Braune Volkstänzer im russischen Wald

Sturm über Asien

Das Dritte Reich im Selbstversuch, Teil 3: Friesennot

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Eineinhalb Monate nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler, am 11. März 1933, beschloss das Kabinett die Einrichtung des "Ministeriums für Volksaufklärung und Propaganda", das vom Innenministerium die Zuständigkeit für die Zensur übernahm. Am 28. März hielt Goebbels im Berliner Hotel Kaiserhof eine Rede vor Vertretern der Filmkunst und der Filmwirtschaft. Der neue Minister zeigte sich entschlossen, den deutschen Film zu "reformieren", also auf Linie zu bringen.

Teil 2: Hans Westmar - Ein deutsches Schicksal

Facettenreiche Filmzensur

Die klassische Zensur, das Eingreifen staatlicher Stellen nach der Herstellung eines Films, ist nur eines von vielen Kontrollinstrumenten. Zensur kann man auch ganz anders ausüben, durch Geld zum Beispiel. Deshalb wurde als eine der ersten Maßnahmen die von den Nationalsozialisten beaufsichtigte Filmkreditbank gegründet (1. Juni 1933). Dieses als GmbH organisierte Institut half 1933 bei der Finanzierung von 22 Kurz- und Spielfilmen. 1934 waren es schon 49 Spielfilme, im Jahr darauf 65, und 1936 waren bereits 82 abendfüllende Filme (über 70% der deutschen Spielfilmproduktion) vom Wohlwollen der Filmkreditbank abhängig.

Joseph Goebbels

Am 1. März 1934 trat das neue Reichslichtspielgesetz in Kraft, von Dr. Ernst Seeger als "Magna Charta des deutschen Films" gepriesen. Falls es jemand vergessen hat: Die 1215 unterzeichnete Magna Charta ist die Grundlage von Parlamentarismus und Demokratie in England. Das Lichtspielgesetz hatte weniger mit Freiheit als mit Zensur zu tun, der die Nazis ständig neue Facetten hinzufügten. Dabei ist es immer nützlich, die Bestimmungen möglichst schwammig zu formulieren, weil auf diese Weise der Willkür Tür und Tor geöffnet werden. Paragraph 7 der Ausführungsbestimmungen zum Reichslichtspielgesetz lautete:

Die Zulassung ist zu versagen, wenn die Prüfung ergibt, dass die Vorführung geeignet ist, lebenswichtige Interessen des Staates oder die öffentliche Ordnung und Sicherheit zu gefährden, das nationalsozialistische, religiöse, sittliche oder künstlerische Empfinden zu verletzen, verrohend oder entsittlichend zu wirken, das deutsche Ansehen oder die Beziehungen Deutschlands zu auswärtigen Staaten zu gefährden [...].

Ein Filmemacher, der sich dauernd fragen muss, ob er "das nationalsozialistische, religiöse, sittliche oder künstlerische Empfinden" verletzt, arbeitet mit der Schere im Kopf. Das "Verrohende" und "Entsittlichende" taucht übrigens in den Indizierungsentscheidungen der von Adenauer eingeführten "Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften [später: Medien]" wieder auf. Wenn diese Behörde für unsensible Filmbetrachtung gelegentlich das beim Verbieten verwendete Vokabular überprüfen könnte, das wäre schon mal was.

Da "Zensur" ein hässliches Wort ist, wollte man es am liebsten nicht mehr verwenden. Viel schöner war es, von einem "Instrument der Förderung des Filmschaffens" zu sprechen wie Dr. Arnold Bacmeister, seit Februar 1934 bei der Film-Prüfstelle Berlin tätig und ab 1939 deren Leiter. Die "Förderung" ging so: Was dem Regime nicht passte, wurde verboten. In leitender Stellung waren dafür Regierungsrat Heinrich Zimmermann und der bereits zitierte Ministerialrat Dr. Seeger zuständig. Die beiden Herren hatten sich schon in der Weimarer Republik um die Zensur gekümmert. Im Dritten Reich machten sie das weiter. Sie waren keine Nazis und keine Mitglieder der NSDAP, sondern deutsche Beamte, die brav ihre Pflicht erfüllten. So sorgten sie für das Funktionieren des bürokratischen Apparats. In Deutschland war das immer so.

Hatte ein Film die Freigabe erhalten, konnte bei der Prüfstelle eines der per Verordnung vom 5. November 1934 neu strukturierten Prädikate beantragt werden: "staatspolitisch und künstlerisch besonders wertvoll", "staatspolitisch wertvoll" oder "künstlerisch wertvoll", "kulturell wertvoll", "volksbildend" und als Lehrfilm geeignet. Diese Einteilung wurde dann noch mehrfach abgeändert. Ab April 1939 konnten z.B. die Prädikate "staatspolitisch besonders wertvoll" und "künstlerisch besonders wertvoll" getrennt vergeben werden, im September 1942 wurde das Prädikat "volkstümlich wertvoll" eingeführt usw. In der Praxis war es so, dass die offiziell vergebende Filmprüfstelle dem Propagandaminister Vorschläge machte, die dieser annahm oder nicht. Die neuen Prädikate, meldete 1934 der Völkische Beobachter, seien dazu da, "die von der Regierung erstrebte bessere Gestaltung der Filmerzeugung zu erwirken". Anders gesagt: Filme mit Prädikat waren ganz oder teilweise von der (1933 bereits generell von 11,5% auf 8% gesenkten) Vergnügungssteuer befreit. Es gab also eine finanzielle Belohnung für Produzenten, die - im Sinne der Nazis - für eine "bessere Gestaltung" der Filme sorgten.

