Die Griechen in der Falle

Athener Hotels werden anlässlich von Streikdemonstrationen regelrecht verbarrikadiert. Zu tief sitzt die Angst vor Aussschreitungen. Alle Bilder: © Wassilis Aswestopoulos

Während um Hilfe für das vor dem Bankrott stehende Griechenland gerungen wird, beherrschen Zerrbilder die Stimmungslage

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

In der Bevölkerung Europas herrscht Sorge um den Euro und um das soziale und wirtschaftliche Überleben. In ganz Europa? Nein, ein Teil der Europäer beschäftigt sich mit anderen Dingen. Spekulanten sichern sich auch in Krisenzeiten den Profit, Politiker bemühen sich um ihr öffentliches Ansehen und die Medien suchen nach interessanten Schlagzeilen. Wenn Spekulanten, Politiker und Medien zusammen arbeiten, dann wird das Volk von seinen wahren Sorgen kurzfristig abgelenkt und streitet sich munter mit anderen Völkern.

Deutsch-griechische Missverständnisse

Derzeit herrscht viel Aufruhr im Verhältnis zwischen Deutschen und Griechen. Der aktuelle Grund für die zwischenstaatlichen Streitereien ist auf den ersten Blick die desolate griechische Haushaltslage und dessen Folgen für die gemeinsame europäische Währung, den Euro. Leider ist die griechische Finanzkrise nur die Spitze eines europäischen Finanzeisbergs.

Außer den Griechen sind bekanntlich auch weitere Südeuropäer, die Portugiesen, Spanier und Italiener, sowie als Vertreter des Nordens die Iren in der Währungszwickmühle gefangen. Generell werden diese in den Medien der nordeuropäischen Staaten als PIIGS-Staaten bezeichnet. Mit diesem Wortspiel soll offensichtlich auf die der Krise zu Grunde liegenden Finanztricks, vulgo Schweinereien, hingewiesen werden.

Eine Sortierung gemäß der dramatischen Haushaltslage der Betroffenen hätte ebenso die Abkürzung "GIPSI" erlaubt. Das allerdings kollidiert mit den Regeln der "political correctness". Ist es aber politisch korrekt, ganze Staatenregionen mit Schweinen zu assoziieren? Muss man sich dann über mediale Revanchefouls, Zorn und Boykottaufrufe wundern? Haushalten die Nicht-PIIGS-Staaten solider oder sind andere "hellenisierte" Statistiken schlicht geschickter kaschiert?

Eine intensive, aber meist überzogene Berichterstattung über streikende Griechen, fliegende Molotowcocktails in Athen und verzweifelte hellenische Premiers hilft, von den Problemen der lediglich augenscheinlich solide finanzierten nordeuropäischen Industrienationen abzulenken.

Fakelaki, Sirtaki und das Zerrbild europäischer Medien

Ein weiterer Nebeneffekt aktueller Medienberichte ist das Erlernen fremder Fachbegriffe. Die in Hellas verbreitete Korruptionsmethode, das "Fakelaki" (Briefumschlag mit Geld für bestechliche Beamte), ist nun genauso bekannt wie Gyros, Tsatziki, Sirtaki, Alexis Zorbas und Retsina.

Wissen ist gut, Halbwissen oft gefährlich. Wer auf einem griechischen Amt das Wort "Fakelaki" ausspricht, landet wegen seines plumpen Bestechungsversuchs schnell hinter schwedischen Gardinen. Über Fakelaki spricht man tunlichst nur abseits öffentlicher Einrichtungen.

Beamte verlangen je nach Arbeitsgebiet entweder ein "Grigorosimo" (eine Beschleunigungsbriefmarke) oder sie jammern über die steigenden Kosten für den Lebensunterhalt und den nahenden Geburtstag eines Familienangehörigen. Meist erfährt der Bürger dabei beiläufig den Preis des "Geburtstagsgeschenks" und erhält somit einen dezenten Hinweis auf das erwartete Schmiergeld.

