Ist Thomas Mann eigentlich - vergnüglich?

Grab von Gert Westphal. Bild: Fafner. Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Natürlich! Aber ist er auch amüsant?

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Ich muss mir ja nicht gleich wieder einen ganzen Batzen neuer Feinde schaffen. Also klar. Thomas Mann ist vergnüglich zu lesen. Man merkt es auch, wenn der "Vorleser der Nation", Gert Westphal, sich durch ganze Grand Canyons an mannschen Vokabelmassiven hindurchpalavert, welches Vergnügen ihm das alles bereitet. Und wenn der greise Thomas Mann aus seinen eigenen Werken vorliest. Wie vergnügt.

Trotzdem hilft nichts gegen den zunehmend glasigeren Blick, gegen die himmelwärts strebende Pupille, das abwärts drängende Lid, den sich im milden Schnarchophon-Moll abseilenden Atem. Eher wird dem Leser oder der Zuhörerin bei soviel relaxter Muskelmasse ein unfreiwilliger Furz entfahren, als ein echter Lacher. Amüsant? Nein, das denn doch nicht. Wenn ich über Thomas Mann lachen möchte, gibt es nur eine einzige Adresse. "Die Parodien" von Robert Neumann.

Neumann, ein Österreicher, schaffte das Unglaubliche. Im Alleingang injizierte er der gesamten deutschen Literatur einen Sinn für Humor. Sogar Erich Maria Remarque taugt da auf einmal zum Lachen. Thomas Mann pur (ohne Neumann) ist, bestenfalls, gelegentliche Schmunzelware. Wenn ich einen amüsanten Roman lesen möchte, greife ich zu J. P. Donleavys "A Singular Man". Beispielsweise. Einer Geschichte, die mich auf jeder Seite zum Lachen oder Weinen bringt, ein Lesespaß von Anfang bis Ende, denn ich frage dem Schluss des Romans besorgt hinterher: "Und was ist jetzt mit Miss Martin passiert?"

Bei Thomas Mann interessiert mich das Schicksal keines einzigen seiner Protagonisten. Ich habe "Felix Krull" gelesen, oder "Königliche Hoheit" - und dachte lediglich: "Ach wenn doch nur Vicki Baum diesen Mist geschrieben hätte!" - Wie unvergleichlich viel bewegender und zu Herzen rührender ist doch ihr "Menschen im Hotel". Ganz abgesehen davon, dass es der einzige Roman einer deutschsprachigen Autorin ist, der, als Film, einen Oscar für den besten Film des Jahres erhielt.

Selbst Gert Westphal, ein Thomas Mann-Fan reinsten Wassers (er ließ sich sogar unmittelbar gegenüber von Thomas Mann begraben) liest die Einleitung zum "Zauberberg" wie einen einzigen Satz, und die Schlusssentenz, der Wunsch, das Lesen dieses Buches möge ja, Gottbewahre, nicht gleich sieben Jahre währen, klingt wie ein frommes Stoßgebet. W. Somerset Maugham, der in seinen Kurzgeschichten für die Illustrierten seiner Zeit oft literarische Themen anderer Autoren aufgriff, Maupassants "Boule de Suif", Voltaires "Candide", usw. - handelte auch den ganzen "Zauberberg", wesentlich ergreifender und kürzer, in einer 26-Seiten Story ab: "Sanatorium", in "Ashenden oder Der britische Geheimagent", erschienen auf Deutsch bei Diogenes.

Manns langwierigstes und trotz Gert Westphals redlichster Vorlese-Bemühung einschläferndstes Werk ist, für mich, der vierbändige Roman "Joseph und seine Brüder". Eine biblische Geschichte. Es wundert mich nicht, dass bei einer öffentlichen Lesung aus dem "Josephsroman" in Berlin der Vorsitzende der Veranstaltung nachher an Thomas Mann herantrat und ihm zuraunte: "Vielen Dank. Aber so genau wollten wir das eigentlich alles gar nicht wissen."1

Die Vorrede ist hier schon allein an die 70 Seiten lang, und was Thomas Mann in diesem oder sonst einem seiner Romane zu Kunst, Philosophie, Geschichte und Wissenschaft zu sagen hat, lässt sich zur Gänze streichen. Ich bezweifle, dass es irgendjemandem auffallen würde. Es ist alles nur Füllsel, Fassade, Verputz. Mann hat sein (nicht übermäßig exaktes) Pendant heute in Salman Rushdie - in der Weise, dass man auch bei Rushdie 90 Prozent seiner Texte wegkürzen könnte, ohne Verlust, wie die Schale einer Nuss, um an das eigentlich Genießbare seines Schreibens heranzukommen. Der gesamte Rushdie passt in einen 500-Seiten Reader, in dem jeweils ausgewählte Kapitel oder Textsegmente versammelt wären. So ein Kompendium könnte nicht nur vergnüglich, sondern sogar amüsant sein.