Prügelknabe des Ministers: Der Reichsfilmdramaturg

Damit nicht genug. Goebbels ließ 1934 zum neuen Lichtspielgesetz wissen, dass es von nun an eine "neue positive Zensur" geben werde. Mit "positiv" war in diesem Fall gemeint, dass man keine Filme mehr verbieten musste, weil solche Filme dank einer neuen Vorzensur gar nicht erst entstehen würden. Zu diesem Zweck hatte Goebbels das Amt des "Reichsfilmdramaturgen" geschaffen. Dieser neuen, mit insgesamt drei Personen stark unterbesetzten Behörde sollten alle Filmprojekte zur Genehmigung vorgelegt werden. Die Produzenten beklagten sich außer über sehr willkürlich und zufällig wirkende Entscheidungen auch über bürokratische Verzögerungen, weil die drei Leute sehr lang brauchten, um Exposés oder Drehbücher zu lesen und zu beurteilen.

Zum ersten Reichsfilmdramaturgen wurde am 3. Februar 1934 Willi Krause ernannt, der Schriftleiter von Der Angriff. 1936 wurde er gefeuert. Krause hatte diverse Nachfolger. Goebbels entließ seine Reichsfilmdramaturgen regelmäßig wegen Unfähigkeit, und wahrscheinlich waren sie auch unfähig. Allerdings war es die vornehmste Aufgabe des Reichsfilmdramaturgen, sich in das hineinzufühlen, was Goebbels gerade haben wollte. Und Goebbels änderte mit jeder neuen Ernennung auch die Bestimmungen, was zu viel Verwirrung führte. Da er außerdem der alleinige Chef bleiben wollte, genehmigte er sich per Gesetz vom 28. Juni 1935 ein persönliches und uneingeschränktes Verbotsrecht. "Aus dringlichen Gründen des öffentlichen Wohls" konnte er eingreifen, wann und wo er wollte.

Ein von Goebbels verbotener Film musste nicht verboten bleiben, wenn dessen Rivalen anderer Meinung waren. Und wenn Hitler etwas gut fand wie die Feuerzangenbowle, schwenkte der Propagandaminister bei Bedarf schnell um. Bei plötzlichen Richtungswechseln war es gut, wenn man für vorherige Irrfahrten einen Sündenbock hatte. Der Reichsfilmdramaturg war also um sein Amt nicht zu beneiden. Meistens hatte er es mit Leuten zu tun, die ihre Funktion weniger ihrem Talent als dem nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler erfolgten Aderlass verdankten (er selbst gehörte auch dazu). Wenn die Dinge dann nicht so liefen wie vom Minister gewünscht, musste jemand schuld sein. Der Reichsfilmdramaturg saß auf einem Schleudersitz.

Willi Krause war ein mittelmäßiger Drehbuchautor und ein schlechter Regisseur, schaffte es aber immerhin, unter seinem Künstlernamen "Peter Hagen" drei Filme zu inszenieren und mit einem sogar seinen Chef zu beeindrucken. "Film FRIESENNOT von Krause", schrieb Goebbels am 9.11.1935 in sein Tagebuch. "Gut gemacht. 1. Teil zu dokumentarisch. Aber lässt sich noch herausschneiden. Krause kann aber was." Und am 13.11.: "FRIESENNOT nun endgültig geschnitten. Unbeschreiblich spannend. Ein Meisterstück von Krause. Ich muss ihm vieles abbitten. Sein Film bekommt höchstes Prädikat." Der Filmfan Adolf Hitler forderte eine Kopie für seine private Sammlung auf dem Berghof an. Das galt als große Ehre. Und weil Hitler ein korrupter Diktator war, durften ihm die Produktionsfirmen die Filme, die er haben wollte, schenken.

Wildwest-Propaganda mit Banditen

Friesennot (Uraufführung: 19.11.1935) sollte die Antwort Nazi-Deutschlands auf russische Revolutionsfilme wie Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin oder Pudowkins Sturm über Asien werden. Schauplatz ist ein Dorf in Russlands Wäldern, nach der Oktoberrevolution. Völlig abgeschieden von der Außenwelt leben hier seit Generationen christliche Fundamentalisten, deren Vorväter die friesische Heimat verlassen mussten, weil sie an der freien Religionsausübung gehindert wurden. Einer, den es in diesem Dorf im Wald nie hielt, ist Christian Kröger. Vor Jahren zog er hinaus in die Welt, nahm sich "draußen eine fremde Frau" (eine Russin) und kam nach dem Tod der Frau kurz wieder, um seine Tochter Mette bei Klaus Niegebüll in Pflege zu geben. Niegebüll hat Mette aufgezogen wie seine eigene Tochter. Jetzt ist Kröger als schwerkranker Mann ein letztes Mal zurückgekehrt. Vor seinem Tod erzählt er von Not und Elend, die "draußen" herrschen, von russischen Soldaten, die das Korn und das Vieh aus den Dörfern holen und diese sogar niederbrennen.

Jürgen Wagner, der bibeltreue Dorfvorsteher, will von einer Gefahr selbst dann nichts wissen, als bereits ein Aufklärungsflugzeug über den Ort fliegt. Bald kommt der kommunistische Kommissar Tschernoff mit einem Reitertrupp ins Dorf. Tschernoff erzählt Wagner von der Hungersnot, die draußen im Land herrscht und von der neuen Regierung, die ihn geschickt hat, um Vieh und Getreide zu holen. Als guter Christ will Wagner gern mit denen teilen, denen es schlechter geht. Und ohnehin sieht er sich zur Folgsamkeit verpflichtet, denn für ihn ist jede Obrigkeit "von Gott eingesetzt, die böse und die gute". Klaus Niegebüll dagegen warnt zur Vorsicht, und natürlich wird er Recht behalten.

