt einfach das rechtliche und praktische Know-how für den alltäglichen Kleinkrieg im Unternehmen, und die Frage der Arbeitszeit ist immer eines der zentralen umkämpften Felder.

Wenn ein neuer Betriebsrat in einem bislang betriebsratsfreien Unternehmen anfängt, mit einer langjährigen Praxis unbezahlter Mehrarbeit aufzuräumen, kann er das ohne professionelle gewerkschaftliche Rückendeckung und Betreuung gar nicht schaffen. Und nach meiner Erfahrung gibt es auf dieser Ebene einfach nicht genug Gewerkschaftssekretäre, die das leisten können. In manchen Branchen werden diese Aufgaben nur noch von befristet Beschäftigten auf "Projekt-Basis" wahrgenommen.

Und was kann der einzelne Angestellte tun?

Jörn Boewe: Wenn von mir unbezahlte Mehrarbeit verlangt oder erwartet wird, ist der erste Schritt, dass ich mir überlege: Will ich mir das auf Dauer gefallen lassen? Wenn ich nein sage, birgt das gewisse Risiken, aber den Arsch zusammen zu kneifen und dem Chef immer alles recht machen zu wollen, ist auf Dauer auch nicht gesund. Der nächste Schritt wäre, jede Überstunde aufschreiben, mit Tag, Uhrzeit und Anlass. Dann sollte man seinen Mut zusammennehmen und sich die Stunden vom Vorgesetzten abzeichnen lassen. Weigert der sich, sollte man auch das dokumentieren. Das allein wirkt manchmal schon Wunder.

Und wenn es einmal zu einer Auseinandersetzung vorm Arbeitsgericht kommt, hat man eine Chance, wenn man das alles konkret belegen kann - aber auch nur dann. Grundsätzlich sollte man sich professionelle Hilfe suchen. Damit wären wir wieder beim Thema Betriebsrat und Gewerkschaft.

Offenbar sind die Gewerkschaften in kleinen und mittleren Betrieben nicht nur gering vertreten, sie setzen sich dort auch zu wenig ein ...

Jörn Boewe: Ja. Gerade in kleineren und mittleren Unternehmen passiert zu wenig. Ich denke, das hat auch mit einem mangelnden Problembewusstsein zu tun. Für einen Gewerkschaftsfunktionär, der mental noch im vergleichsweise gesitteten rheinischen Kapitalismus lebt, hat sich das Problem im Grunde erledigt, wenn der Tarifvertrag abgeschlossen ist. Die Kontrolle der Umsetzung, die nur auf betrieblicher Ebene funktionieren kann, wird vernachlässigt. Gewerkschaften, die so an die Dinge herangehen, bekommen derartige Verwerfungen gar nicht mit. Das hängt bestimmt auch damit zusammen, dass sich die Lebensrealität von Gewerkschaftsangestellten zunehmend von jener der Beschäftigten in den Betrieben unterscheidet. Andererseits: Die Gewerkschaften sind kein homogener Block. Insbesondere bei ver.di kann man die unterschiedlichsten Entwicklungen und Tendenzen beobachten. Dort findet man den verstocktesten 80er-Jahre-Korporatismus neben ausgesprochen modernen, phantasievollen und militanten Organizing-Ansätzen, die teilweise anmuten, als wären sie, sagen wir, dem Arsenal solcher Strömungen wie der Industrial Workers of the World oder der EuroMayday-Bewegung entlehnt.

Abgesehen von, dass ver.di als relativ junger Zusammenschluss sehr unterschiedlicher Verbände per se eine heterogene Organisation ist, spielt vermutlich auch eine Rolle, dass einige Gewerkschaften in den letzten Jahren auf der unteren Apparatebene ihre eigenen Leute selbst zu halbprekären Bedingungen beschäftigen. Ich war vor ein paar Jahren Betriebsrat in einem mittelständischen Medienunternehmen. Einen Tag nach Weihnachten rief ich meine zuständige Gewerkschaftssekretärin an, um sie zu fragen, ob sie zu unserer Betriebsversammlung im Januar kommen könnte. "Ich würde schon kommen", sagte sie, "aber ich weiß noch nicht, ob mein Vertrag verlängert wird." Das war am 27. Dezember 2005.