Verfälschte Berichte als Futter für hellenische Propaganda

Griechische Medien greifen übertriebene Berichte gern auf. Durch geschicktes Zitieren wird deren Inhalt so verfremdet, dass er in das begehrte Inlandsklima passt. Nachrichtensendungen berichten tagtäglich in dramatisierter Form über die drohenden Einschnitte für griechische Durchschnittsbürger. Begleitet werden diese geradezu terrorisierenden Reportagen und Analysen von Hinweisen auf das paradiesische Leben der übrigen Europäer. Diese könnten u.a. ein staatliches Bildungssystem genießen, dass nicht durch privaten Nachhilfeunterricht ergänzt werden muss. Die Deutschen hätten ein soziales Netz, das es Arbeitslosen gestatte, ohne Belastung von Familienangehörigen oder Freunden zu überleben. Es gäbe gar eine funktionierende öffentliche Gesundheitsversorgung.

An den aktuellen Athener Streiks beteiligen sich auch Geistliche...

All dies würde auch durch die finanzielle Ausbeutung von Staaten wie Griechenland finanziert. Die Euroeinführung habe zwar eine Wechselkursstabilität gebracht, aber weder die Inflation begrenzt noch zu einer Angleichung der griechischen Gehälter an das europäische Niveau geführt.

...und sogar Polizisten

Das böse Ausland, so tönt es tagaus tagein, habe sich zusammen mit Spekulanten gegen die Griechen verschworen. Die hohen Herren der EU würden gemeinsam mit den übrigen europäischen Staatschefs massiv in die hellenische Souveränität eingreifen. Dabei würde die Regierung um Giorgos Papandreou geradezu heldenhaft für die Belange der Griechen kämpfen.

Anders kann der Premier seine Sparmaßnahmen und Steuererhöhungen nicht vermitteln. Schließlich hatte Papandreou den Wahlkampf im Herbst 2009 mit den Parolen Wir wissen, wo das Geld ist und "Der Bürger zuerst" gewonnen. Innerhalb von knapp sechs Monaten hat es die frische PASOK-Regierung geschafft, alle Wahlversprechen zu brechen. Ihr gegenüber steht eine hilfslose Opposition.

Von Europa und den eigenen Regierungen betrogen?

Die jüngst abgewählte Nea Dimokratia ist noch zu sehr als aktuelle Hauptschuldige an der Etatmisere gebrandmarkt. Die Kommunisten schwelgen immer noch im Stalinismus und das linke Sammelbündnis SYRIZA sucht verzweifelt nach einer einheitlichen Linie. Die rechtspopulistische LAOS pendelt zwischen einer mit Patriotismus begründeten Zustimmung für die unpopulären Sparmaßnahmen der Sozialisten und einer totalen Ablehnung der Asylantenpolitik der Regierung. Schätzungsweise zwei Millionen Asylsuchende befinden sich in Griechenland. Ein großer Teil von ihnen wird demnächst eingebürgert. Erst mit dem Europapass können die augrund der EU-Asylgesetzgebung festsitzenden Asylbewerber in das ersehnte Nordeuropa abwandern.

Alle Parteien geben zu, dass die derzeitige Misere weitgehend hausgemacht ist. Die bisherigen Regierungen haben mit Unterstützung ihrer Lobbyisten und mit stillschweigender Duldung der EU das einst stolze Hellas systematisch heruntergewirtschaftet, so der allgemein akzeptierte Duktus.

Selbst durch derzeit aufgrund der reformierten Einbürgerungsgesetzgebung begünstigten Asylanten sehen in den Regierungssparplänen eine soziale Bedrohung. Hier die Demonstationsgruppe aus Bangladesh

Die an diesen Machenschaften beteiligten Politiker haben entweder sich oder ihren Freundeskreis recht gut bereichert. Dies ist mittlerweile allseits bekannt, auch in der EU-Kommission. Eine Bestrafung der Täter ist in Griechenland selbst aber nicht mehr möglich. Denn ein von den beiden sich abwechselnden Regierungsparteien verfassungsgemäß verankertes Gesetz garantiert den politisch verantwortlichen Personen die Straffreiheit. Dass dieses Gesetz offensichtlich dem europäischen Rechtsnormengedanken widerspricht, scheint in der EU niemanden zu interessieren.

Durch die Straffreiheit für korrupte Politiker ist leider auch das Rechtsverständnis der übrigen Bürger stark verzerrt. Die Toleranz der Kommission in dieser Frage erscheint gesetzestreuen griechischen Bürgern befremdlich. Sie fühlen sich doppelt betrogen.

Fakt ist, dass die Staatsgelder weg sind. Tatsache ist auch, dass gerade internationale Rüstungsunternehmen und auch der deutsche Multikonzern Siemens bisher nicht schlecht an den Hellenen verdient haben. Dabei wurden natürlich sehr oft, falls nicht immer, Fakelaki verwendet. Den Preis der Korruption zahlten aber weder die Käufer noch die Verkäufer, er wurde beim griechischen Steuerzahler eingetrieben.