Die Dorfbewohner geben, was sie können. Zum Dank behalten die Kommunisten die Pferde und die Fuhrwerke ein, mit denen die Lebensmittel transportiert wurden. Tschernoff und seine Leute bleiben im Dorf, obwohl die Abgaben geleistet wurden. Bald überbringt der Kommissar neue Forderungen. Die Friesen haben nun selbst nichts mehr, um durch den Winter zu kommen. Wenn es soweit ist, meint Tschernoff, werde die Regierung auch den Dorfbewohnern helfen (denen sie gerade alles weggenommen hat). Die Spannungen zwischen Friesen und Russen nehmen zu. Die Kommunisten stehlen die Würste der Bauern, saufen, geilen sich an Photos von Frauen in Unterwäsche auf, schänden die Dorfkirche und schließlich auch die Bauernmädchen.

Friesennot

Niegebüll schlägt vor, das Problem zu lösen, indem man alle Russen tötet, findet aber beim Dorfvorsteher kein Gehör. Wagner mahnt dazu, alle Prüfungen geduldig zu ertragen und auf Gott zu vertrauen. Als ihm Niegebüll die Leiche der vergewaltigten Hilde bringt, hat auch seine Leidensfähigkeit ein Ende. Wagner geht mit zwei Pistolen zur Kirche, wo die Kommunisten ihre Orgien feiern. Dort schießt er Tschernoff und die anderen Russen nieder. Auch er selbst wird tödlich getroffen. Seine letzten Worte sind: "Eine neue Heimat suchen." Beim Blutbad in der Kirche ist ein Feuer ausgebrochen. Niegebüll ist dagegen, es zu löschen. Am Ende verlassen die Friesen die verkohlten Überreste ihres Dorfs und ziehen gen Westen, auf der Suche nach einer neuen Heimat. "Gott, der Du uns stark und frei geschaffen hast", sagt Klaus Niegebüll zum Schluss, "bleib bei uns auf unserm schweren Weg. Amen."

Ob Goebbels diesen Film wirklich, wie er seinem Tagebuch anvertraute, für "unbeschreiblich spannend" hielt? Ging er der eigenen Propaganda auf den Leim? Oder führte er dieses Tagebuch bereits mit Blick auf imaginäre Leser - womöglich für eine Nachwelt, der er grandiose künstlerische Erfolge präsentieren wollte, die keine waren? "Unbeschreiblich spannend" ist nicht Friesennot, sondern Fritz Langs Das Testament des Dr. Mabuse, der von den Nazis im März 1933 verboten wurde. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Goebbels das nicht wusste.

Die besten Momente in Friesennot sind Sepp Allgeier zu verdanken, dem Kameramann von Luis Trenker und Leni Riefenstahl. Wenn die Russen durch den Wald oder über eine Bergkuppe reiten, könnte man sie fast mit den Tiroler Freiheitskämpfern in Trenkers Alpenwestern Der Rebell verwechseln (oder mit James Stewart bei Anthony Mann, oder der Kavallerie bei John Ford). Allgeier gibt sich hier ganz der Freude am schönen Bild hin (er sorgte auch für die besten Stellen in Ewiger Wald), und Krause hat scheinbar nicht gemerkt, dass in seinem Film die bösen Russen die schönsten Einstellungen bekommen und nicht die guten Deutschen.

Friesennot

Auch die Geschichte kennt man von unzähligen Western. Banditen reiten in die Stadt und terrorisieren die Bewohner, die Bürger versuchen es mit Beschwichtigung, schließlich ist die Situation nicht mehr auszuhalten und es kommt zum Showdown. In Friesennot geht das sehr schleppend. Der wenig inspirierte Krause ist dafür nur zum Teil verantwortlich. Es liegt an der Ideologie. Filmheldentum und Führerprinzip vertragen sich nicht gut. Niegebüll sieht sich wie vor ihm schon Heini Völker in Hitlerjunge Quex mit dem Problem konfrontiert, dass er etwas tun will, dies aber ohne Erlaubnis dessen, dem er zu Gehorsam verpflichtet ist, nicht darf. Das ist hier der Dorfvorsteher Wagner. Ohne sein Einverständnis kann Niegebüll nicht losschlagen. Also gibt es ermüdende Gespräche, bei denen Wagner überzeugt werden soll, und man weiß schon vorher, dass bald wieder ein solches Gespräch folgen wird.

Der Rebell

Hier liegt ein entscheidender Unterschied zu Trenkers Der Rebell. Ganz wie im Dorf der Friesen wollen auch die Patriarchen von Tirol zunächst nichts von einem Aufstand wissen. Als Severin (Trenker) die alten Herren nicht überzeugen kann, kämpft er eben selber gegen die französischen Unterdrücker. Damit steht er in der Tradition des amerikanischen Western, der mit autoritären Strukturen nichts anfangen kann. Die Nazis mögen solche nationalen Erhebungen nur, wenn sie streng hierarchisch geordnet sind. Deshalb muss Niegebüll fast bis zum Schluss beim alten Wagner um die Erlaubnis zum Revoltieren bitten und brummelnd wieder abziehen, wenn sie erneut verweigert wurde. Sehr dramatisch ist das nicht.

Friesen-Amok

Aus Friesennot hätte ein guter Eastern werden können, wenn das Drehbuch nicht genauso hölzern wäre wie Krauses Regie. Alles ist furchtbar schematisch. Wenn die Kommunisten kommen, warnt der sterbende Kröger, "sind sie wie der Teufel". Wagner glaubt das nicht. Weil aber die pazifistischen Friesen im Winter die Wölfe abwehren müssen, sollen zwei Männer neue Munition holen und dabei herausfinden, was "draußen" vorgeht. Wir dürfen das sofort erfahren. Bei einem Bahnhof wird ein deutscher Pastor, der in der deutschen Heimat von der Hungersnot berichtet und Hilfsgüter in Empfang genommen hat, als "Spion" exekutiert. Mit ihm sterben ein paar Bauern. Das waren sicher die Besitzer der Kühe, die da herumstehen, weil Krause sie ins Bild führen ließ. Nach der Hinrichtung reiten Kommissar Tschernoff und seine Leute in das Dorf der Friesen. Sie sind die wahren Wölfe. Und die Kommunisten wollen die Kühe nur für sich haben, nicht für die hungernde Bevölkerung.

