Technik, Körper und (Ko-)Evolution

Ein Interview mit dem Technikphilosophen Klaus Erlach

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Vom November letzten Jahres bis zum Februar 2010 fand an der Technischen Universität Berlin ein Forschungskolloquium mit dem Titel Technikentwicklung und Evolution? statt, an dem Historiker, Philosophen und Technikwissenschaftler die Möglichkeiten und Grenzen einer evolutiven Technik diskutierten. Der Technikphilosoph Dr. Klaus Erlach sprach dort über den Nexus von Technik und Körper. Im Interview mit Telepolis-Autor Stefan Höltgen spricht er über die Möglichkeit und die Gefahren einer Technik-Evolutionstheorie.

Dr. Klaus Erlach. Bild: Stefan Höltgen

Im vergangenen Jahr feierte Darwins Evolutionstheorie ihren 150. Geburtstag. Seit ihrer Entstehung wurde die Theorie auf zahlreiche nicht-biologische Disziplinen übertragen - unter anderem auch auf die Technikentwicklung. Sie haben über die "Evolution der Werkzeuge" gesprochen und dies mit einem Fragezeichen versehen. Sind Werkzeuge (nicht) in einer Ko-Evolution zum Menschen entstanden?

Klaus Erlach: Zunächst einmal erscheint mir der Gedanke sehr faszinierend, dass unser Körperbau in seiner Gestalt von der Herstellung und Benutzung des Faustkeils geprägt ist. Nach 150 Jahren ist die Vorstellung, dass sich wir Menschen evolutionär aus tierischen Vorläufern entwickelt haben, sehr geläufig. Nur soll dies ja eine biologische Theorie sein. Daher denkt man wohl zunächst nicht daran, dass Steine – oder genauer gesagt die Steintechnologie – zur biologischen Evolution des Menschen dazu gehören könnten. Wenn man diesen Gedanken aber ernst nimmt, dann wären wir ohne Steinwerkzeuge nie das geworden, was wir heute sind. Das wirkt vielleicht erst einmal harmlos und selbstverständlich, wenn man den Gedanken zum ersten Mal hört. Hätte da nicht jeder drauf kommen können?

Wenn wir erst einmal die angebliche Peinlichkeit zugegeben haben, einen gemeinsamen Vorfahren mit den Affen zu haben, dann können wir das mit den paar Steinen doch auch noch zugeben. Denn welchen spezifischen Unterschied sollte das dann noch ausmachen? Eben den entscheidenden Unterschied überhaupt! Wenn technisches Handeln in Form des Werkzeuggebrauchs den Menschen zum Menschen macht, ihn also im biologisch-anthropologischen Sinn vom Tiere abgrenzt, dann darf man sich auch überlegen, ob der Mensch in seiner seit der Antike geläufigen Definition als ‚animal rationale’ überhaupt richtig bestimmt ist. Diese Definition fasst die Vernunft als sogenannte ‚differentia specifica’ – also als wesentliches Unterscheidungskriterium – zum Tier auf. Nun aber ist es auf einmal die Technik, das technische Handeln. Die Vernunft wäre dann historisch, anthropologisch und vielleicht auch ontologisch sekundär. Hier stellt sich allenfalls die Frage, wie peinlich es uns ist, wesentlich Techniten zu sein.

Bild: Stefan Höltgen

Von einer derartigen Demütigung spricht Anfang der 1990er Jahre bereits Bruce Mazlish und konstatiert, dass es nach Kopernikus, Darwin und Freud eine vierte „Kränkung“, oder wie er es nennt: „Diskontinuität“, gibt, nach der der Mensch in seiner Entwicklung nicht autonom ist, sondern mit seinen Werkzeugen zusammen gesehen werden muss. Sie scheinen diese Auffassung zu teilen.

Klaus Erlach: Mit der These einer Ko-Evolution von Mensch und Werkzeug ist hauptsächlich die biologische Evolution des Menschen etwas spezifischer beschrieben. Über eine Evolution der Werkzeuge für sich alleine genommen ist damit noch nichts ausgesagt. Daher das Fragezeichen. Man spricht auch nicht von einer Evolution der Fingernägel, obwohl sie sich ja auch evolutionär verändern. Aber eben nicht für sich alleine, da sie Teil eines ganzen Organismus sind und auch nur so verstanden werden können – falls es in der Biologie überhaupt legitim ist, von Verstehen zu reden. Die These einer Evolution der Werkzeuge oder allgemeiner einer Evolution der Technik ist also eine ganz andere theoretische Auffassung. Hier befinden wir uns im Feld einer möglicherweise inspirierenden Metaphorik für die Technikgeschichte, meines Erachtens ein Stück weit weg von wissenschaftlicher Theoriebildung.