Auch bei Mann. Dass es bei ihm anders sein sollte, verdankt sich eher dem Umstand, dass es eine mittlerweile quasi allgemein akzeptierte, eine gesellschaftlich festbetonierte Meinung gibt, Thomas Mann sei ein Fixstern am literarischen Firmament. So wie einst Goethe für das 19te und 20ste Jahrhundert den Eckpfeiler deutscher Kulturidentität darstellte, so taugt Mann nun dem deutschen Bildungsbürgertum zum gleichen Zweck, spätestens seit den 50er Jahren. Und es trifft sich gut, dass Brecht eher ein Bantamgewicht ist, im Vergleich zu Mann, bestenfalls ein Schiller zu seinem Goethe; dass Feuchtwanger, Wassermann, Heinrich Mann und andere Großschriftsteller, die zeitgleich mit Mann schrieben, ins Abseits gedriftet sind, dass Robert Musil in seinem "Mann ohne Eigenschaften" nichts als fade Ingenieursprosa bietet, stinklangweilig. Hermann Broch, ungelesen. Ach so, und Broch ist natürlich ein Österreicher. Musil auch. Wenn man die österreichische Literatur von der deutschen abkoppelt, kippen ohnehin gleich einmal einige der größten Namen aus der Kurve. Ja, auch Vicki Baum. Also was bleibt? Hanns Henny Jahnn, unlesbar. Hesse, ein Trivialliterat. Kafka? Ungeeignet. Und: Ein Nationaldichter, den man sich mit den Tschechen und Österreichern teilen müsste? Das geht ja wohl nicht! (Frage am Rande: Hat es eigentlich schon jemals eine deutsche Kafka-Briefmarke gegeben?) (Antwort: Selbstverständlich. EINE. Auch wenn die Marke, wie hier, statt dem FRANZ einem FRANK (sic) Kafka gewidmet wurde.) (Wahr!)

Fazit: Es bleibt nur ein einziger würdiger Bewerber für das Amt des Nationalen Dichterfürsten. Wie bei der Komponistenfamilie Bach gibt es um ihn herum zudem dieses Gestrüpp von ebenfalls talentierten Mit-Schreibern. Der Bruder Heinrich, dem man heute immerhin noch Weltrang für seinen "Blauen Engel" gönnt. Die Söhne Klaus und Golo. Es kommt dazu, dass Manns Romane in deutschen Landen gern für filmische Prestigeprojekte aufgegriffen wurden, so "Felix Krull" (mit Horst Buchholz, 1957), "Die Buddenbrooks" (mit Liselotte Pulver, 1962) und neuere Remakes. Bei "Die Manns - ein Jahrhundertroman" (2001) mit Armin Mueller-Stahl als Thomas Mann hatte sich der Fokus bereits weg vom Werk hin zur Vita des Autors verschoben. Nicht mehr, WAS er geschrieben hatte, interessierte jetzt, nur DASS er was geschrieben hatte. Er erfüllt, als leere Hülse, die Rolle des Nationaldichters. Unterschwellig bleibt, vermute ich, immer die Befürchtung, das Werk könnte womöglich letztlich doch nicht für die Ewigkeit taugen.