Nach diesem noch relativ komplexen Anfang von Friesennot (die "Wölfe" kommen nicht sofort, sondern erst nach der Bahnhofsszene) ging Werner Kortwich, der seine gleichnamige Novelle in ein Drehbuch umarbeitete, offenbar die Luft aus. Der Rest verläuft in etwa so: Die Russen, heißt es, vergreifen sich am Eigentum der deutschen Bauern. Der Schmied Hauke Peters hält das für ein Gerücht. Prompt kommt Klaus Niegebüll in die Schmiede und sagt, dass die Russen Haukes Pferd gestohlen haben. Wer nicht hören will, muss fühlen. Große Teile des Films folgen diesem Muster. Einer aus dem Niegebüll-Lager sagt schlimme Sachen über die Russen. Wagner oder einer seiner Anhänger glaubt das nicht. Sofort stellt sich heraus, dass die Russen sogar noch schlimmer sind.

Vielleicht wäre aus Friesennot ein besserer Film geworden, wenn Krause alias Hagen und sein Autor nicht so viele Propagandapunkte abarbeiten müssten. Hier nur einige davon:

  1. Die Desavouierung des Christentums. Niegebüll, der von Anfang an Recht hat mit seiner Meinung über die Russen (und das auch mehrfach betont, was ziemlich nervt: "Ihr wolltet ja nicht hören!"), wird mit einem herzhaften Fluch eingeführt und sagt: "Ein guter Fluch ist soviel wie ein halbes Gebet." Damit steht er gleich im Widerspruch zum frommen Dorfvorsteher Wagner. Niegebüll hat für Wagners Bibelsprüche meistens nur Hohn und Spott übrig. Der Film unterstützt ihn, indem er den russischen Kommissar diese Sprüche so verdrehen lässt, dass immer etwas Nachteiliges für die Bauern dabei herauskommt. Am Ende kann sogar Wagners gottesfürchtige Gattin nicht mehr an das Heilige Buch glauben. Niegebülls den Film beschließendes "Amen" ist kaum mehr als ein zynisches Zugeständnis an unverbesserliche Anhänger des Christentums. Vor dem Amen wurden alle Russen umgebracht. Wenn der nach Westen ziehende Treck der Friesen die deutsche Heimat erreicht, kriegt wahrscheinlich jeder ein vom Führer signiertes Freiexemplar von Mein Kampf, der neuen Bibel.
  2. Die Desavouierung des Pazifismus. Mit den Russen, sagt der Film, kann es keine friedliche Koexistenz geben. Sie sind Aggressoren, die einem alles wegnehmen, was man hat. Man muss sich sofort und entschlossen gegen sie zur Wehr setzen. Wer zu lange zögert, wird bestraft. Der Schmied Hauke Peters kommt noch einmal mit dem Schrecken davon. Trotz des gestohlenen Pferdes hält er weiter zu Wagner. Nun wird ein Russe aufgeboten, der versucht, Haukes Liebste zu vergewaltigen. Hauke erwürgt den Mann und vergräbt ihn mit Niegebülls Hilfe im Wald. Jetzt weiß auch er, was zu tun ist. Wagner hält am längsten an der Gewaltfreiheit fest, macht sich somit am meisten schuldig und muss daher sterben, obwohl er seinen Fehler am Ende einsieht. Sein Tod ist auch erforderlich, weil der Film den als unausweichlich verkauften Übergang von einem Führer (der fromme Bürgermeister Wagner) zum anderen (Klaus Niegebüll, der erst schießt, bevor er "Amen" sagt) inszeniert.
  3. Die Aufrüstung. Hitler begann sofort nach seiner Ernennung zum Reichskanzler mit einem massiven Rüstungsprogramm. Das musste mehr oder weniger heimlich geschehen, weil es gegen die Bestimmungen des Versailler Vertrags verstieß. Niegebüll und seine Anhänger schmuggeln Waffen ins Dorf. Um den Russen nicht wehrlos ausgeliefert zu sein, wenn der Kampf nicht mehr zu vermeiden ist, veranstalten sie nächtliche Schießübungen im Wald. Dieser Programmpunkt macht deutlich, wie schwer es ist, die Erfordernisse der Dramaturgie mit der Propagandaabsicht in Einklang zu bringen. Der kriegerische Niegebüll soll zum Führer aufgebaut werden. Das Diktatorenkino hat aber Probleme damit, einen Patriarchen wie Wagner einfach vom Sockel zu stürzen. Also stirbt er als Held und Racheengel, im Feuergefecht mit fiesen Russen. Die heimlichen Schießübungen im Wald hängen aber dramaturgisch in der Luft, wenn sich mit dem Dorfvorsteher dann derjenige, der nicht daran teilnimmt, zwei Pistolen greift und die Kommunisten fast im Alleingang abknallt. (Seltsamerweise heißt der ein Blutbad anrichtende Wagner wie der zur Entstehungszeit des Films noch in der Heilanstalt in Winnenden einsitzende und auf seine Rehabilitierung durch die Nationalsozialisten hoffende Amokläufer von Mühlhausen.)

Parallelgesellschaft und Rassenhygiene

Ob ich wohl dem Faschismus verfallen würde, wenn Friesennot besser gemacht wäre? Ich glaube nicht. Vieles ist doch sehr zeitgebunden. In einem Staat wie der BRD, der zu den führenden Rüstungsexporteuren gehört, muss nicht mehr erklärt werden, warum man sich ganz schnell bewaffnen sollte. Wer schon etwas älter ist, hat im Fernsehen ganz oft Iwan Rebroff gesehen, den Donkosakenchor und Eiskunstläufer, die früher immer zu "Kalinka" die Goldmedaille gewannen. Die Jüngeren kennen Gorbatschow wenigstens noch von der Pizzareklame. Wir wissen längst, dass die Russen Menschen sind wie wir und nicht so, wie Friesennot es uns glauben machen will. Das ist reine Propaganda, und man merkt es gleich.

