Ist ein globales demokratisches System möglich?

Joel Marsden über seinen Dokumentarfilm "World Vote Now" und den Feldversuch globaler Wahlen

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Acht Jahre lang hat der Filmemacher Joel Marsden an dem ambitionierten Doku-Werk "World Vote Now" (Trailer) gearbeitet. Er hat die demokratischen Prozesse in 26 Ländern untersucht und erfolgreich einen Feldversuch globaler Wahlen durchgeführt. Er ist überzeugt, dass eine globale Demokratie nicht nur machbar ist, sondern auch, dass ihre Realisierung immer näher rückt.

Welche Grundidee brachte Sie dazu, das Filmprojekt "World Vote Now" in Angriff zu nehmen?

Joel Marsden: Durch andere Filmprojekte hatte ich Gelegenheit, in der Welt herumzukommen, und sah wirkliche Armut und Entmündigung von Menschen. Es erschlägt einen wie eine Tonne Ziegelsteine, wenn einem bewusst wird, was es für die Menschen bedeutet, täglich in so einer Situation zu erwachen. Auf der globalen Ebene bekam ich den Eindruck eines absolut zerstörten, korrupten und ausbeuterischen Systems. Nach einer Weile fragte ich mich, ob es möglich wäre, einen großen sozialen Wandel herbeizuführen.

Möglicherweise werden wir nie in der Lage sein, all diese schlimmen Praktiken gänzlich zu beenden. Aber können wir wenigstens das Spielfeld einebnen? Eine wirkliche Verbesserung im Leben von Milliarden von Menschen erwirken? Und warum sollte man dazu nicht die Mechanismen nutzen, die bis zu einem gewissen grad auf der nationalen Ebene bereits funktionieren? Mann muss sich nur Spanien ansehen … die Menschen können sich über die Politik beschweren, soviel sie wollen, aber kaum einer würde die Uhr um dreißig Jahre zurückdrehen wollen. Warum nicht ein demokratisches Modell anwenden, um den Mangel an global governance auszugleichen? Das erscheint definitiv besser und logischer als das derzeitige Chaos und das, was Desmond Tutu "globale Apartheid" genannt hat.

Ich musste mich dem Thema systematisch annähern. Ich musste jeden Aspekt eines globalen Referendums austesten, musste herausfinden, ob so etwas überhaupt machbar ist. Da ging es nicht nur um die technischen und logistischen Herausforderungen, sondern auch um die Frage, ob ein globales demokratisches System überhaupt erwünscht ist, wie man es richtig aufbaut, wie es auf sozialer Ebene funktioniert, welche Fragen ein globales Referendum aufwirft und wie sich die Entscheidungen einer Weltwahl umsetzen lassen.

26 Länder zu bereisen war sicher aufwändig. Wie lange haben Sie an dem Film gearbeitet, und wer hat Sie dabei unterstützt?

Joel Marsden: Den Film zu drehen hat acht Jahre gedauert, und eine Handvoll sehr freundlicher privater Investoren hat uns unterstützt, darunter die Firma BUS aus Madrid und ein riesiges globales Netzwerk aus Aktivisten und Freiwilligen. Ich denke, alle bewegte die Frage, ob ein globales demokratisches System tatsächlich umsetzbar ist. Wir organisierten eine Reihe systematischer Feldversuche. Wir wollten mindestens drei Länder jeder Weltregion abdecken, und ganz besonders wollten wir die bestehenden demokratischen Systeme in Aktion beobachten, insbesondere in Gegenden, die besonders herausfordernd sind. Dafür arbeiteten wir mit ortsansässigen NGOs zusammen.

So gelang es uns, die ersten Wahlen, die überhaupt in der Demokratischen Republik Kongo abgehalten wurden, zu beobachten. Das ist ein Moment, in dem man realisiert, welche Intensität die Abwesenheit von Demokratie birgt und wie verzweifelt sich die Menschen danach sehnen. Wohlgemerkt, es geht nicht bloß ums Wählen. Ich spreche von den wichtigen Eigenschaften der Demokratie: Meinungsfreiheit, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte. Wir haben Wahlen in Kaschmir, Iran, Venezuela und Sibirien unter die Lupe genommen. Allerdings waren die Dreharbeiten in all den Ländern nur ein Aspekt der Produktion.