Aber doch, es taugte. Ich kann verstehen, wie der junge Thomas Mann seinen Theodor Fontane gelesen hat, damals der größte Name der deutschen Literatur - Westphal hat übrigens, im typischen Overkill, auch Fontanes Gesamtwerk auf Silberscheiben festgehalten - und er, Mann, muss das als richtige Herausforderung gesehen haben, einerseits Fontane zu parodieren oder "zu verarschen", also diesen kapitalen Bock abzuschießen - und andererseits die gleiche Matrix zu verwenden und einen "besseren Fontane" zu schreiben. Dieses Bedürfnis, es der ganzen Welt zu "zeigen", hat die Energie geliefert, die "Die Buddenbrooks" zu jenem Meisterwerk werden ließ, das es unzweideutig ist. Ich bin überzeugt, dass man an dem fertigen Roman noch das fontanesche Baugerüst ausmachen kann. Der Tonfall ist vorwiegend ironisch, was nicht unbedingt bedeutet, dass er Anlass zu wieherndem Schenkelklopfen bietet. Aber der Roman ist vergnüglich und amüsant. Zugleich bot ihm dieses Sich-Anhängen an Fontane die Möglichkeit, den schwelenden Konflikt zum älteren und erfolgreicheren Bruder zu umschiffen. Das Schwanzlängenmessen, das sich noch in Mann erster Erzählungssammlung ("Der kleine Herr Friedemann") geradezu freudianisch widerspiegelt, ist damit zu seinen Gunsten entschieden. Als "Die Buddenbrooks" erschien (1900), gab es den Nobelpreis für Literatur noch nicht (erst ab 1901), und es stand eine ganze Phalanx alter Herren bereit, die zunächst einmal beehrt werden musste. Erst 1929 erhielt Mann selber den Preis - "vornehmlich [wie es hieß] für seinen großen Roman 'Buddenbrooks', der im Laufe der Jahre eine immer mehr sich festigende Anerkennung als ein klassisches Werk der zeitgenössischen Literatur gewonnen hat." Warum hier "Buddenbrooks" so dezidiert erwähnt wird? Weil die Schweden ihm den Preis für den "Zauberberg" fast schon wieder entziehen wollten...!

Heinrich und Thomas Mann

Indessen: Diese lange Frist zwischen dem Erscheinen des Romans und der Nobel-Würdigung (29 Jahre) erinnert an die 40 Jahre zwischen dem Erscheinen der "Blechtrommel" (1959) und der Preisverleihung (1999) an Günter Grass. Die weitere Ähnlichkeit zwischen Mann und Grass besteht für mich darin, dass beide letztlich Ein-Buch-Autoren sind, deren Werk zwar von einer lebenslangen Schreibtätigkeit zeugt, aber letztlich nur Kringelmacherei ist.

Brecht, den die Schweden trotz seines jahrelangen Skandinavien-Aufenthaltes in Dänemark, Schweden und Finnland nicht eines Nobels für würdig erachteten, musste sich später mit dem wesentlich schäbigeren Stalin-Preis zufrieden geben. Trotzdem stammte Brecht, wie Mann, aus der gehobenen Bourgeoisie und betrieb die Literatur als fabrikmäßige Produktion. Mann konnte sich nicht einmal von der Nachricht vom Selbstmord eines seiner Söhne von einer öffentlichen Lesung abbringen lassen. Schließlich hatte das Publikum bezahlt, es musste beliefert werden. Brecht ließ sich seine trostlosen Arbeiteranzüge vom Schneider fertigen. Und während Thomas Mann in Kalifornien seinen glücklosen Bruder Heinrich finanziell unterstützte, wurde der in Kalifornien glücklose Brecht von SEINEM Bruder finanziell über Wasser gehalten - dem in Nazideutschland die heimische Papierfabrik in Augsburg weiter betreibenden Walter Brecht.

Brechts Vater, Berthold Friedrich Brecht, hat im Jahre 1899, noch als Angestellter der G. Haindl'schen Papierfabrik Augsburg (die er später übernehmen sollte) eine Firmenchronik verfasst, die, vollständig dokumentiert und ausführlich kommentiert, 1999 erstmals wieder im Druck erschien. Das Buch lieferte ein detailliertes Bild der Papierherstellung um die Jahrhundertwende, einschließlich zahlreicher sozialgeschichtlicher Daten. Es ermöglichte auch einen genauen Blick auf Brechts Vater, seine Stellung im Betrieb, seine Haltung zur Familie Haindl, seine Fähigkeit zum Schreiben. Es wirft auch ein neues Licht auf die Rolle der Haindl'schen Papierfabrik für die Herausbildung der Autorpersönlichkeit Bert Brechts.