Nun drängt die EU-Kommmission abermals zur Abschröpfung der Steuerzahler. Griechenland habe über seine Verhältnisse gelebt, heißt es. Für viele Griechen klingt dies wie Hohn. Als Angehörige der "Generation 700 Euro" verdienen viele Akademiker selbst mit Überstunden kaum mehr als 700-800 Euro pro Monat. Dem gegenüber stehen im Vergleich zu Deutschland stark überhöhte Preise für Lebensmittel, Möbel, Dienstleistungen, kommunale Abgaben und seit Verabschiedung der jüngsten Steuererhöhungen auch für Benzin.

Bizzarr für Fremde erscheinen allgegenwärtige Grillbuden, die den Demonstrationen einen Volksfestcharakter verleihen.

Vom Wirtschaftswachstum der letzten Jahre konnten die Arbeitnehmer kaum profitieren. Sie sollten sich gedulden, bis Griechenlands Wirtschaft wettbewerbsfähig sei. Damit wurden sämtliche Forderrungen von Gewerkschaften bisher in eine angeblich nahe Zukunft verschoben. Der Lebensunterhalt der working poor people musste über Kreditkarten finanziert werden. Es ist nachvollziehbar, dass die Zugehörigkeit zur Klasse der arbeitenden Armen besonders jene betrifft, die weder über die notwendigen Beziehungen im nepotistischen System verfügen, noch am Fakelaki-System teilnahmen.

Logisch erscheint daher, dass nun die internationale, meist beleidigende Berichterstattung über "betrügerische Pleitegriechen" insbesondere die gesetzestreuen Bürger erzürnt.

Aus Europa gibt es gegen Geld nur warme Worte und kostenlosen Spott

Jetzt, in mitten einer nicht nur finanziellen Krise, werden die Griechen abermals mit Forderungen aus dem Ausland konfrontiert. Der im Ausland um Hilfe flehende Premier Papandreou erhält neben den euphemistisch als "politische Unterstützung" getarnten warmen Worten seiner europäischen Amtskollegen oft die Aufforderung, Rüstungsgüter zu ordern. Selbst wenn man dem Regierungschef guten Willen zu sinnvoller Politik zuschreiben möchte, kann er unter den gegebenen Bedingungen nur scheitern.

Brennende Abfalleimer dienen zum Schutz vor Reizgas. Oft stecken Anwohner sie in Brand.

Zu bestellen sind Fregatten aus Frankreich für 2,5 Milliarden Euro und Eurofighter für etwa 3 Milliarden Euro aus Deutschland. Die dafür erforderlichen Gelder übersteigen das aktuelle, sozial absolut unverträgliche Sparpaket der Regierung Papandreou.

Insgesamt 4,8 Milliarden Euro möchte der griechische Finanzminister durch eine Erhöhung der Verbrauchssteuern, Lohnkürzungen von effektiv 14% und die Einführung neuer "Luxussteuern" einsparen. Das Motto der Regierung: "Sparen, Sparen, Sparen und immer an den Stabilitätspakt denken" lässt keinen Raum für dringend notwendige Strukturmaßnahmen zur Wiederbelebung der Wirtschaft. Die jüngsten Regierungsmaßnahmen stoßen daher in der Bevölkerung auf harten Widerstand. Es ist voraussehbar, dass das Land von einer wochenlangen Streikwelle erschüttert werden wird.

Ein von vielen erwartetes und offensichtlich erforderliches europäisches Hilfspaket, das zumindest die Kreditzinsen der angeschlagenen Wiege der Demokratie senken könnte, ist immer noch nicht gesichert. Seit Monaten schon feilt die EU-Kommission an einer Lösung, die außer der Zustimmung der Eurozonenstaaten auch noch auf das Votum der übrigen EU-Mitglieder angewiesen ist.

Eine Kettenreaktion bedroht Europa

Hellas befindet sich in einem wirtschaftlichen Teufelskreis. Streiks, die einzige "Waffe" des Widerstands für Arbeitnehmer, schmälern das sinkende BIP noch mehr. Der auch nach Meinung der meisten europäischen Politiker sozial brisante Sparkurs der Regierung wird aller Voraussicht nach deshalb scheitern.

