Das große baltische Atomrennen

Ende 2009 schien das atomare Zeitalter im Baltikum zu Ende zu gehen - nun forcieren Russland, Polen, die baltischen Staaten und Belarus den Bau neuer Atommeiler

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Was kommt nach dem Atom? Bis zu 88 Prozent aller in Litauen generierten Energie entfiel 1993 auf die Atomkraft. Zu Jahresanfang ging aber das Atomzeitalter in Litauen (vorläufig?) zu Ende. Wie geht das Land – und auch die gesamte Region - mit dieser fundamentalen Umstellung der energetischen Basis um? Es waren immerhin noch 70 Prozent des litauischen Strombedarfs, die der am 31. Dezember 2009 abgeschaltete zweite Reaktorblock im ostlitauischen Kernkraftwerk Ignalina deckte. Dessen Stilllegung wurde im Rahmen der EU-Beitrittsverhandlungen mit Litauen vereinbart. Der erste Reaktorblock des Atomkraftwerks wurde bereits Ende 2004 vom Netz genommen.

Knapp drei Monate nach Stilllegung des Atommeilers in Ignalina ist die litauische Regierung vor allem um eine Diversifizierung der Energieversorgung des rezessionsgeplagten baltischen Landes bemüht. Mit dem Wegfall der beiden Atomreaktorblöcke mit ihrer Gesamtleistung von 2750 Megawatt (MW) stieg die Abhängigkeit Litauens von fossilen Energieträgern rasch an, die hauptsächlich aus oder über die Russische Föderation bezogen werden müssen. Derzeit liefert Russland beispielsweise nahezu 90 Prozent des in Litauen konsumierten Erdgases. So wird auch der derzeit größte Energieproduzent des Landes, das Öl- und Gasturbinenkraftwerk Elektrenai (Kapazität: 1800 MW), mit russischen Energieträgern beliefert. Elektrenai wurde bis Ende 2009 nur zu einem Bruchteil seiner Kapazität genutzt, doch generiert es jetzt bei voller Kapazitätsauslastung an die 65 Prozent der gesamten in Litauen genutzten Elektrizität.

Auf der Suche nach alternativen Energielieferanten lässt man in Vilnius seinen Blick bis zum Kaukasus schweifen. In Kooperation mit Polen intensivierte Litauen in den vergangenen Wochen die Bemühungen zur Realisierung des seit Jahren in der Schwebe befindlichen Odessa-Brody-Pipelineprojekts, das die Beförderung aserbaidschanischen Erdöls über die Ukraine bis nach Polen und ins Baltikum vorsieht. Das Projekt sei "wirtschaftlich sehr attraktiv, da es viele Länder betrifft, von Aserberbaidschan über Polen bis Litauen", erläuterte der litauische Botschafter Kestutis Kudzmanas gegenüber der Nachrichtenagentur Trend News Agency am 15. März. Es komme nur auf den "politischen Willen der beteiligten Länder an". Daran dürfte es weiterhin hapern, da eine Beteiligung der neuen, auf einen Ausgleich mit Moskau bedachten ukrainischen Führung an diesem klar gegen russische Interessen gerichteten Projekt fraglich bleibt.

Kurzfristig wird Litauen zweifelsohne auf dem Feld der Energiepolitik zu Konzessionen gegenüber Russland übergehen müssen. Einen ersten Einblick in dieses energiepolitische Quidproquo gewährte der litauische Botschafter in Belarus, Edminas Bagdonas, auf einer Pressekonferenz Anfang März, während der dieser das Interesse Litauens beteuerte, erneut mit Öl aus der durch Belarus verlaufenden Pipeline "Freundschaft" beliefert zu werden. Im Gegenzug könnte sich Bagdonas durchaus vorstellen, dass Vilnius dem Verkauf eines Anteils am litauischen Ölverarbeitungskomplex Mazeikiu Nafta an russische Investoren zustimmt.

Russland ist im Rahmen seiner geopolitischen Konzeptionen eines "Energieimperiums" bemüht, alle Glieder der Wertschöpfungskette im Energiesektor – von der Förderung, den Transport, der Weiterverarbeitung bis zum Verkauf an Endkunden - unter weitgehende Kontrolle zu bringen. Hierzu gehört auch die einzige Ölraffinerie Litauens, die Teil von Mazeikiu Nafta ist. Die Beteiligung russischer Energiekonzerne an diesem Energieunternehmen, wie beispielsweise Rosneft, wäre eine Art "Gegenleistung für die Garantie der Wiederaufnahme der russischen Öllieferungen über die Freundschaft-Pipeline", meldete die russische Nachrichtenagentur RIA-Novosti.

Mittelfristig möchte Litauen – wie auch andere baltische Staaten – durch Umbau und Modernisierung des Stromnetzes diese Abhängigkeit von russischen Energielieferungen zumindest mindern. Ein dichtes, noch zu Sowjetzeiten errichtetes Elektrizitätsnetz verbindet Litauen mit Lettland und Belarus – und mittelbar auch mit Russland. Nun sollen Hochspannungsleitungen Litauen und das Baltikum mit Polen und vor allem den skandinavischen Ländern verbinden und somit Energielieferungen aus dem Süden und Norden ermöglichen. Hierdurch würde das Baltikum in das europäische Energienetz integriert. Es wird aber voraussichtlich noch etliche Jahre dauern, bis diese kostspieligen Projekte realisiert werden können.