Betrachtet man sich die ausführliche Materiallage, einschließlich der zahllosen, geradezu theatralischen Familienfotos, auf denen der junge Thomas Mann seine "Buddenbrooks" basierte, kommt man um die Einsicht nicht herum, dass es hier ein ausführliches Familienarchiv gab, das seit Jahrzehnten auf einen Bearbeiter gewartet hatte. Zur Jahrhundertwende feierte sich das Bürgertum ab, lobte seine Verdienste, schrieb sich seine eigenen Familienchroniken. Brecht's Vater, der Aufsteiger, musste das noch selber machen, bei den Manns, schon länger im Geschäft, überließ man das dem literarisch veranlagten Junior, der daraus eine Art verspielte Doktorarbeit bastelte. Er hatte Muße, sich von der Muse küssen zu lassen, die Vorarbeiten waren geleistet worden, die finanzielle Grundlage war gesichert. Er musste nicht um seinen Lebensunterhalt bangen und nicht um seine gesellschaftliche Anerkennung kämpfen. Ein proletarischer Autor hätte ein solches Buch nie schreiben können.

Die Familiensaga erwies sich in Amerika als sehr populär und langlebig, von "Gone With the Wind" (1936) bis "Roots" (1976) und "Dynasty" (1981-89) und so ist auch "Buddenbrooks" ein amerikanischer Klassiker geworden. Booth Tarkington ("The Magnificent Ambersons", 1918) war wohl, in seinem geschraubten Duktus, der erste Amerikaner, der Thomas Manns Stil auf Englisch nachahmte, allerdings ist Tarkington ein ausgesprochener Humorist. Ich erinnere mich an eine Bahnfahrt von Nürnberg nach Berlin, als ich zufällig eines jener im Horizontalformat gedruckten amerikanischen Militärtaschenbücher aus dem Zweiten Weltkrieg mitführte. Es war Booth Tarkingtons "Little Gentleman", das ich für eine Mark in Nürnberg antiquarisch gekauft hatte. Ich lachte in einem Stück von Nürnberg bis Berlin, die ganze Eisenbahnfahrt verging wie im Fluge. Hier eine Gratis-Audio-Version bei Librivox.

Tarkington (1869-1946) stammte aus Indiana, wo es eine alteingesessene deutsche Siedlergruppe gab, die über Generationen hinweg deutsche Sprache, Literatur und Kultur beibehielt, hegte und pflegte. Es ist also sehr gut möglich, dass Tarkington selbst von deutscher Literatur beeinflusst wurde. Oder direkt von Thomas Mann. "Buddenbrooks" erschien in englischer Übersetzung erst 1924, also muss der Einfluss, wenn überhaupt, auf Deutsch gewesen sein. Tarkingtons verzwispelter Schreibstil wirkt auf mich allerdings sehr wohl wie eine amerikanische Kopie oder Parodie des mannschen Stils. Sein Zeitgenosse Theodore Dreiser (1871-1945), ebenfalls aus Indiana, und eindeutig ein German-American, schrieb dagegen mit einer Schwerfälligkeit, die amerikanische Leser als besonders "teutonisch" empfinden. Beide, Dreiser und Tarkington, waren direkte Zeitgenossen Manns (1875-1955), der sich mit seinen Werken - in Übersetzung - direkt bei ihnen einreihen konnte. Umsomehr als damals unvergleichlich viel mehr deutsche Literatur ins Englische übersetzt wurde. Jakob Wassermanns (1873-1934) Werke lagen bereits zu seinen Lebzeiten komplett übersetzt vor, sein "The Maurizius Case" verkaufte sich im Hardcover eine Million Mal. Auch Thomas Manns Werke erschienen später in Amerika fast zeitgleich mit ihrer deutschen Fertigstellung in englischer Übersetzung.

Trotzdem habe ich den Eindruck, dass es einen kreativen Umgang mit Thomas Mann in Amerika erst in den Sechzigerjahren gegeben hat, bei Autoren wie Thomas Berger oder John Barth, die diesen statisch luftkissenähnlich schwebenden, verschraubten Stil Manns im Englischen spielerisch-verspielt nachahmen konnten - vielleicht weil sie Thomas Mann auch im Original studiert hatten, oder jedenfalls, weil sie nicht mehr nur auf die Übersetzungen angewiesen waren.

