Der ganz normale Einzelfall

Die mutmaßlichen Misshandlungen des Milliardenbetrügers Bernard Madoff rufen in Erinnerung, dass Folter und Gewalt in Gefängnissen nicht nur im Film, sondern auch in der Realität zum Alltag gehören

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Nach Informationen des Wall Street Journal wurde der amerikanische Anlagebetrüger Bernard L. Madoff am 18. Dezember nicht, wie ursprünglich gemeldet, wegen Bluthochdruck und Schwindelgefühlen in den Krankenhaustrakt der Haftanstalt von Butner in Nordcarolina verlegt, sondern wegen einer gebrochenen Nase, mehreren Rippenfrakturen und Schnittwunden am Kopf. Beigebracht haben soll im diese Verletzungen ein Mitgefangener.

Dass der Börsenmakler, den ein New Yorker Gericht im Juni letzten Jahres zu einer Gefängnisstrafe in Höhe von 150 Jahren verurteilte, weil er über ein Schneeballsystem etwa 4.800 Anleger um insgesamt rund 65 Milliarden Dollar geprellt hatte, neben Knochenfrakturen auch Schnittwunden im Gesicht davontrug, deutet darauf hin, dass er nicht nur verprügelt, sondern auch gefoltert wurde. Angeblich ging es bei der Auseinandersetzung, bei der dem Opfer die Verletzungen zugefügt wurden, um Geld. Doch obwohl amerikanische wie auch deutsche Boulevardmedien den Vorfall teilweise mit einem höhnischen Unterton schilderten, gibt es keine Anhaltspunkte, dass Madoff den Täter betrog. Genauso gut möglich ist, dass der Mann grundlos Geld von ihm forderte - was der Börsenmakler entweder nicht geben konnte oder wollte.

Bernard Madoff. Foto: U.S. Department of Justice

Traci Billingsley, die Sprecherin der Gefängnisverwaltung, meinte zu den Vorwürfen, dass Madoff im Dezember selbst angegeben habe, er wäre nicht angegriffen worden. Auch kein anderer Gefangener habe den Aufsehern von solch einem Vorfall berichtet. Darüber hinaus sei der vom Wall Street Journal geschilderte Tathergang "nahezu unmöglich", weil der Beschuldigte in einem ganz anderen Zelltrakt untergebracht sei, der zudem nachts abgeschlossen würde. Allerdings gilt diese Einschränkung nicht tagsüber, wo eine Dienstanweisung regelt, dass Insassen ihre Bereiche sowohl mit einem Pass als auch zu den Mahlzeiten verlassen dürfen. Um sich nicht noch weiteren Repressalien auszusetzen, so ein von der Zeitung zitierter Experte, sei es zudem keineswegs ungewöhnlich, dass Opfer von Gefängnisgewalttat diese bestreiten.

Ihre Informationen bekamen die beiden Wall-Street-Journal-Autoren Dionne Searcey und Amir Efrati von drei Zuträgern - einer von ihnen ist ebenfalls in der Anstalt inhaftiert, ein zweiter wurde mittlerweile freigelassen. Über die dritte Quelle, die den Vorfall bestätigte, schreibt das Blatt lediglich, dass sie mit der Situation des Bankers "vertraut" sei. Angeblich handelt es sich aber nicht um Madoffs Anwalt Ira Sorkin. Weil dieser anfangs die Bluthochdruck-Version an die Öffentlichkeit gab und sich später zu den Gewaltschilderungen nicht öffentlich äußern wollte, kam der Verdacht auf, er habe die Geschichte gestreut, um so auf eine vorzeitige Entlassung Madoffs hinzuarbeiten.

Angesichts des Verdachts, dass selbst ein High-Profile-Häftling wie Madoff nicht vor Gewalt im Gefängnis geschützt werden kann, stellt sich allerdings tatsächlich die Frage, ob so etwas nicht ein Einzelfall, sondern integraler Bestandteil eines Systems ist, das in seiner derzeitigen Form möglicherweise gegen das Recht auf körperliche Unversehrtheit und auf Schutz vor Folter verstößt - nicht nur in den USA, sondern auch in Deutschland.

Seit 2006 im nordrhein-westfälischen Siegburg ein Häftling von seinen drei Zellengenossen zu Tode gefoltert wurde, gab es regelmäßig Berichte über ähnliche Gewaltverbrechen. Erst letzte Woche erlag ein wegen Betrugs- und Raubdelikten inhaftierter 24Jähriger in einer Haftanstalt im hessischen Weiterstadt den schweren Verletzungen, die ihm ein 29jähriger Mitgefangener am 15. März zugefügt hatte.

Der wegen Gewaltdelikten vorbestrafte 29Jährige, der die Tat nach Auskunft der Staatsanwaltschaft Darmstadt mittlerweile gestand, hatte den Kopf seines Opfers mit den aus anderen spektakulären Körperverletzungsfällen bekannten Fußtritten gegen den Kopf bearbeitet. Die Tat wurde während des so genannten "Umschlusses" begangen - einer Zeit, in der sich Häftlinge zwischen den nicht abgesperrten Zellen frei bewegen können. Besonders bemerkenswert ist an dem Fall, dass sich das Opfer bereits während seiner Untersuchungshaft über Erpressungen und Gewalttaten beklagt hatte - was aber offenbar keine (oder wenigstens keine ausreichenden) Konsequenzen nach sich zog.

Tatsächlich scheint es angesichts der ständigen Wiederkehr solcher Vorfälle zunehmend ein Rätsel, was Behörden daran hindert, Gefängnisse so auszugestalten, dass Häftlinge während ihres Aufenthalts dort keine anderen Gefangenen zu Gesicht bekommen. Auch Dusch-, Hof-, oder Bibliotheksgänge ließen sich nämlich im Schichtbetrieb durchaus so organisieren, dass der nächste Gefangene erst dann herausgelassen wird, wenn sein Vorgänger wieder sicher in seiner eigenen Einzelzelle eingesperrt ist.

Verteidiger des derzeitigen Haftsystems nennen vor allem zwei Gründe für dessen Beibehaltung: Zum einen gebe es Häftlinge, welche dies wünschen würden, zum anderen könnten die Gefangenen so "soziales Miteinander trainieren". Genau dieses "soziale Miteinander" ist aber, wie eine Studie aus dem Jahr 2006 feststellte, ganz von "alltäglich praktizierten Strategien von Unterwerfung" geprägt. Dies erklärt auch, warum eine Gruppe von Häftlingen solch ein "Miteinander" wünscht und eine andere nicht.

Auch zahlreiche andere empirische Daten deuten darauf hin, dass solche "Gemeinschafterlebnisse" nicht nur zu staatlich geduldeter Folter führen, die Guantanamo im Vergleich wie eine Variante des RTL-Dschungelcamps erscheinen lässt, sondern, dass sie durch die Möglichkeiten zum Austauschen von Fachwissen und zum Knüpfen von Kontakten aus Kriminellen erst Schwerkriminelle machen.

Dagegen gibt es bis jetzt keinerlei haltbare Studien, die belegen würden, dass das derzeit praktizierte "soziale Miteinander" im Gefängnis die Resozialisierung fördern würde. Ein tägliches Gespräch mit einem Therapeuten oder auch nur ein konsequent pädagogisches Medienangebot dürfte deshalb möglicherweise deutlich stärker resozialisierende Effekte erzielen, als der Umgang mit Gewaltkriminellen. Und es könnte den Effekt mildern, dass Gefängnisaufenthalte unter jugendlichen Intensivtätern das Prestige steigern.