"Die Fremde hat dich krank gemacht", sagt der Dorfvorsteher Wagner am Anfang zum heimgekehrten Christian Kröger. Regie und Drehbuch stimmen dem voll zu. Weder Wagner noch der Film bemerken die unfreiwillige Ironie, die in diesem Satz liegt. Denn die Fremden sind die Deutschen, die da in Russlands Wäldern leben und etwas geschaffen haben, das man inzwischen als "Parallelgesellschaft" bezeichnet. Obwohl in diesem Dorf in Russland geboren, spricht offenbar keiner von den Friesen die Landessprache. Diese ausgewanderten Deutschen machen all das, was man heute in Deutschland lebenden Muslimen vorwirft: sie halten an ihren Sitten und Gebräuchen fest und verweigern jegliche Integration; sie leben nach der Heiligen Schrift ihrer Religion; sie halten Andersdenkende für Ungläubige; es gibt ein patriarchalisches, frauenfeindliches System; die jungen Frauen tragen kein Kopftuch, dafür aber ein Dirndl (oder die friesische Variante davon, ich kenne mich da nicht so aus).

Wehe, ein Russe versucht, mit einer Deutschen zu tanzen. Niegebüll geht da sofort dazwischen, und Wagner sagt zu Tschernoff: "Ich sehe jetzt: Es gibt keinen Weg von meinem Volk zu Deinem." Unfreiwillig komisch ist die Szene, in der ein neuer Kommissar eingeführt wird. Im Gegensatz zu Tschernoff kann der Mann kein Deutsch. Der Film präsentiert das als eine ganz schlimme Eigenschaft. Dieser Russe, der in Russland die russische Regierung vertritt, spricht nur Russisch. Igitt. An keiner Stelle kommt der Film auf den Gedanken, dass die in Russland lebenden Deutschen Russisch lernen könnten.

In Hitlerjunge Quex geht die kommunistische Jugend in den Wald, um lustige Lieder von jüdischen Komponisten zu singen und Körperkontakt mit der flotten Gerda zu suchen (schlecht); die Hitlerjugend geht in den Wald, um stramm zu stehen und statt von orgiastischem Sex vom Opfertod für Fahne und Führer zu träumen (gut). In Friesennot wird auf Druck Tschernoffs ein "Versöhnungsfest" gefeiert. Die Russen singen und tanzen ausgelassen und fordern die Deutschen zum Mitmachen auf, wollen aber eigentlich nur deren Frauen vergewaltigen (schlecht). Die Friesen setzen dem einen Volkstanz von der schlimmsten Sorte entgegen. Die Männer (nur die Männer) formieren sich zu einem Kreis und stampfen in ihren schweren Stiefeln mit Bewegungen, die wohl würdig und getragen sein sollen, auf dem Bretterboden herum. Zelebriert wird hier eine dumpfe, auf Ausgrenzung (der geschlossene Kreis) basierende Patriarchenkultur. Interessanterweise geht der Film davon aus, dass der Zuschauer das gut findet. Damit kann ich leider gar nicht dienen.

Friesennot

Halbwegs funktionierende Propagandafilme stellen den Zuschauer vor eine Wahl (ganz plump: soll man die Russen umbringen und im Wald vergraben oder nicht?). Im Falle des Gelingens trifft das Publikum die - im Sinne der Macher - richtige Entscheidung. Die propagandistische Absicht erreicht man am einfachsten über die Identifikation mit den Figuren und indem man eine Geschichte erzählt, in der im Lauf der Handlung alles eliminiert wird, was man nicht haben will. Friesennot hat zwei Führer (Niegebüll und Wagner) im Angebot sowie zwei Liebespaare: Schmied Hauke und Telse Detlevsen auf der einen, Mette Kröger und Kommissar Tschernoff auf der anderen Seite. In einem an Rassenwahn leidenden Staat kann die Beziehung zwischen Mette und Tschernoff nur schlecht enden.

In der gnadenlosen Welt der Nazis kommt es nur auf Abstammung und Vererbung an. Mette Kröger ist die Tochter eines Friesen, sie wurde im Dorf der Friesen vom Paradefriesen Klaus Niegebüll als Friesin erzogen, aber ihre Mutter war Russin. Nur das zählt. Sie sieht aus wie eine Deutsche, ist aber keine. In NS-Propagandafilmen gibt es häufig diese Figur, hinter deren unverdächtigem Äußeren sich das Fremde verbirgt, und das Fremde ist in der Nazi-Welt immer das Böse (berüchtigstes Beispiel: Süß Oppenheimer, der "getarnte Jude" im Film von Veit Harlan). Bei mir aber nicht, und deshalb wirkt der Film auch nicht. Friesennot geht von Voraussetzungen aus, die nicht (mehr) gegeben sind.

Göttliches Kosmopolitentum und Reichswasserleichen

Am Anfang, als ihr Vater von seinen Reisen heimgekehrt ist, gerät Mette ins Schwärmen: "Ganz andere Menschen gibt es da draußen: schwarze und braune und rote!" "Genau!", möchte man ihr antworten. "Gehen wir los und sehen uns das an." In einem Film von Luis Trenker, in Der verlorene Sohn (1934) oder Der Kaiser von Kalifornien (1936), würde genau das passieren. Das ist auch bei Trenker nicht ganz unproblematisch. Aber nach wie vor gilt, was Joe Hembus über den Verlorenen Sohn geschrieben hat:

Dass dabei zuweilen etwas simple Gegenüberstellungen von schlimmen fernen Ländern und der heilen heimatlichen Bergwelt herauskommen, kann den Zuschauer kaum kränken, zumal Trenkers göttliches Kosmopolitentum mit seiner positiven und vorurteilsfreien Neugierde auf alles nahe und ferne Unbekannte bei ihm stets durch alle Trachtenjanker-Knopflöcher blitzt.