Thomas Mann blieb lebenslänglich dem immer gleichen Duktus verhaftet, die Erzählerfigur blieb immer "er selber", und seine Dialoge waren lebensfern, langweilig, dümmlich oder staubtrocken. Bei Barth änderte sich das alles, denn alles konnte fiktiv verändert werden. Barth wäre nie auf die Idee gekommen, wie Thomas Mann, einen realen Nachbarn wie Arnold Schönberg in Kalifornien in eine Romangestalt zu verpacken, dem er dann, oh faustischer Teufelspakt, oh Syphilis, die Erfindung der 12-Ton-Musik zuschreibt. Und Adorno, ein weiterer schräger Komponist, wohnte auch in der Nähe. Und Hanns Eisler. Ich hätte da doch wenigstens eine Reportage für "Life" geschrieben, "Meine Nachbarn, die Komponisten", und hätte ihre Gespräche und Diskussionen aufgezeichnet und Fotos gemacht. Und Fragen gestellt. "Was halten Sie denn so von Wagner, Herr Eisler?" Auf eine solche Idee scheint Thomas Mann nicht gekommen zu sein, er benutzte Material nur aus zweiter Hand. Ein Romancier wie Barth wäre, wenn er den "Doktor Faustus" geschrieben hätte, wenigstens auf die Idee verfallen, eine Musik zu erfinden, wegen der sein Nachbar nicht vor den Kadi hätte ziehen können, wie es Schönberg nachher tat. Elektronische Sphärenmusik, Symphonien für Dampf-Calliopen. Aber Thomas Mann war nicht erfindungsreich, er war auch nicht an der Realität interessiert, nur am Papier. Nie wäre Thomas Mann in Amerika auf die Idee gekommen, wie Vicki Baum, einmal vier Monate in einem Kaufhaus zu arbeiten, um Ideen und Eindrücke für den nächsten Roman oder das nächste Theaterstück zu gewinnen. Sein Schreiben war komplett statisch. Er war ein Denkmal, das sich nur minimalst von der Stelle rührte.

Oft heißt es, Manns kürzere Werke böten die dichterische Substanz im Konzentrat. Allen voran, "Tod in Venedig". Betrachten wir einmal den ersten Absatz, den Beginn der Geschichte:

Der Autor der klaren und mächtigen Prosa-Epopöe vom Leben Friedrichs von Preußen; der geduldige Künstler, der in langem Fleiß den figurenreichen, so vielerlei Menschenschicksal im Schatten einer Idee versammelnden Romanteppich, Maja mit Namen, wob; der Schöpfer jener starken Erzählung, die 'Ein Elender' überschrieben ist und einer ganzen dankbaren Jugend die Möglichkeit sittlicher Entschlossenheit jenseits der tiefsten Erkenntnis zeigte; der Verfasser endlich (und damit sind die Werke seiner Reifezeit kurz bezeichnet) der leidenschaftlichen Abhandlung über 'Geist und Kunst', deren ordnende Kraft und antithetische Beredsamkeit ernste Beurteiler vermochte, sie unmittelbar neben Schillers Raisonnement über naïve und sentimentalische Dichtung zu stellen: Gustav Aschenbach also war zu L., einer Kreisstadt der Provinz Schlesien, als Sohn eines höheren Justizbeamten geboren. Seine Vorfahren waren Offiziere, Richter, Verwaltungsfunktionäre gewesen, Männer, die im Dienst des Königs, des Staates, ihr straffes, anständig karges Leben geführt hatten. Innere Geistigkeit hatte sich einmal, in der Person eines Predigers, unter ihnen verkörpert; rascheres, sinnlicheres Blut war der Familie in der vorigen Generation durch die Mutter des Dichters, Tochter eines böhmischen Kapellmeisters, zugekommen. Von ihr stammten die Merkmale fremder Rasse in seinem Äußern. Die Vermählung dienstlich nüchterner Gewissenhaftigkeit mit dunkleren, feurigeren Impulsen ließ einen Künstler und diesen besonderen Künstler erstehen.

Ich denke, wer das heute liest, wird nicht direkt vor Lachen hintüber aus dem Sessel kippen. Stattdessen wird er oder sie vielleicht das unbekannte Wort in der ersten Zeile bei Google eingeben, (82.400 Eintragungen - gar nicht ankucken), dann einen Kaffee trinken gehen und den Rest der Geschichte vergessen. Ich erinnere mich an die Lektüre einer DDR-Ausgabe von Jean Paul's Titan bei der links das Werk selbst, rechts der Registerband lagen, und ich mich freuen konnte, wenn ich in zwei Stunden drei Seiten lesen konnte, ohne in den Schlaf gerissen zu werden. Im Endeffekt natürlich ein großes Vergnügen, endlos der DDR dankbar. Doch ich bin ja ausgezogen, das Amüsante bei Thomas Mann zu entdecken, und wir nähern uns dem scheuen Tier gerade mit Riesenschritten, denn nun folgt eine deutsche Germanisteninterpretation dieser Stelle. In Ausschnitten:

Das ist Architektur, Architektur eines Satzes, der nicht hingeschrieben, sondern hingebaut ist, nicht in zufälliger Fügung, sondern in planmäßiger Gefugtheit.