Kurzfristig führte die Abschaltung des Atommeilers in Ignalina überdies zu einer weiteren Verschärfung der ohnehin desolaten wirtschaftlichen Lage in Litauen, das im vergangenen Jahr einen regelrechten Wirtschaftseinbruch im Umfang von 15 Prozent des Bruttoinlandsprodukts durchlebte. Allein im Januar stiegen die Preise für Elektrizität im Land um 33 Prozent, was zu einem zusätzlichen Inflationsschub von 1,3 Prozent führte. Mehrere Tausend Menschen demonstrierten am 27. Februar gegen den Anstieg der Energiepreise, die Schätzungen zufolge noch um weitere 70 Prozent zulegen dürften. Überdies ist Litauens Position als Elektrizitätsexporteur in Gefahr.

Um den mit der Abschaltung des litauischen Atommeilers einhergehenden Einbruch in der Energieproduktion im Baltikum zumindest etwas zu mindern, gewährte die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung Litauen einen Kredit in Höhe von 71 Millionen Euro, um ein modernes Gasturbinenkraftwerk in Elektrenai zu errichten, das etliche der veralteten Kraftwerkskomponenten ersetzen und dessen Kapazität um weitere 150 MW erhöhen soll. Dennoch bleibt auch bei dieser Modernisierung dass grundlegende Problem der Energiesicherheit für Litauen bestehen.

Polen, Russland und Weißrussland wollen in der Region AKWs bauen

Ihre energetische Unabhängigkeit könnten die Länder der Region ausgerechnet durch den Bau eines neuen, modernen Atomkraftwerks langfristig zu gewährleisten versuchen. Seit 2006 befinden sich Polen, Lettland, Estland und Litauen in Verhandlungen über den Bau eines neuen Atommeilers. Die wirtschaftlichen Probleme der letzten Jahre warfen dieses Projekt aber immer wieder zurück. Selbst bei einer raschen Einigung würde ein neues baltisches Kernkraftwerk nicht vor 2018 ans Netz gehen.

Auch im Litauen würde ein solches Comeback der Atomkraft die "Investitionen in regenerative Energiequellen verringern", warnte der litauische Energieexperte Bronius Rasimavicius. Der Anteil regenerativer Energieerzeugung konnte in Litauen in den letzten Jahren von 8,7 Prozent immerhin auf geschätzte 12 bis 15 Prozent erhöht werden.

Während die baltischen Staaten noch die Machbarkeit dieser nuklearen Renaissance diskutieren, startet der Kreml in diesem baltischen Atomrennen bereits durch. Russland ist ebenfalls bestrebt, durch den Bau eines Atommeilers in der russischen Ostsee-Exklave Kaliningrad das Energiedefizit in der Region zu decken. Nachdem Litauen Anfang Februar ein entsprechendes Angebot des Kreml zur Kooperation beim Kernkraftbau abgelehnt hat, verfügte der russische Ministerpräsident Wladimir Putin am 24. Februar den Bau eines Meilers mit einer Gesamtleistung von 2300 MW in der nördlichen Kaliningrad-Region Neman.

Bei diesem Atomprojekt, das in etwa 4,5 Milliarden Euro verschlingen soll, hofft die russische Regierung auf die Beteiligung "ausländischer Investoren". Die staatliche russische Atomenergie-Holding Rosatom will 51 Prozent der AKW-Aktien selbst halten, während Minderheitenbeteiligungen auch westlicher Konzerne erwünscht seien. Das Kernkraftwerk soll explizit dem Energieexport in die Europäische Union dienen. Inzwischen hat Siemens sein Interesse an der diesem brisanten Geschäft bekundet. Siemens genießt bei seinem nuklearen Engagement in Russland übrigens finanzielle Rückendeckung seitens der Berliner Politik, wie etliche Anti-AKW-Initiativen feststellten:

Es ist absolut unverständlich, dass ausgerechnet die deutsche Bundesregierung für zwei weitere AKWs nun auch noch Kreditbürgschaften zur Verfügung stellen will. Die Bundesregierung sollte sich in Russland besser um die langfristige Sicherung der 27 000 Tonnen Uranmüll aus der westfälischen Urananreicherungsanlage Gronau kümmern, die am Ural und in Sibirien auf der freien Wiese lagern.

Vladimir Slivyak von Ecodefense

Unbeeindruckt von der russischen Nuklearoffensive gehen auch die polnischen Planungen zum Bau eines Atomkraftwerks weiter. Der polnische Atommeiler soll auf den Ruinen der 1990 aufgegebenen Atombaustelle Zarnowiec entstehen und somit die malerische Hügellandschaft der polnischen Küstenregion verschandeln. Zwei Reaktorblöcke sollen an diesem Standort errichtet werden, der sich in unmittelbarer Nähe der Ostsee befindet. Bislang hätten die atomaren Investitionsruinen nur eine weitere "Touristenattraktion" in dieser Erholungsregion dargestellt, berichteten polnische Medien, doch nun solle die sich auf 20 Milliarden Euro summierende Investition zügig vorangetrieben werden. Bis Jahresende würde demnach die Wahl der "Investitionspartner" wie auch der Nukleartechnologie abgeschlossen sein.

Schließlich könnte mit Weißrussland auch das Land im Nuklearwettlauf in der Region einsteigen, das wohl am meisten unter Folgen der Atomkatastrophe in Tschernobyl zu leiden hatte. Der belarusische Meiler, den Minsk eventuell in Kooperation mit Moskau bis 2018 erreichten möchte, würde in der Nähe der litauischen Grenze, in Astraviec, errichtet. Auch bei dieser Standortwahl spielen offenbar Überlegungen zum Energieexport eine wichtige Rolle. Dabei ist es noch weiterhin unklar, ob dieses Atomprojekt realisiert wird. Letztendlich könnte dieses Vorhaben noch daran scheitern, dass Russland seinem eigenen Kernkraftwerk in Kaliningrad keine Konkurrenz beim Energieexport machen will.