Etwas davon leuchtet auch unter Mettes Friesendirndl auf, doch in diesem Film ist das göttliche Kosmopolitentum des Teufels ("Kosmopolit" war ein Schimpfwort der Nazis für die Juden). Friesennot ist nicht neugierig auf das Fremde, weil vorausgesetzt wird, dass das Fremde auch das Schlechte ist; es müssen nur noch (vom Film erfundene) Beweise für dieses Vorurteil gesammelt werden. Das geht so: Eine von den guten Friesinnen (Vater und Mutter deutsch) pflegt Mettes todkranken Vater. Mette selbst (russische Mutter = schlecht) läuft einem Akkordeonspieler hinterher und wirbelt ausgelassen im Kreis herum, während ihr Vater stirbt. Von da an hat sie keine Chance mehr.

Mette verliebt sich in den Russen Tschernoff. Damit, wird Niegebüll später sagen, spricht sie sich selbst ihr Urteil. Wie brutal und gnadenlos dieser mit den höchsten Prädikaten des Dritten Reichs ausgezeichnete Film ist, sieht man an Mettes "Schuld". Das Drehbuch hätte sie zur böswilligen Informantin der Russen machen können. Stattdessen rutscht ihr im Gespräch mit Tschernoff heraus, dass sie sich mit Pistolen auskennt. Das ist alles. Hätte sie sich nicht mit dem Russen eingelassen, sagt der Film, hätte sie nie mit ihm gesprochen, dann hätte das nicht passieren können. Damit ist sie schuldig, die Strafe ist der Tod. Das muss auch deshalb so sein, weil die braven Deutschen am Schluss ohne diese "Halbrussin" heim ins Reich marschieren sollen. Wie bereits gesagt: Bei solchen Filmen ist immer wichtig, wer oder was im Laufe der Handlung eliminiert wird.

Friesennot

Frauen, die gegen die "Rassenhygiene" verstießen, wurden im NS-Kino gern ertränkt. Das spielte man in ständig neuen Varianten durch. Kristina Söderbaum, der Lieblingsdarstellerin (und bald auch Gattin) von Veit Harlan, brachte ihr häufiges Sterben auf der Leinwand den spöttischen Beinamen "Reichswasserleiche" ein. Das ist nicht mehr so lustig, wenn man an die (nicht-fiktionalen) Nürnberger Gesetze denkt und daran, warum sie stirbt. In Jud Süß sucht sie im Neckar den Freitod, nachdem sie vergewaltigt wurde. Das verlangen das Drehbuch und die NS-Ideologie. Der Vergewaltiger ist Jude. Für Frauen, die - ob freiwillig oder nicht, spielt keine Rolle - mit Juden schlafen (und dann womöglich "Halbjuden" in die Welt setzen), war im Nazistaat kein Platz. In Harlans Die goldene Stadt (1942) will Söderbaum der Enge des bäuerlichen Lebens entfliehen. In Prag lässt sie sich mit einem Tschechen ein. Zur Strafe wird ihr vom Film auferlegt, ins Moor zu gehen. Dort endet auch Mette Kröger in Friesennot.

Durch Mettes Unachtsamkeit erhält Tschernoff die Bestätigung für das, was er längst vermutet hat: die Friesen haben sich bewaffnet. Nachdem Niegebülls Haus durchsucht wurde, gerät Mette in Verdacht, die Verräterin zu sein. Als sie mit dem Russen gesehen wird, ist alles klar. Mette muss nicht einmal mehr befragt werden. Ihre Beziehung zu dem Russen, oder auch nur der Anschein einer solchen Beziehung, ist das eigentliche Verbrechen. Es gibt keine Untersuchung und keine Gerichtsverhandlung, nur ein Todesurteil. Und einen Ehrenmord auf Naziart. Niegebüll führt Mette ins Moor, dort kommt sie um. Als er wieder zuhause ist, dürfen wir ihm zusammen mit seiner Frau dabei zusehen, wie er darunter leidet, dass er seine Pflicht erfüllen musste. Das Los des Führers ist doch sehr schwer.

Bin ich also durch Friesennot zum Nazi geworden? Eher nicht. Wahrscheinlich liegt es daran, dass ich keine solchen Patriarchen mag. Schon der salbadernde Dorfvorsteher Wagner ist mir nicht sympathisch. Das könnte sogar im Sinne des Films sein. Zum propagandistischen Gelingen wird allerdings ein Publikum benötigt, das sich mit dem neuen, den Pazifisten Wagner ablösenden Führer identifiziert und von ihm in eine bessere Zukunft geleitet werden will. Ich will das nicht. Für mich ist Klaus Niegebüll die widerlichste Figur in diesem Film. Das nimmt mich auch nicht für eine Ideologie ein, die einen wie ihn als Vorbild präsentiert. Ganz im Gegenteil. Was muss das für ein Land gewesen sein, das solche Kinohelden brauchte?

Etikettenschwindel

Auch regimetreue Filmemacher wie Willi Krause alias Peter Hagen haben es in einer Diktatur nicht leicht. Am 4.12.1935 notierte Goebbels in sein Tagebuch, dass General Keitel eine Erklärung der Reichswehr gegen Friesennot vorgelesen habe. Was die Herren vom Militär störte, wird aus der Eintragung nicht ganz klar: "Da bolschewistische Tendenz!" Was ist damit gemeint? Ist Tschernoff zu sympathisch (immerhin spricht er Deutsch, und reiten kann er auch, statt mit schweren Stiefeln auf dem Boden herumzutrampeln)? Oder sind die Bolschewiken, die man vielleicht noch einmal brauchen wird, zu unsympathisch? Jedenfalls kann man davon ausgehen, dass auch Goebbels' Begeisterung für Friesennot abnahm, als die Verhandlungen über einen Nichtangriffspakt mit der Sowjetunion vorangetrieben wurden.

