Lehman-Pleite: Die Behörden wussten alles

Die US-Aufsichtsbehörden und der jetzige US-Finanzminister Tim Geithner waren schon lange voll über die Schieflage informit und hatten dies der Öffentlichkeit bewusst vorenthalten

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Der Bericht des Konkursgerichts zur Lehman-Pleite (Was führte zur Lehman-Pleite?) könnte für den amtierenden Finanzminister noch unangenehme Folgen haben. Denn selbst wenn man ihm zugute halten mag, dass es den Kollaps des globalen Finanzsystems vielleicht beschleunigt hätte, hätte er Lehman gezwungen, in offiziellen Statements die ihm bekannte Wahrheit preiszugeben. Durch die Unterlassung wurden Investoren und Kreditgeber massiv geschädigt, ohne das System letztendlich retten zu können – was für einen amtierenden US-Finanzminister auch bei rechtlicher Irrelevanz einen Rücktrittsgrund darstellen sollte.

Wie aus dem Bericht (ab Seite 1482) von Anton R. Valukas hervorgeht, war Lehman Brothers spätestens nach dem Zusammenbruch der Wall Street Investmentbank Bear Sterns im Frühjahr 2008 (Fed rettet Bear Sterns) zum am schärfsten überwachten Finanzhaus der USA geworden. Nach eigenen Angaben waren Fed-Chairman Ben Bernanke und Timothy Geithner, damals Chairman der New Yorker Fed-Filiale, sowie der damalige Finanzminister Henry Paulson und Christopher Cox, damals Chairman der US-Börsenaufsicht SEC, davon überzeugt, dass nun Lehman das am stärksten gefährdete Finanzhaus wäre – das unter anderem gestützt auf nur den Behörden zugängliche Daten.

Und allesamt hatten sie zwar mehr oder weniger eindringlich von Lehman-Chef Dick Fuld verlangt, dass Lehman frisches Eigenkapital hereinnehmen bzw. eine strategische Partnerschaft mit einem stärkeren Geldhaus eingehen müsse. Jedoch schrieb keine der dazu berechtigten Behörden Lehman direkte Maßnahmen vor oder informierte auch nur die Öffentlichkeit, dass in den Büchern der Investmentbank einiges nicht stimme und dessen Lage wesentlich schlechter war, als öffentlich zugegeben.

Das einzige, was die Behörden unternahmen, war eine Verschärfung der Aufsicht, so dass sowohl die SEC als auch die Federal Reserve Bank von New York (FRBNY) ab März 2008 nicht nur tägliche Statusberichte verlangten und erhielten, sondern auch eigene Teams direkt im Hauptquartier der Investmentbank einquartiert hatten, die direkten Real-time-Zugang zu allen Vorkommnissen im Tagesgeschäft erhielten.

Die Hauptzuständigkeit lag dabei bei der SEC ("Securities and Exchange Comission"), die Lehman im Rahmen ihres "Consolidated Supervised Entities" ("CSE")-Programms überwachte. Dieses Programm war von der SEC etabliert worden, nachdem die EU 2003 eine Direktive erlassen hatte, wonach alle innerhalb der EU tätigen Finanzkonglomerate entweder von EU-Regulatoren oder von einer gleichwertigen ausländischen Instanz reguliert werden müssten. In den USA hatte der Gramm/Leach/Bliley Act von 1999 jedoch ein regulatorisches Vakuum hinterlassen und dazu geführt, dass systemisch relevante Geldhäuser wie Lehman auf Holdingebene keiner umfassenden öffentlichen Aufsicht unterlagen, sondern nur noch auf der Ebene ihrer operativen Töchter. Daraufhin hätten sich die US-Investmentbanken zwangsläufig der Aufsicht der EU unterwerfen müssen, was an der Wall Street offenbar nicht sonderlich gefragt war.

Die SEC etablierte 2004 daher das "Consolidated Supervised Entities" ("CSE") - Programm dem sich Brokerhäuser wie Lehman nun "freiwillig" unterwarfen. Im Gegenzug wurde ihnen eine Ausnahme von der "Net Capital Rule" eingeräumt, die von Brokerhäusern bis dahin verlangt hatte, dass sie ihren Wertpapierbestand je nach Risiko mit Eigenkapital unterlegen mussten, was ihr Leverage (das Verhältnis der Bilanzsumme zum Eigenkapital) auf das Zwölf- bis Fünfzehnfache limitierte. Unterwarfen sich die Broker hingegen der CSE-Regulierung, konnten sie ihr Leverage bis zum 40-Fachen anheben, so dass die damals noch unabhängigen Wall Street-Giganten Goldman Sachs, Morgan Stanley, Bear Stearns, Merrill Lynch und Lehman Brothers allesamt der CSE -Regulierung beitraten.