Seidlin 1963: 148

Der Schlussstein, auf den der ganze Satz hinausläuft, ist kurz: zwei Zeilen nur - und dem gegenüber steht eine Stauung von dreizehn Zeilen. Die Balance, so könnte man sagen, ist schlecht. Aber sie wird sofort für uns Sinn und tiefe Berechtigung bekommen, wenn wir in Erwägung ziehen, was hier balanciert wird. Dreizehn Zeilen sind ausgefüllt mit der Aufzählung und Charakterisierung von Gustav Aschenbachs Werken, dann folgen zwei Zeilen über den Menschen Gustav Aschenbach. Und diese Verteilung scheint mir eine der genialen stilistischen Symbolgebungen, die wir in der modernen deutschen Literatur finden.

Seidlin 1963: 149

So wie er da steht, erzählt uns dieser Satz durch seinen Bau allein die Lebensgeschichte und das Lebensleid Gustav Aschenbachs: erst das Werk, dann noch einmal das Werk, dann noch einmal das Werk, dann noch einmal das Werk - und dann erst, ganz im Hintergrunde, die Person dessen, der es schuf: das ist die heroische Leistung, die pathetische Größe des Dichters Gustav Aschenbach.

Seidlin 1963: 150

Es sind die Elemente des schöpferischen Werkes, die hier umschrieben werden, es ist gleichzeitig die Bezeichnung von Aschenbbachs literarischer Entwicklung, die in vier Stufen verläuft: Stoff - Gestaltung - Ethos - Philosophie. Eine Pyramide nannten wir es; es ist der allmähliche Aufstieg von der reinen Materie zum reinen Geist, ein Prozeß progressiver Spiritualisierung.

Seidlin 1963: 153

Die völlige Übereinstimmung von Sinn und Ausdruck, jenes völlige Zusammenfallen von Sprachgebung und Bedeuten (und das ist ja Stil) macht die unvergleichliche Größe und den einmaligen Zauber des Thomas Mannschen Werkes aus.

Seidlin 1963: 153

Die Mathematik behauptet, es sei unmöglich, die Quadratur des Kreises zu finden. Nun, Thomas Mann hat hier das Unmögliche getan. Er hat die Gleichzeitigkeit von Singularität und Pluralität durch eine grammatikalische Wendung geschaffen.

Seidlin 1963: 154

Wie leicht wäre es gewesen - und unserem Sprachgefühl sogar entsprechender - das mit Objekten angeschwellte Präsenzpartizip in einen Relativsatz aufzulösen. Aber es durfte nicht geschehen, weil dadurch die syntaktische Einheit der Gruppe gelöst worden wäre. Wie mit einer harten, festen Klammer sind hier Vielheiten zur Einheit gepresst: gestraffte Dichtigkeit ist das Ziel, so wie es das Ziel des Teppichwebers ist. Und gehen wir zu weit, wenn wir auch noch in der Verbform des Satzes dieses Streben nach gedrängter Dichtheit erkennen wollen?

Seidlin 1963: 155

Es scheint uns mehr als ein belangloser Zufall, daß Thomas Mann die starke Verbform wob der schwachen webte, die ebenso korrekt und vielleicht sogar geläufiger wäre, vorzieht. Ist doch wob, das einsilbige, volltönende Verb, viel gesammelter und versammelnder als das zweisilbige, tonmäßig abfallende webte (nicht umsonst nennen wir die eine Form stark, die andere schwach), ist es doch weitaus geeigneter, die Einheit zu suggerieren, die als Leitgedanke über dem hier diskutierten Satzteil steht.

Seidlin 1963: 155

Sicher hat das Klangliche eine Rolle gespielt: das Wort 'Epos' (mit dem Akzent auf der überkurzen ersten Silbe, die nur aus einem Vokal besteht) suggeriert wenig von 'klarer Mächtigkeit,' die uns als das Charakteristische der geschichtlichen Chronik vermittelt werden soll. Dafür erscheint die Langform Epopöe schon viel geeigneter. Und noch einen anderen klanglichen Wert gibt das Wort Epopöe. Mit dem schweren Akzent auf dem Vokal der letzten Silbe, dem das labial-explosive p vorausgeht und den kein Konsonant abschließt (der im Gegenteil durch das End-e in Länge gezogen wird), mit all diesen Lautqualitäten tönt das Wort wie ein Trompetenstoß. Was im Worte 'Epos' wie eine Schamade erklingen würde, das klingt im Worte Epopöe wie eine martialische Fanfare.