Es ist im Grunde skandalös, dass eine Gewerkschaft ihre Leute unter solchen Bedingungen arbeiten lässt. Andererseits gehört dieser neue Typus von prekären Gewerkschaftssekretären definitiv nicht mehr zum rheinischen Kapitalismus, sondern zur neuen Arbeitswelt des 21. Jahrhunderts, ist also im Gegensatz zu den Führungsriegen in der Realität angekommen. Das sind Leute, die selbst unbezahlte Mehrarbeit leisten, weil sie hoffen, dass ihr Zeitvertrag nochmal um sechs Monate verlängert wird. Die Gewerkschaftsapparate haben diese Art von Jobs aus den selben Gründen geschaffen wie jedes andere Unternehmen auch: McKinsey hat ihnen gesagt, dass man das heutzutage so macht. Mittelfristig haben sie sich damit aber vielleicht eine Horde von radikalen Störern ins Haus geholt, was ich sehr ermutigend finde.

In welchen Branchen sind solche Methoden besonders verbreitet?

Jörn Boewe: Besonders verbreitet ist dies nach meiner Beobachtung im gesamten Medienbereich und in Berufen, die erst in den letzten zehn, fünfzehn Jahren mit der Verbreitung des Internets entstanden sind. Natürlich auch in großen Teilen des Einzelhandels, wo mit unbezahlter Mehrarbeit von vorn herein geplant wird, in der Gebäudereinigerbranche. Wenn Sie davon ausgehen, dass das überall außer in Großunternehmen eher die Regel als die Ausnahme ist, liegen Sie sicher nicht falsch.

Wie erkennt man solche Unternehmen?

Jörn Boewe: Wenn in einer Branche besonders viele Teilzeitarbeitsverhältnisse existieren, ist das ein starkes Indiz dafür, dass dort unbezahlte Mehrarbeit bereits in die Kalkulation eingepreist ist.

Ganz normal abhängig Beschäftigte müssen also wie in einer Werbeagentur schuften, ohne dass sie bei erfolgreicher Tätigkeit mehr Geld bekommen....

Jörn Boewe: Ja. Der Druck der Arbeitslosigkeit und die drohende Perspektive, in Hartz-IV-Verhältnisse abzurutschen, haben solche Mechanismen begünstigt.

"Historische Umbruchsituation"

Sind diese Folgen Ihrer Einschätzung nach politisch gewollt?

Jörn Boewe: Eindeutig ja. Die rot-grüne Bundesregierung hat mit den vier Hartz-Gesetzen einen ausgedehnten Niedriglohnsektor geschaffen, die Lohnkosten insgesamt gedrückt, die Arbeitsverhältnisse autoritärer gestaltet, Arbeitnehmerrechte eingeschränkt und generell das Verhältnis Lohnarbeit und Kapital zu Gunsten des Kapitals verändert. Das waren keine Kollateralschäden, das war politisch gewollt.

Welche Auswirkungen hat die unbezahlte Mehrarbeit auf Gesamtwirtschaft und Gesellschaft?

Jörn Boewe: Volkswirtschaftlich ist es gewissermaßen ein Geschenk an die Unternehmen, die dadurch Lohnkosten sparen. Was hier "gespart" wird, fehlt aber den Lohnabhängigen als Kaufkraft, d. h. die Binnennachfrage wird geschwächt. Konservativ geschätzt liegt dieser Verlust - wir könnten auch sagen: diese Umverteilung von unten nach oben - im hohen zweistelligen Milliardenbereich, also immerhin um die drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts.

Aber ehrlich gesagt halte ich das nicht für das Schlimmste. Es heißt zwar, Zeit ist Geld, aber für einen Menschen, der seine grundsätzlichen existenziellen Bedürfnisse befriedigen kann, ist Zeit tatsächlich wichtiger als Geld. Ich weiß, dass mir in diesem Punkt eine Menge Leute widersprechen würden, aber ich denke, die liegen falsch. Das ist auch keine Ansichts- oder Geschmacksfrage. "Zeit ist der Raum zu menschlicher Entwicklung", wie Marx schreibt, und sie ist die einzige Ressource, die absolut nicht erneuerbar ist. Wenn eine Minderheit der Mehrheit systematisch Lebenszeit stiehlt, ist das schlicht asozial.