Die Ergebnisse sind noch auf der Stufe von Linnés Klassifizierungssystem der Pflanzen, das auch ohne Darwin ganz wunderbar funktioniert. Man entwickelt hier eindrucksvolle Anordnungen unterschiedlicher Formen und Gestalten und spricht von Evolution obwohl es doch bloß Klassifikation ist. Für eine Evolutionstheorie der Technik müsste man sich ein wenig mehr überlegen – nämlich die Funktionsmechanismen der historischen Entwicklung sowie am besten auch gleich noch eine technologische Genetik.

Diese Ko-Evolution von Mensch und Werkzeug taucht ja nicht zum ersten Mal nach Darwin auf, sondern lässt sich im Prinzip durch die komplette Philosophiegeschichte bis Platon zurück verfolgen. Trotzdem scheint der Reiz dieser Homologiebildung erst in den modernen Wissenschaften seit dem 19. Jahrhundert richtig aufzublühen. Philosophen wie etwa Jürgen Mittelstraß oder Technikhistoriker wie Wolfgang König betonen, wie voraussetzungsreich diese Übertragung ist und wie wenig Nutzen für die Theoriebildung daher daraus zu ziehen ist. Und auch Sie sprechen von „Metaphorik“. Wie erklären Sie sich die Popularität dieser Homologiebildungen? Ist das vielleicht ein gewachsenes (philosophisches oder wissenschaftstheoretisches) Phänomen?

Klaus Erlach: Im Grunde ist ja die Evolutionstheorie eine historische Theorie, die eine Entwicklungsgeschichte beschreibt und deren Dynamik mit verschiedenen Evolutionsfaktoren erklärt. Der besonderer Reiz liegt nun darin, dass die Faktoren, wie Mutation und Selektion, sehr einfach sind, und die beschriebenen Effekte, nämlich die konkrete Gestalt und Vielfalt der Lebewesen, sehr komplex. So stellt man sich eine gute naturwissenschaftliche Theorie vor. Es wäre natürlich schön, für die Technikgeschichte eine ähnlich einfache Theorie zu haben, mit der sich trotzdem der konkrete Verlauf schlüssig erklären lässt. Auch hier haben wir eine Vielfalt unterschiedlichster Gestalten, die zunächst einmal zusammenhanglos neben- oder zeitlich hintereinander stehen.

Da liegt es doch nahe, auch hier nach einfachen Faktoren zu suchen, die die Zusammenhänge transparent machen helfen. Bei solchen Suchen sind Analogieübertragungen und Metaphern immer sehr hilfreich – und schon ist die Vorstellung einer, Evolution der Technik’ gefunden! Aber die Theorie bleibt schon deswegen zahnlos, weil sie ihren Mendel noch nicht gefunden hat, die postulierte Evolution also nicht einmal mit schlüssigen Hypothesen erklären kann. Würde man stattdessen bei der Theoriebildung berücksichtigen, dass offenbar die wesentlichen Treiber der Technikentwicklung menschliche Akteure sind, die bewusst und mit konkreten Absichten handeln, dann hört es mit der Einfachheit der Theorie leider schnell auf. Ich denke, von dieser Komplexität abzusehen, das macht den Reiz der Übertragung aus. Das bedeutet aber auch, die Wirkungsmacht des Menschen hinsichtlich der Technikentwicklung für überbewertet zu halten. Das ist jedoch eine ganz gefährliche Fehleinschätzung.

Der Mensch als Treiber der Technikentwicklung und die von Ihnen weiter oben angestellte Überlegung einer Technik, die den Menschen ko-evolutiv erst zu dem gemacht hat, was er heute ist, haben natürlich auch einen etwas teleologischen oder um in der Biologie-Metaphorik zu bleiben „lamarckistischen“ Grundton. Die Evolution hingegen ist ungerichtet und ziellos. Wäre sie nicht auch deshalb als technikhistorische Struktur (bei der man aus der Technikgeschichte „nicht lernen“ kann in dem Sinne, dass man die aus ihr gezogenen Erkenntnisse prolongiert) einer modernen historische Theorien angemessener?