Im März 1939 wurde Krauses 1935 mit dem höchsten Prädikat ausgezeichnetes Werk auf "staatspolitisch wertvoll und künstlerisch wertvoll" herabgestuft. In Diktaturen können über Nacht aus Feinden Freunde werden, und umgekehrt. Am 24. August 1939 wurde der Hitler-Stalin-Pakt unterzeichnet. Am 7. September wurde Friesennot verboten. Am 22. Juni 1941 überfiel Hitler-Deutschland die Sowjetunion. Im August 1941 wurde Friesennot wieder zugelassen. Dr. Otto Kriegk, Verfasser von Der deutsche Film im Spiegel der Ufa. 25 Jahre Kampf und Vollendung, jubelte 1943:

Es gibt kein besseres Zeichen für die Wirkung dieses Films als die Wiederaufführung nach Jahren; zu einer Zeit, in der die Erkenntnis über den Bolschewismus durch die persönliche Anschauung von Millionen deutscher Soldaten sich inzwischen für uns geklärt hatte. Der Film war genauso frisch und jung wie am Tage seiner Uraufführung.

Allerdings durfte Friesennot nur noch unter dem neuen Titel Dorf im roten Sturm laufen. Ich will nicht annehmen, dass diese Umbenennung dazu diente, ahnungslosen Zuschauern eine Eintrittskarte für etwas anzudrehen, das sie schon kannten. Gerne hätte ich jedoch gewusst, wie das deutsche Publikum die Aufgabe bewältigte, weiter an die Unfehlbarkeit eines Regimes zu glauben, das einen Film erst hochjubelte, dann verbot und ihn schließlich umetikettiert zurück in die Kinos schickte, wo die Russen nun wieder gehasst werden durften. Die damals eingeübte Elastizität konnte man dann im Nachkriegsdeutschland sehr gut nutzen.

Friesennot stand auf mehreren Verbotslisten der Alliierten, zuletzt 1953. Bei Wikipedia wird er als Vorbehaltsfilm geführt. Ich vermute, die Information ist aus "Staatspolitisch besonders wertvoll" übernommen, Klaus Kanzogs Buch über die Prädikatsfilme des Dritten Reichs. Aber woher weiß Kanzog das? Wie bereits ausgeführt, hat das Kuratorium der Murnau-Stiftung beschlossen, dass bestimmte, zu ihrem Bestand gehörende NS-Filme "nur im Rahmen von fachkundig eingeleiteten und kommentierten Veranstaltungen" gezeigt werden dürfen (also meistens gar nicht). Das kommt zwar einem Missbrauch des Urheberrechts bedenklich nah, hat jedoch auch sein Gutes. Bei den Vorbehaltsfilmen der Murnau-Stiftung weiß man wenigstens, woran man ist - zumindest, wenn man mühsam die Titel gesucht hat (sollte Transparenz nicht das oberste Gebot sein?).

Friesennot dagegen ist ein Sonderfall. Von der Berliner Delta Film produziert, gehört das Werk nicht zum Rechtebestand der Stiftung. Aber wem gehört es dann? Wer hat es verboten bzw. "unter Vorbehalt" gestellt? Ich habe keine Ahnung und konnte es bisher auch nicht herausfinden. Friesennot scheint irgendwie verboten zu sein, das Nähere regeln die Bestimmungen. Bei Wikipedia wird als Verbotsgrund angegeben, dass der Film "antisowjetisch" sei. Das ist er zweifellos. Aber kann man 2010 - also zu einer Zeit, in der die Sowjetunion längst selbst Geschichte ist - einen Film verbieten, weil er "antisowjetisch" ist? Und wer hat das gemacht? War es das Bundesarchiv, das scheinbar eine Kopie besitzt? Wer sonst? Der Fall macht deutlich, wie heikel es ist, Probleme mit dem NS-Erbe über das Urheberrecht regeln zu wollen, oder auch nur darüber, wer zufällig eine Filmkopie im Archiv hat. Man verliert da leicht den Überblick.

Was die FSK erlaubt

"FSK:", steht bei Kanzog, "nicht eingereicht, keine Chance auf Freigabe." Wikipedia schließt sich dem an: "Der FSK wurde der Film, der keine Chance auf eine Freigabe hat, nie vorgelegt." Auch ich kann dem nur zustimmen. Kanzog schreibt, die Alliierten seien beim Verbieten eher "assoziativ" vorgegangen (alles von Veit Harlan, alles mit deutschen Uniformträgern, alles mit Duellen). Weil man in der BRD offenbar nur die Verbotslisten kürzte, statt ernsthaft danach zu fragen, ob das Verfahren der Alliierten grundsätzlich sinnvoll ist, hat sich bis heute nicht viel daran geändert. Für eine FSK-Freigabe hat Friesennot einfach zu viele Vorbehaltselemente: Goebbels ließ dem Film das Prädikat "staatspolitisch besonders wertvoll" zuteilen; deutsche Bauern vertreten eine Blut-und-Boden-Ideologie; fiese, asiatisch aussehende Kommunisten vergewaltigen unschuldige deutsche Blondinen usw. Wobei: Wenn russische Männer russische Frauen vergewaltigen, die Russen also sozusagen unter sich bleiben, ist das erlaubt. Das schließe ich aus der FSK-Freigabe für Weiße Sklaven (1936) von Karl Anton, der sich im Dritten Reich großer Beliebtheit erfreute. (Könnte es sein, dass bei dieser Freigabe noch das alte Gedankengut der Nazis fortwirkte, die - siehe Friesennot - die Abstammung als einziges Kriterium gelten ließen?)