Einer der Momente, die bei mir den größten Eindruck hinterlassen haben, war, als wir eine globale elektronische Wahl simulierten. Wir haben ein ganzes Jahr damit verbracht, ein globales Netzwerk ziviler Organisationen, sozialer Bewegungen und Freiwilliger aufzubauen, und um wenigstens eine symbolische Wahlstation in jedem Land und Territorium zu haben. Zu dem Zeitpunkt, als wir den Versuch starteten, hatten wir registrierte Wahlstationen in 190 Ländern und Territorien. Nach und nach begannen helle Punkte auf unserer interaktiven Karte zu erscheinen – jedes Mal, wenn jemand seine Stimme abgab … erst auf den Pazifischen Inseln, wo die Datumsgrenze beginnt, und dann weiter über Asien, Afrika, Europa, Amerika. Achtundvierzig Stunden lang blinkten diese Punkte auf von Afghanistan bis nach Zimbabwe, und malten ein Bild dessen, was möglich ist.

Können Sie einige Beispiele geben für Demokratiedefizite in den Vorzeigedemokratien EU und USA? Und außerdem Beispiele für positive Elemente des demokratischen Prozesses in Ländern, von denen man das eher nicht erwarten würde?

Joel Marsden: Die individuellen demokratischen Mechanismen in jedem Land, jeder Region und jeder Kultur sind extrem unterschiedlich, ähnlich wie dies beim Essen oder bei der Musik der Fall ist. Manchmal sind sie so kompliziert, dass, wie in den USA, nicht einmal das Management einer Wahlstation in North Carolina erklären konnte, wie es eigentlich funktioniert. Manchmal ist es so elegant und simpel wie in Long Lamcin, tief im Regenwald Borneos, wo alle Mitglieder der Gemeinschaft zusammenkommen und über alle Themen entscheiden, indem sie ein kleines Stück Papier auf einen von zwei Tellern legen – Ja und Nein, eine Person, eine Stimme. Das war direkte Demokratie und die Variante, die mir am besten gefallen hat.

Aber wenn demokratische Prinzipen fehlen, kann man das körperlich spüren. In Konfliktzonen, in Diktaturen, in Gegenden extremer Armut kann man die Härte dieser Realität erfahren. Man fühlt die Angst und die Verzweiflung. Und genau das müssen wir ändern.

Der Film wurde im Februar im EU-Parlament gezeigt. Glauben Sie, dass Ambitionen für mehr Demokratie in der großen Politik auf fruchtbaren Boden treffen?

Joel Marsden: Die Weltpremiere von "World Vote Now" fand im vergangenen November beim Internationalen Dokumentarfilm Festival in Amsterdam statt. Damals war die Idee einer globalen Wahl eine hypothetische Frage. Zwei Wochen später zeigten wir den Film beim Klimaforum in Kopenhagen, wo schmerzhaft deutlich wurde, dass es absolut keine demokratischen Entscheidungsprozesse auf globaler Ebene gibt. In Kopenhagen war es Evo Morales, der als allererstes Staatsoberhaupt ein globales Referendum verlangte. Wenige Wochen darauf, bei der Vorstellung im EU-Parlament, sagte der Repräsentant des derzeitigen spanischen EU-Ratspräsidenten, dass wir die Rahmenbedingungen für einen globalen demokratischen Prozess schaffen sollen. Ich sehe einen schnell voranschreitenden Prozess. Gestern hatte ich eine Telefonkonferenz mit dem bolivianischen UN-Botschafter. Vom 19. bis zum 22. April wird es in Bolivien eine Konferenz geben, auf der der Weg zu einer weltweiten Wahl definiert werden soll.

Glauben Sie, dass globale Demokratie trotz der Hürden durch die Vetomächte eines Tages existieren wird?

Joel Marsden: Die Menschen dieser Welt wollen ein Mitspracherecht haben, wenn es darum geht, wie die Welt organisiert ist. Dieses Verlangen kann niemand unterdrücken. Was wir nun tun müssen ist, ein gesundes globales demokratisches System errichten, und nicht wieder eines, das nur so tut.