Klaus Erlach: Wahrscheinlich führt die Betonung des Menschen als Treiber der Technikentwicklung etwas in die Irre. Nur weil ein Individuum seine Ziele hat und sie auch gerichtet und zielstrebig verfolgt, heißt das noch lange nicht, dass der übergeordnete Prozess der Technikentwicklung in einer Gesellschaft oder auch der Menschheit insgesamt ebenfalls zielgerichtet verläuft. Trotzdem kann man den Unterschied zwischen einer aktiven Formgebung von technischen Gegenständen und einer Änderung der Form oder Morphologie von Lebewesen über Generationen hinweg nicht einfach ignorieren. Auch wenn der Beobachter die Zielausrichtung bei beiden Prozessen selbst hinzudenken muss, bleiben es doch zwei verschiedene Systeme. Insofern erscheint mir eine wie auch immer formulierte Systemtheorie die, wenn Sie so wollen, modernere Theorie, da sie unterschiedliche Dynamiken zu beschreiben erlaubt, ohne teleologisch konzipiert sein zu müssen.

Schaut man sich die Technikentwicklung in konkreten Beispielen an, so fällt es andererseits sehr leicht, eine klar gerichtete Entwicklungstendenz auszumachen. Es lassen sich ja durchaus Tendenzen der Effizienzsteigerung ausmachen, die man dann technischen Fortschritt nennen kann. Mobiltelefone werden immer kleiner, oder haben mehr Funktionen pro Gramm, oder leuchten bunter, oder haben mehr Betriebsstunden, als ihre Vorgänger. Das alles ist natürlich nicht immer ein Fortschritt im emphatischen Sinne, also dass es eine positiv zu bewertende Verbesserung ist. Aber die technische Leistung im Sinne von Funktionsvielfalt, Ressourceneffizienz, Geschwindigkeit, Kosten oder Qualität erscheint doch meist höher als jeweils zuvor. Das haben wir vorher nicht gekonnt – also liegt ein Fortschritt vor.

Natürlich ist auch das eine Frage der Perspektive, denn es gehen ja auch technische Fähigkeiten und manche liebgewonnene altmodische Funktionalität verloren. Aber schließlich bewerten wir mit der Technik letztlich unsere Leistung, und wenn wir das für Fortschritt halten wollen – weshalb sollten wir das nicht dürfen? Anders in der Biologie: Eine stringente Entwicklung vom Einzeller hin zum Menschen als, wie könnte es auch anders sein, Aufstieg zu konstruieren, ist nun einmal bloß unsere Perspektive, die andere Lebewesen mit gleichem Recht für völlig verfehlt halten dürfen. Insofern ist meines Erachtens die Behauptung eines technischen Fortschritts von deutlich geringerer Beweislast geprägt als die des biologischen Fortschritts.

Das Mobiltelefon ist in der letzten Zeit zu einem regelrechten Sinnbild für eine quasi-lamarckistische Technik-Körper-Koevolution geworden. 2002 ging eine Meldung durch die Presse, dass der intensive Mobiltelefon-Gebrauch bei Menschen unter 25 Jahren zu beweglicheren Daumengelenken geführt habe (ob dieses Merkmal im Sinne Lamarcks weiter vererbt wird, ist natürlich nicht in der Debatte gewesen). Dass Techniknutzung eine Auswirkung auf den Phänotyp hat, scheint auch aus Ihren Ausführungen hervorzugehen. Dieser Aspekt hat in der Anthropologie und Technikphilosophie eine lange Tradition: In Ihrem Vortrag sind sie insbesondere auf die Metapher einer Technik als Erweiterung des menschlichen Körpers eingegangen. Was genau ist darunter zu verstehen?