Seidlin 1963: 157

Wir haben bisher von den architektonischen und den symbolischen Elementen des großen Satzes gesprochen. Wir würden das Wichtigste übergehen, wollten wir seine musikalische Meisterschaft unerhört lassen.

Seidlin 1963: 158

Nehmen wir die ersten Worte der beiden Satzteile, so wird uns die lautmäßige Ähnlichkeit entgehen können. Es sind dunkle Laute, die uns hier wie dort als Akzentträger begegnen: au, a, o, u, ein ganz vereinzeltes ä und überhaupt kein einziger Laut des oberen Registers, kein I, ü, e oder eu. Aufklang und Abklang ruhen lautlich auf Vokalen, die eine feierliche und ruhig gesetzte Färbung haben, die Satzsymphonie beginnt und endet majestätisch und schwer - molto grave würde die Musiksprache es nennen.

Seidlin 1963: 160

Wir brauchen uns diesen Aufklang und Abklang nur laut vor[zu!-(T.A.)]lesen, um ihre Parallelität, ihre Gemessenheit und ernste Ruhe, aus dem Klang zu erfühlen: der Autor der klaren und mächtigen Prosa und Gustav Aschenbach also wurde zu L., geboren. Volltönend beginnt der große Satz, volltönend endet er - ein kurzes Stück deutscher Prosa, aber in seiner stilistischen Vollendung ein Stück Architektur auch, ein Stück musikalischer Komposition.

Seidlin 1963: 160

So wurde um 1963 deutsche Literatur interpretiert und Thomas Mann im Besonderen hochgepumpt und aufgebläht. Für solche Texte hat sich der Begriff "Findelsatire" eingebürgert; damals war das jedoch völlig ernst gemeint. Und der Verfasser mahnt auch gleich noch Andersdenkende ab:

Wer die Symbolik dieses Satzbaus nicht versteht, wer das gewaltige Gefüge etwa umstellen, mit dem Geburtsdatum beginnen und mit der Aufzählung der Werke fortfahren wollte (wie es leider die amerikanische Übersetzerin von Tod in Venedig tat), hat kein Gefühl für die Einmaligkeit und Unantastbarkeit eines großen Stils.

Seidlin 1963: 150

Nunja. Nehmen wir einmal einen anderen - einen auf seine Weise recht vergnüglichen amerikanischen Autor - H. P. Lovecraft, und sehen uns an, wie ER einige seiner Geschichten beginnen lässt:

I am Basil Elton, keeper of the North Point light that my father and grandfather kept before me...

Of Herbert West, who was my friend in college and in after life, I can speak only with extreme terror...

Somewhere, to what remote and fearsome region I know not, Denys Barry has gone...

On August 20, 1917, I, Karl Heinrich, Graf von Altberg-Ehrenstein, Lieutenant-Commander in the Impreila German Navy and in charge of the submarine U-239, deposit this bottle and record in the Atlantic Ocean at a point to me unknown...

Horrible beyond conception was the change which had taken place in my best friend, Crawford Tillinghast...

Und so immer weiter. Man kann sagen, es ist eine ehrenwerte Tradition in der amerikanischen Literatur, eine Erzählung mit der Nennung des Namens der Hauptperson zu beginnen.

Entsprechend auch bei Thomas Mann:

Gustave Aschenbach was born at L-, a country town in the province of Silesia. He was the son of an upper official in the judicature, and his forbears had all been officers, judges, departmental functionaries - men who lived their strict, decent sparing lives in the service of King and State. Only once before had a livelier mentality - in the quality of a clergyman - turned up among them; but, swifter, more perceptive blood had in the generation before the poet's flowed into the stock from the mother's side, she being the daughter of a Bohemian musical conductor. It was from her he had the foreign traits that betrayed themselves in his appearance. The union of dry, conscientious officialdom and ardent, obscure impulse, produced an artist - and this particular artist: author of the lucid and vigorous prose epic on the life of Frederick the Great; careful, timeless weaver of the richly patterned tapestry entitled Maia, a novel that gathers up the threads of many human destinies in the warp of a single idea; creator of that powerful narrative The Abject, which taught a whole grateful generation that a man can still be capable of moral resolution even after he has plumbed the depths of knowledge; and lastly - to complete the tale of works of his mature period - the writer of that impassioned discourse on the theme of Mind and Art whose ordered force and antithetic eloquence lead serious critics to rank it with Schiller's Simple and Sentimental Poetry.