Falls Ihnen das zu existentialistisch klingt, hier noch eine ganz profane Interpretation: Die Mehrarbeit der einen ist die Erwerbslosigkeit der anderen. Berechnungen der Hans-Böckler-Stiftung, aber auch des eher arbeitgeberfreundlichen Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung zufolge, leistet jeder abhängig Beschäftigte in der Bundesrepublik in der Woche im Schnitt eine unbezahlte Überstunde, vielleicht auch etwas weniger. Zusätzlich lässt er 2,2 Urlaubstage verfallen. Das hört sich nicht viel an, aber dieses Arbeitsvolumen entspricht mehr als einer Million Vollzeitstellen. Eine Million Menschen sitzen auf der Straße, weil wir nicht pünktlich Feierabend machen.

Blicken Sie dieser Entwicklung optimistisch oder eher pessimistisch entgegen?

Jörn Boewe: In den vergangenen zwei Jahrzehnten sind Millionen Menschen in unwürdige, prekäre Arbeits- und Lebensverhältnisse gedrängt worden - in der Bundesrepublik Deutschland, einem der reichsten Länder, dem Mutterland der Sozialdemokratie, Europas Industrienation Nummer Eins mit starken Gewerkschaften usw. usf. Effektiven Widerstand dagegen hat es praktisch kaum gegeben. Dennoch bin ich vorsichtig optimistisch. Ich denke, wir befinden uns in einer historischen Umbruchsituation, in deren Verlauf es zu einer weitgehenden Neuformierung der Arbeiterbewegung kommen wird. Dabei wird es gewiss keine schnellen Lösungen geben, sondern eine Vielzahl oft sehr widersprüchlicher Entwicklungen. Die Entstehung der Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit (WASG) 2004 war so ein Beispiel. Bei aller Begrenztheit war das zweifellos ein Fortschritt, denn ab diesem Punkt war die bis dahin fast absolute Kontrolle der SPD über die Gewerkschaften gebrochen. Das hat neue Spielräume eröffnet. Das gilt auch für die darauf folgende bundesweite Etablierung der Linkspartei. Natürlich sollte man sich keine Illusionen machen - diese Partei ist eher Teil des Problems als Teil der Lösung. Aber es ist phänomenal und auch erfreulich, wie sich die Parteienlandschaft der Bundesrepublik innerhalb der letzten fünf Jahre verändert hat. Und die Dinge werden weiterhin im Fluss bleiben. Eine Mitte-Links-Regierung im Bund unter Beteiligung der Linken ist nur eine Frage der Zeit. Vermutlich wird eine solche Regierung beträchtlichen Schaden anrichten, wenngleich vielleicht nicht soviel wie seinerzeit das Kabinett Schröder/Fischer. Es wird ein großes Gejammer geben, aber zugleich wird sich ein politischer Raum links der Linkspartei auftun, der nicht lange leer bleiben wird.

Oder denken Sie an den Streik bei der Deutschen Bahn 2007/2008. Die kleine Lokführergewerkschaft hat den großen DGB-Gewerkschaften gezeigt, wie man einen erfolgreichen Arbeitskampf führt. Fünfzehn Jahre zuvor war das noch ein Verein von Beamten, aber der Anschluss der DDR hat alles durcheinander gewirbelt. Ich will damit nicht sagen, dass die Zukunft in berufsständischen Organisationen liegt. Ich meine vielmehr, die Neuformierung der Arbeiterbewegung wird nicht das Ergebnis einer bestimmten Linie, sondern sehr verschiedenartiger Anstrengungen sein - teils außerhalb, teils innerhalb der DGB-Gewerkschaften. Selbst deren konservative Apparate müssen unter dem Druck, dass die Tarifbindung schwindet und der Niedriglohnsektor wächst, irgendetwas machen, wenn sie nicht von der Bildfläche verschwinden wollen. Denken Sie daran, wie ver.di im Einzelhandels-Tarifstreit 2008 gemeinsam mit globalisierungskritischen Gruppen Flashmobs organisiert hat. Das war schon eine kleine Kulturrevolution.

Noch wichtiger ist aber: Die Unternehmer haben dagegen geklagt, und ver.di hat das Recht auf diese Aktionsform im Arbeitskampf durch alle Instanzen verteidigt. Flashmobs machen kann jeder, aber einen Rechtsstreit darüber bis zur endgültigen Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts durchhalten - das muss man sich auch leisten können, dazu braucht man Ressourcen, einen funktionsfähigen Apparat usw. Insofern war das eine gelungene Kombination sehr moderner Aktionsformen mit den Vorteilen, die eine Massengewerkschaft bietet. Wenn wir in dieser Richtung weiter marschieren, werden wir irgendwann Licht am Ende des Tunnels sehen, davon bin ich überzeugt.