Wie der damalige SEC Chairman Cox dem Congress erklärt hatte, sei es der Zweck des CSE Programms, "zu überwachen und schnell zu handeln, sollten finanzielle oder operative schwächen einer CSE Holding regulierte Unternehmen oder das Finanzsystem als Ganzes in Gefahr bringen" – was dann freilich nicht geschah.

Lehman hatte sich dem Programm 2005 unterworfen und war laut SEC immer "hoch kooperativ", so dass die Regulatoren stets "alles erhielten, wonach sie gefragt hatten". Bereits vor dem Bear Sterns Debakel führte die SEC Vorort-Inspektionen durch und beobachtete dabei vor allem die Liquidität und die Zusammensetzung des "Liquiditäts-Pools" der Investmentbank.

Dieser "Pool" stand auch im Zentrum der Aufsicht, die die FRBNY ab März 2008 auszuüben begann, nachdem sie aufgrund der Fast-Pleite von Bear Sterns das PDCF ("Primary Dealer Credit Faculity")-Programm ins Leben gerufen hatte. Denn das PDCF räumte Investmentbanken wie Lehman Zugang zu ihrem "Discount Window" ein, das zuvor nur den Geschäftsbanken offen stand und bei dem die Notenbank gegen volle Sicherheitsleistung und relativ hohe Zinsen kurzfristige Kredite (zuerst nur "Overnight", in der Krise dann für bis zu 30 Tage) zur Verfügung stellt.

Wie sich Geithner gegenüber Valukas rechtfertigte, überwachte die FRBNY Lehman dann allerdings nicht als "Regulator", sondern als Kreditgeber. So wie die SEC entsandte sie jedoch Mitarbeiter direkt zu Lehman, die ebenfalls vollen Zugang zu allen Daten sowie Echtzeit-Informationen zur Liquiditätslage der Bank erhielten und offenbar so gut über die tatsächliche Situation der Bank informiert waren, wie der Lehman-Vortstand selbst.

Während einige FRBNY-Kontrollore später gegenüber Valukas aber die Fachkompetenz der Vorort eingesetzten SEC-Regulatoren anzweifelten, dürfte auch der Informationsaustausch zwischen SEC und FRBNY nicht optimal funktioniert haben. Jedenfalls vereinbarten Cox und Bernanke auf höchster Ebene ein "Memorandum of Understanding", das ab Juli wirksam wurde und im Wesentlichen daraus bestand, dass jede Institution der anderen alle Daten und Analysen zu übermitteln habe, welche diese anfragen sollte. Dieser Informationsaustausch erstreckte sich aber offenbar nicht auf Lehmans Liquiditätspolster, dessen Verschleierung nun Geithners aktuelle Position gefährden könnte. Denn dieser "Liquiditäts-Pool" war seit dem Ausbruch der Finanzkrise im Sommer 2007 für Ratingagenturen, Analysten und insbesondere potentielle Kreditgebern zur wichtigsten Information geworden, um die kurzfristige Überlebensfähigkeit Lehmans einzuschätzen.

Laut einer SEC-Richtlinie vom März 2008 durfte dieser Pool nur hochliquide Finanzanlagen umfassen, die unbelastet sein mussten und von der Bank "üblicherweise innerhalb von 24 Stunden" zu Geld gemacht werden könnten. Während die SEC aber bereits 2005 einige Bestandteile als zweifelhaft angesehen und von Lehman verlangt hatte, sie aus dem Pool zu entfernen, hatte sie ihren Standpunkt 2008 offenbar verändert. So stellte die FRBNY im Sommer 2008 fest, dass Lehman in diese damals mit mehr als 40 Mrd. Dollar bezifferte Liquiditätsreserve Bestände integriert hatte, die längst an andere Banken verpfändet oder nur mit hohen Verlusten verkäuflich waren, bei der SEC dürften indes alle dahingehenden Hinweise schlichtweg ignoriert worden sein.

Betroffen waren indes vor allem Wertpapiere, die Lehman an Banken wie JP Morgan, Citi Group, Bank of Amerika, HSBC oder Bank of New York Mellon als Sicherheiten übereignet hatte, damit diese Lehmans Repo- oder Derivativ-Geschäfte abwickelten. Lehman-Vorstände rechtfertigten dies gegenüber Valukas später damit, dass diese nur während des Tages verpfändet waren und am Abend, nachdem das Tagesgeschäft abgewickelt war, wieder an Lehman übereignet wurden. Sie mussten aber eingestehen, dass, hätte Lehman diese Sicherheiten zurückverlangt, sie entweder von deren für Lehman überlebenswichtigen Dienstleistungen ausgeschlossen worden wären oder "ein offener Krieg" ausgebrochen wäre.