Es ist schnell zu erkennen, dass dieser Text rascher absorbiert werden kann, man weiß sogleich, worum es geht. Aber öde. Vor allem die fade Liste irgendwelcher dröger Werke dieses ganz offensichtlich tödlich langweiligen Schreiberlings, Askenback. Immerhin klingt Mann nicht sehr viel anders als H. P. Lovecraft. Man erwartet eine Horror-Story. Es fehlt das belebende Element des "tongue-in-cheek", des ironisch Gemeinten, wobei man freilich sagen muss, dass Manns Original in Wirklichkeit auch nicht eben sonderlich witzig ist. Zum Vergleich der erste Satz von John Barth, aus "The Sot-Weed Factor":

In the last years of the seventeenth century there was to be found among the fops and fools of the London coffee-houses one rangy, gangling flitch called Ebenezer Cooke, more ambitious than talented, and yet more talented than prude, who, like his friends-in-folly, all of whom were supposed to be educating at Oxford or Cambridge, had found the sound of Mother English more fun to game with than her sense to labor over, and so rather than applying himself to the pains of scholarship, had learned the knack of versifying, and ground out quires and couplets after the fashion of the day, afroth with Joves and Jupiters, aclang with jarring rhymes, and string-taut with similes stretched to the snapping-point.

Und es ist alles nur EIN Satz. So ungefähr hätte auch Thomas Mann im Englischen rüberkommen sollen, aber seine Übersetzerin hatte das einfach nicht drauf. "I am not a literary bird," sagte sie von sich selbst. Nicht nur das. Helen Lowe-Porter hatte, wie sich nachweisen lässt, große Vokabularlücken. Wenn sie etwas nicht nachschlug oder im Wörterbuch nicht finden konnte, traf sie öfter mal das Falsche. Gelegentlich verkehrte sie den Sinn eines Satzes in sein Gegenteil. Wenn es gar nicht anders ging, ließ sie einen Satz einfach aus oder erfand einen eigenen. Auch ihr Englisch war bizarr und selten wirklich idiomatisch. Dialoge kamen auf Stelzen daher. Trotzdem bestand Manns Verleger, Alfred A. Knopf, auf dieser Frau. Sie arbeitete offensichtlich rasend schnell, denn nicht nur übersetzte sie praktisch den kompletten Mann, sondern auch noch zahlreiche andere deutsche Schriftsteller. Und das alles nur mit Schreibmaschine und ohne Internetzugang, und mit Sicherheit für einen Pappenstiel.

Für den entgangenen Lohn gab es nachher einen nach ihr benannten Übersetzerpreis für "überlegene Übersetzungen." Als ihre Übersetzungspraxis jedoch zunehmend ins Kreuzfeuer der Kritik geriet, wurde auch dieser Preis wieder stillschweigend abgeschafft. Dennoch benutzen viele neuere Übersetzer Lowe-Porters Arbeiten schlichtweg als Kladde, die sie am Computer ein wenig überpinseln. Thomas Manns literarisches Schicksal, auf Englisch, bleibt weitgehend an diese, seine erste Übersetzerin gekettet. "Kein Wunder, dass viele englischsprachige Leser TM für einen trivialen Autor halten," merkt ein Bekannter an. "Sie kennen eben nur die Reader's Digest-Version seiner Werke."

Da geht es dem armen Mann freilich kaum anders als anderen deutschsprachigen Autoren. Alle Brecht-Übersetzungen sind grässlich, und so weiter. Allerdings profitieren auch manche Autoren von diesem Laugenbad. So Grass, Böll, oder - Hesse, der EINZIG auf Englisch genießbar ist. Und Peter Weiss, dessen "Marat/Sade" auf Englisch BESSER ist als im Original. Dem deutschen Lesepublikum, das Mann-resistent bleibt, bietet immerhin Gert Westphal das perfekte Heilmittel gegen schlaflose Nächte. Da kann man dann im Traum gelegentlich mal über Thomas Mann ein wenig kichern.