Weiße Sklaven

Weiße Sklaven erzählt dieselbe Geschichte von der Unmenschlichkeit der Bolschewiken wie Friesennot - nur zeitlich ein oder zwei Jahre nach hinten verlegt, mit anderem Schauplatz, anderem Personal und viel wüster (deshalb auch viel unterhaltsamer). Camilla Horn, als Gretchen in Murnaus Faust in die Filmgeschichte eingegangen, spielt die schöne Maria, Tochter des Gouverneurs von Sebastopol. Sie träumt von einer Zukunft an der Seite des schneidigen zaristischen Marineoffiziers Graf Kostja Wolgoff, als die Revolution ausbricht. Das von den Kommunisten angerichtete Gemetzel ist so schrecklich, dass der Gouverneur den Verstand verliert. Vergewaltigt, gefoltert und ermordet werden alle, auch die Zivilbevölkerung. Maria und ihr nun debiler Vater finden Unterschlupf in einem Bordell, wo die schöne Aristokratin unter anderem mit ihren Sangeskünsten überzeugt (sie singt Peter Kreuders "Wenn die Sonne hinter den Dächern versinkt"), während die Kommunisten nichts auslassen, um zu demonstrieren, wie schlimm sie sind. Der Filmtitel sagt schon alles.

Boris, der Anführer der Revolutionäre, war früher der Kammerdiener des Gouverneurs. Mit fortlaufender Handlung verstärkt sich der Eindruck, dass er nur Kommunist geworden ist, um die von ihm begehrte Maria in seine Gewalt und in sein Bett zu kriegen (ein Säufer ist er auch). Das verhindert Graf Kostja, der die Konterrevolution leitet. Kostja und seine Leute erobern den zu Beginn von den Kommunisten übernommenen Panzerkreuzer zurück, mit dessen Kanonen der Gouverneurspalast beschossen wird (Weiße Sklaven ist wie Friesennot einer von den Filmen, mit denen Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin beantwortet werden sollte). Schließlich fahren Maria und Graf Kostja mit dem Panzerkreuzer gen Westen. Sie haben jetzt keine Heimat mehr, weil Russland von den mörderischen Kommunisten beherrscht wird. Die letzten Sätze des Films sind programmatisch: "Unser Schicksal droht der ganzen Welt. Wehe den Völkern, die diese Gefahr nicht sehen."

Boguslaw Drewniak zufolge (Der deutsche Film, 1938-1945) lief Weiße Sklaven von seiner Uraufführung am 5. Januar 1937 bis zum August 1939 ununterbrochen irgendwo im Deutschen Reich. Noch am Vorabend der Unterzeichnung des Hitler-Stalin-Pakts zeigte ihn die Gaufilmstelle Königsberg bei einer Freilichtveranstaltung mit verbilligtem Eintritt (Erwachsene zahlten 50 Pfennig). Danach wurde er wie Friesennot aus dem Programm genommen, um nach dem Überfall auf die Sowjetunion wieder eingesetzt zu werden, diesmal unter dem Titel Rote Bestien. Würde Weiße Sklaven zum Rechtebestand der Murnau-Stiftung gehören, wäre er heute vermutlich ein Vorbehaltsfilm. Doch für diese Produktion der Lloyd-Film GmbH (Berlin) ist die Stiftung nicht zuständig. In den 1950ern wurde eine FSK-Freigabe beantragt und gegen geringe Schnittauflagen gewährt (ab 16). Damals änderte Karl Antons wüster Propagandafilm ein weiteres Mal seinen Namen. Er heißt jetzt Panzerkreuzer Sebastopol.

Solche Freigaben scheinen der Logik zu folgen, dass einstige antibolschewistische Propagandafilme mit Deutschen weiterhin gefährlich sind, antibolschewistische Hetzfilme mit rein russischen Figuren aber nicht. Das ist doch ziemlich absurd. Ich fordere nicht, dass Weiße Sklaven ebenfalls verboten wird. Es gibt eine Alternative: Man könnte sich von der - pardon! - reichlich naiven Vorstellung verabschieden, dass jemand 2010 zum Russenhasser wird, weil er in einem alten Nazischinken sieht, dass Kommunisten geile Säufer sind und immer blonde Frauen vergewaltigen wollen. Dann könnten wir uns die ganze Verbieterei womöglich sparen.

Bis dahin soll mir niemand erzählen, dass hierzulande "verantwortungsbewusst" mit dem Filmerbe der NS-Zeit umgegangen wird, wenn Friesennot verboten ist, Weiße Sklaven aber nicht. Oder soll uns ein solches Verbot vor Langeweile schützen? Weiße Sklaven ist eindeutig spannender. Wer also Friesennot gern sehen möchte, nur besser und mit dem Segen der FSK, dem rate ich zu Panzerkreuzer Sebastopol, Karl Antons "Kampffilm gegen den Bolschewismus". Man erfährt da viel darüber, wie unsere Großeltern und Urgroßeltern auf den Eroberungskrieg im Osten eingestimmt wurden. Falls solche NS-Propagandafilme heute noch eine Wirkung haben, ist sie vielleicht hier zu finden. Die Frage ist: Was von der Hetze blieb bei unseren Großeltern haften, wie gaben sie es an unsere Eltern weiter, und was kam schließlich bei uns an? Eine Antwort werden wir nur finden, wenn wir die Filme kennen.

Weitere bereits erschiene Folgen der Serie "Das Dritte Reich im Selbstversuch":

Teil 1: Hitlerjunge Quex
Teil 2: Hans Westmar - Ein deutsches Schicksal
Teil 4: Nicht ohne die Gestapo, oder auch: Ich will meine Mutter wiederhaben!
Teil 5: Ritt in die Freiheit
Teil 6: Die Russen kommen! Aber wo?
Teil 7: Verräter und Unternehmen Michael
Teil 8: Robert und Bertram und Die Rothschilds
Teil 9: Fälschung und Entartung im NS-Kino
Teil 10: Gefahr aus dem Bierkeller
Teil 11: "Es wird ein Signal, ein Weckruf sein!"
Teil 12: "Feinde" und "Heimkehr"
Teil 13: "… reitet für Deutschland"