Desinformation und Verschleierung

Nachdem die FRBNY also die Schwächen im Liquiditätspool zweifelsfrei festgestellt und "mangels Zuständigkeit" keine Maßnahmen ergriffen hatte, gab sie diese Einsicht aber auch nicht an die SEC weiter, die von Amtswegen Lehman zu wahrheitsgemäßen Angaben hätte zwingen müssen. Nun konnte Valukas zwar nicht zweifelsfrei nachweisen, dass auch die SEC über den tatsächlichen Sachverhalt informiert war, allerdings bezeichneten FRBNY- Mitarbeiter diesen Sachverhalt als kaum übersehbar. In ihren internen Einschätzungen bereinigte die FRBNY diese Positionen also auf realistischere Summen, wirkte laut Valukas aber ebenso wenig wie die SEC auf Lehman ein, in Quartalsberichten und sonstigen öffentlichen Äußerungen wahrheitsgemäße Angaben zu machen – wobei der zuständige Prüfer der FRBNY nach eigenen Angaben auch Geithner von diesen Fakten in Kenntnis gesetzt hatte.

Nicht informiert wurde jedenfalls die Öffentlichkeit. Viel mehr dürfte sich die SEC nun gemeinsam mit FRBNY und Finanzministerium intensiv und bewusst in der Verschleierung der unschönen Fakten geübt haben. Denn neben den Problemen mit dem Liquiditätspool war den Behörden inzwischen längst bekannt, dass Lehman auch seine illiquiden Aktiva teilweise zu Mondpreisen bewertet hatte. Die Behörden hatten Lehman auch einen Stresstest verordnet, der aus einem neuerlichen Bear-Sterns-Szenario und einem Bear-Sterns-"light"-Szenario bestanden hatte. In beiden Fällen fiel Lehman durch, wobei für ersteres ein zusätzlicher Liquiditätsbedarf von 85 Mrd. USD und im light-Szenario ein Bedarf von 15 Mrd. USD eruiert wurde. Daraufhin durfte Lehman einen "eigenen" Stresstest durchführen, den es dann auch tatsächlich bestand. Das wurde dann öffentlich kommuniziert, ohne freilich darauf hinzuweisen, dass Lehman nur den eigenen, maßgeschneiderten Test bestanden hatte.

Damit nicht genug sorgten auch zwei weitere Berichte dafür, dass an der bereits eingetretenen Insolvenz von Lehman behördenintern kaum noch Zweifel bestehen konnten. So hatte Senator Charles E. Grassley am 2. April 2008 bei der Senats-Aufsicht der SEC einen Bericht geordert, der deren Aufsicht über die Investmentbanken analysieren sollte und im Sommer in einer vorläufigen Version in Umlauf kam und im Finanzministerium, SEC und der Fed zirkuliert hatte. Auch dieser Bericht zeigte nun zwar neuerlich massive Probleme auf, bewirkte jedoch keinerlei Änderung in der Vorgangsweise der Behörden.

Nicht zuletzt hatte aber auch das Finanzministerium über die öffentliche "Sparkassenaufsicht" direkten Zugang zu Lehman, da Lehman auch eine in deren Zuständigkeitsbereich fallende Tochterbank umfasste. So hatte eine Abteilung des Finanzministeriums, das "Office of Thrift Supervision" (OTS) im Juli 2008 einen sehr kritischen Report über das Risikomanagement von Lehman erstellt, der nicht nur die längst auch von SEC und FRBNY festgestellte bilanzielle Überbewertung von illiquiden Assets feststellte, sondern auch dass Lehman interne Risikoregeln gebrochen und wesentlich höhere Wetten auf den US-Geschäftsimmobilienmarkt abgeschlossen hatte, als seine größeren Konkurrenten.

Demgegenüber konnte die ahnungslose Öffentlichkeit angesichts der bekannt gemachten intensiven Prüftätigkeit durch SEC und FRBNY jedoch davon ausgehen, dass die von Lehman gemachten Angaben weitgehend zutreffend sein würden. Wer daran von Anfang an nicht geglaubt hatte, waren offenbar die "Short-seller", denen von Fuld später die Schuld am Zusammenbruch in die Schuhe geschoben wurde. Denn diese hatten den Aktienkurs mit Leerverkäufen in Grund und Boden gestampft und von Anfang an – das sicherlich auch, um ihre Strategien zu unterstützen – massive Zweifel an den Angaben von Lehman geäußert. Obwohl sich ihre Befürchtungen letztendlich jedoch allesamt bestätigt hatten, gelten sie heute als böse Spekulanten und als wichtigste Verursacher der Krise. Tatsächlich dürften sie aber die Einzigen gewesen sein, die tatsächlich eine Art von Kontrollfunktion wahrgenommen hatten, zu der die zuständigen Behörden offenbar nicht bereit waren.