Klaus Erlach: Der SMS-Daumen scheint mir ein besonders skurriler Treppenwitz der Technikgeschichte zu sein. In der Tat geben sehr körpernahe Techniken häufig Anlass, über die evolutionäre Wirkung nachzudenken; dazu gehört sicher auch die Annahme, dass der Gebrauch von Brillen die Menschheit bald kurz- (oder war es weitsichtig?) werden lässt. Nicht auszudenken, was die regelmäßige Benutzung von Stühlen für das Hinterteil bedeuten mag …

Aber Polemik beiseite, Technik als Erweiterung des menschlichen Körpers anzusehen, ist ein sehr interessanter Aspekt. Ernst Kapp, der mit seinem 1877 erschienenen Buch "Grundlinien einer Philosophie der Technik" als Begründer der Technikphilosophie gilt, was vielleicht ein wenig überzeichnet ist, hat die sogenannte Projektionstheorie der Technik erarbeitet. Das soll besagen, dass Werkzeuge Projektionen der menschlichen Organe sind und sich daher die Gestalt der Technik im Ganzen aus den Organen herleiten lässt. Der archaische Hammer mit Stiel und Stein erscheint dann als Nachbildung von Unterarm und Faust. Die hohle Hand wird zur Schale, die Zahnreihe findet sich als Säge wieder, das Gebiss in der Zange, der Griffel als verlängerter Finger und ähnliches mehr.

Doch so nett das alles erst einmal klingen mag, so problematisch zeigt sich die Theorie bei näherer Betrachtung. So bleibt rätselhaft, weshalb sich die Faust schon vor zwei Millionen Jahren als Faustkeil, die Zähne sich aber erst vor 5.500 Jahren hinaus projiziert haben, lange nachdem so organunähnliche Technologien wie Fallgrubenbau (vor 150.000 Jahren) oder Pfeil und Bogen (vor 30.000 Jahren) realisiert worden sind. Und welchem Organ verdanken wir schließlich die Töpferscheibe? Und auch wenn man die Hilfsmittel zur Feuerbereitung als Organprojektionen auffassen könnte, so doch nicht das Feuer selbst sowie die Fähigkeit und den Willen, dieses zu erhalten und zu nutzen. Die Erklärung schafft mehr Probleme, als sie löst und lädt sich zusätzlich auch noch ein Begründungsproblem auf. Im Ergebnis erhält man die ziemlich blasse These, dass die Technik Funktionen erfüllt, die auch organisch realisiert werden – allerdings realisiert mit ganz anderen Gestalten. Die ganze Technikentwicklung derartig aus einem unbewussten, technischen Trieb erklären zu wollen, macht dann doch viel zu viele Vernachlässigungen.

Löst man die Fragestellung vom biologischen Hintergrund ab und überführt sie in eine Kulturtheorie der Technik, scheint sie aber doch Potenzial zu besitzen, weil durch „technische Erweiterung unserer Körperfunktionen“ vieles erreicht haben, was ohne Technik nicht möglich gewesen wäre.

Klaus Erlach: Ja, man kann Technik als Erweiterung des menschlichen Körpers auch noch ganz anders verstehen, im Sinne des »Embodyment«, wie man es beispielsweise in der Phänomenologie des Don Ihde findet. Hier geht es dann eher darum, zu entschlüsseln, in welcher Weise die Anwendung von Techniken die Fähigkeiten des menschlichen Körpers erweitert. Es geht weniger um den Entstehungs- als vielmehr um den Verwendungszusammenhang. Das soll zeigen, dass wir uns bei der Techniknutzung die Artefakte gewissermaßen einverleiben – wir verwachsen mit unserem Auto zu einer Rennreisemaschine, die über die Autobahn rast. Ein guter Fahrer spürt eben, wo das Fahrzeug aufhört, was ja bei heutigen Autos immer wichtiger wird, weil man dank schickem Design beim Rückwärtsfahren schon lange nichts mehr sieht. Und schon im durch Artefakte wie Fenster, Brille oder Fernrohr vermittelten Blick gehen wir auf diese Weise eine Symbiose mit der Technik ein.

Diese Technik ist dann aber auch so transparent, dass wir sie kaum noch wahrnehmen, und falls doch, dann nur als Druckgeber auf der Nase, nicht aber als Manipulator des Gesehenen! Allerdings ist hier »Symbiose« ganz klar metaphorisch, nicht biologisch und schon gar nicht evolutionstheoretisch gemeint. Interessant ist doch, wie nahezu umstandslos wir uns technische Artefakte derart einverleiben können, dass wir sie selbst kaum noch als getrennt von unserem Körper wahrnehmen – und wie leicht wir uns dann trotzdem von ihnen trennen können – nein, das glaubt jetzt natürlich keiner, daher als Nachsatz: falls wir ein besseres Artefakt als Ersatz angeboten bekommen.