Gleichzeitig sind nun nach dem griechischen Staat auch die griechischen Banken ins Visier der internationalen Rating-Agenturen gelangt. Bereits vor der Vorstellung der hellenischen Sparpläne gab es eine massive Abwertung der Kreditwürdigkeit für die vier größten Geldhäuser. Höhnisch erscheint daher die vorgeblich positive Reaktion eben dieser Rating-Agenturen auf den Sparkurs. Denn gleichzeitig zur den positiven Worten für die hellenische einseitige Abwertung der Binnenkaufkraft gab es Verkaufsempfehlungen für griechische Bankaktien. Ein Schelm, wer dies für einen Zufall und nicht für eine sich selbst erfüllende Prophezeiung hält.

Aggression herrscht in der Regel zwischen vermummten Autonem und der Polizei. Gerade diese Gruppen werden oft und gern von ausländischen Berichterstattern fotografiert.

Wenn aber Griechenland als wirtschaftlich schwächster EU-Staat wirklich bankrott geht oder wenn die griechischen Banken weiter unter Druck geraten, dann ist eine europäische Kettenreaktion wahrscheinlich. Neben den unmittelbaren Nachbarstaaten würden auch nordeuropäische Staaten in eine Rezessionsspirale gelangen.

Ein derartiger Abwärtssog würde mit ziemlicher Sicherheit die wirtschaftlichen Fehler in der gesamten EU offen legen. Der Journalist Frank Thewes bemerkte dazu in der Printausgabe des Focus vom 1.03.2010 "Sind wir nicht alle Griechen?", dass nahezu alle EU-Staaten, auch Deutschland, mehr oder weniger eine griechische Statistikdiät betreiben. Trotz solcher, durchaus sachlicher Artikel und ungeachtet der Rolle des Focus bei der Aufdeckung des Siemens-Schmiergeld Skandals gilt ein Focus Titel Auslöser der jüngsten Eskalation.

Ein Bild wirkt stärker als tausend Worte

Der Focus hatte als Titelbild zu seiner Griechenland Story ein via Photoshop verändertes Bild der Aphrodite von Milo gewählt (in Deutschland als Venus bekannt). Dazu titelten die Münchner "Betrüger in der Eurozone". Für die des Deutschen nicht mächtigen Griechen, die darüber hinaus keine Kenntnis des das Titelbild begleitenden und erklärenden Artikels hatten, war dies zu viel. Der "Betrüger"-Vorwurf wurde von hellenischen Medien auf kollektiv alle Griechen übertragen.

Der angesammelte Ärger fokussierte sich unter tätiger Mithilfe von Politik und Medien auf das deutsche Nachrichtenmagazin. Dies, so hieß es in Fernsehsendungen, sei von der deutschen Regierung gesteuert. Die Griechen glaubten dies, wissen sie doch, dass all ihre einheimischen Medien mehr oder weniger von Interessengruppen kontrolliert werden.

Die bis dato technokratische Debatte wurde auf eine emotionale Ebene verlagert. Geschichtlich verankerte Ressentiments gegen fränkische Kreuzfahrer, kaiserliche Truppen und Nazis wurden aufgewärmt. Die deutsche Boulevardpresse erhielt dadurch ebenfalls neues Schlagzeilenfutter. Ein Europa der Bürger sieht anders aus. Parallel zu deutsch-griechischen Medienkriegen fanden analoge englisch-griechische Pressescharmützel statt.

Statt die Ursachen der Krise der gemeinsamen Währung zu suchen, beherrschen nun Stammtischparolen die europäische Politik. Frei nach der Bibel hatten Europas Technokraten einst beschlossen: "Auf, lasst uns eine einheitliche Währung schaffen, die härter ist als alle anderen. Auf dass wir damit die globale Wirtschaft beherrschen." Der Euro-Bau zu Brüssel begann leider ohne ein gemeinsames Fundament einer gemeinsamen solidarischen Wirtschaftspolitik.

Als direkt Betroffene erwarten die Griechen von der EU keinen Ablass für die Sünden ihrer Politiker, sondern wirksame Hilfe bei der erforderlichen Strukturreform. Eben dies wird auch von den medial als "faule Griechen" bezeichneten Streikteilnehmern gefordert. Sollte so etwas endlich eingeleitet werden und auch gelingen, dann könnte die aktuelle Krise tatsächlich eine Chance für eine bessere Zukunft sein.