Eisenstein mit Kulleraugen

Von Girlie bis Hannah Arendt, von Poesie bis Porno - die reiche Welt des japanischen Animationfilms und ihr Einfluss auf den Westen

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Zumindest eines haben Animes und Pornos gemeinsam: Sie sind leicht zu erkennen und schwer zu definieren. Insofern sich "Anime" auf den Begriff Animation bezieht, wird es sowieso zunehmend komplizierter: Denn immer weniger Filme kommen ganz ohne Animations-Sequenzen aus. Nur sind diese normalerweise heute weit schwerer zu erkennen als früher. Da sprach man nicht von Animation, sondern noch schnöde von "Zeichentrick". Anime (mit Betonung auf dem "A"), die Filmversion japanischer Manga-Comics, hat seit seinen Entstehungszeiten eine ganz eigene, stark stilisierte Ästhetik und Poesie ausgeprägt.

Biene Maja. Bild: Zuiyo Enterprises

Anime wurden allzu lange im Westen verachtet. Zwar gab es schon in den 50er Jahren erste Anime auf europäischen Filmfestivals zu sehen. Sie stammten von Noburo Ofuji, der immerhin in Cannes einen Kurzfilmpreis gewann. Aber auch in den folgenden Dekaden passierte wenig: Seit den 1970er Jahren tauchten dann im Fernsehen die Kinder-Zeichentrickserien Heidi, Biene Maja, Robin Hood und Wickie auf.

Ihre japanische Herkunft wurde versteckt, nur wenige wussten, woher sie stammten. Die kulturelle Begegnung blieb einstweilen völlig einseitig: Anime-Autoren schlachteten die Nibelungensage und Motive von Jules Verne, die Märchen von Andersen und den Brüdern Grimm und viele andere alteuropäische Kulturquellen ähnlich dreist aus, wie dies das Hollywood-Studio von Walt Disney schon lange getan hatte - allerdings viel viel freier. Weniger beflissen, und zugleich weniger ideologisch.

Heidi. Bild: Zuiyo Enterprises

Die Anime-Aneignung des Europäischen ist eine sehr japanische Art des Umgangs mit fremdem Kulturgut: Es wird hier einerseits nach Gutdünken übernommen, zugleich aber reformuliert, neu verpackt und ganz definitiv in die eigene Kultur integriert, japanisiert: So zum Beispiel ähnelt die Anime-Version der Drei Musketiere in weiten Strecken exakt der Vorlage von Alexandre Dumas - außer einem entscheidenden Unterschied: Aramis ist eine junge Frau, die sich für einen Mann nur ausgibt.

Oder die Anime-Version von Grimms "Aschenputtel"-Märchen: Die ersten und die letzten Kapitel sind nahezu völlig mit der Vorlage identisch. Aber in der Mitte wird die Heldin von Piraten gekidnapped. Die folgende wilde Seeräubergeschichte dient dann außer der Vermeidung von zuvel Betulichkeit nicht zuletzt auch dazu, das Ganze auf größere Länge zu bringen. Denn allzuviel Zeit lassen darf sich kein Anime-Erzähler. Tempo ist oberstes Gebot, und besonders innovativ sind diese Filme darin, in jeden Moment so viel verschiedenen visuellen Inhalt wie möglich unterzubringen.

Märchen und Realismus, Kindergeschichten und Schrecken

Die Ignoranz des Westens dauerte unglaublich lang und endete endete erst 1988. Da tauchte Katsuhiro Otomos düsterer Science-Fiction Akira auf europäischen Leinwänden auf, kurz darauf Isao Takahatas erschütternder Antikriegsfilm Die letzten Glühwürmchen. Beide begeisterten ästhetisch, zugleich konnte man sie nicht mehr wie ihre Vorgänger als Kinderkram abtun.

Akira. Bild: Akira Committee Company Ltd.

Die Hauptfigur von "Die letzten Glühwürmchen" ist ein Junge, der mit seiner fünfjährigen Schwester durch das vom Bombenkrieg zerstörte Kobe irrt. Er gehört keineswegs zufällig zur Generation des 1935 geborenen Takahata, der zuerst Literatur studierte, bevor er in den Sechzigern als Seiteneinsteiger zur Anime-Szene stieß. Er begann in den heute renommierten, seinerseits absolut modernen und quer zu den Trends des Autorenkinos stehenden Toei-Studios. Nach einem ersten eigenen Film tat er sich Anfang der siebziger Jahre mit Hayao Miyazaki (siehe Der letzte Mohikaner der Old-School-Animation zusammen.

Gemeinsam schufen sie die Fernsehserie Heidi und weitere Werke. Nach Miyazakis überraschend erfolgreichem Spielfilm "Nausicaä of the Valley of the Wind" (1984) gründeten sie Mitte der Achtziger zusammen das inzwischen legendäre Ghibli-Studio und legten mit zwei gleichzeitig produzierten eigenen Animes, Miyazakis "Mein Nachbar Totoro" und eben den "Glühwürmchen", die Grundlage für eine beispiellose Erfolgsgeschichte, die das Kino - weit über Anime hinaus - mehr verwandelt hat als alle Erfolge von Walt Disney.

Die letzten Glühwürmchen. Bild: Studio Ghibli

Das Erfolgsgeheimnis von Ghibli liegt vermutlich gerade in dieser Kombination zweier Ungleicher, in der Verschmelzung der Begabungen von Takahata und von Miyazaki, in der wechselseitigen Verschränkung von Märchenhaftigkeit und Realismus. Denn während Takahata immer wieder zu den Schatten der japanischen Vergangenheit zurückkehrt und sozusagen Brutalitäten poetisiert, lädt Miyazaki - der 1941 geboren wurde und insofern im Unterschied zu Takahata das alte Vorkriegsjapan nicht mehr aus eigenem Erleben kennt - auf den ersten Blick harmonische Kinderfabeln mit Schrecken auf. Nur oberflächlich betrachtet, erlaubt er den Figuren, vor seinen epischen Untergangsvisionen in ein fantastisches Märchenreich zu fliehen. Zwar finden sie mitunter bei Hexen, Geistern und im Reich der Träume Trost, doch werden sie zugleich mit Bombenkriegen, Öko-Katastrophen und Weltuntergängen konfrontiert.

Meilensteine der Anime

Seitdem weckte die japanische Herkunft eines Films plötzlich Interesse. Manche schätzten Anime zudem als progressiveren, phantastischeren Gegenentwurf zur Niedlichkeit und konservativen Moral vieler Disney-Filme. Seitdem untermauerten weitere Anime-Meilensteine wie Mamoru Oshiis Ghost in the Shell (1995), Hiroyuki Okiuras Jin roh (1998), Perfect Blue (1998) von Satoshi Kon und Chihiros Reise, mit dem Hiyao Miyazaki 2002 bei der Berlinale den Goldenen Bär gewann, die Achtung für die Anime. Aber noch immer gab es erstaunliche Ignoranz: So weigerte sich noch 2002 Jan Schulz-Ojala in der Berliner Lokalzeitung "Tagesspiegel", Miyazakis "Chihiros Reise" anlässlich des "Goldenen Bären" als einen Film von gleichberechtigtem Rang Wert anzuerkennen.

So ging Zeit für die völlige Gleichberechtigung der Gattung verloren, was auch an der von manchen westlichen Fanboys und -girls vertretenen speziellen Variante von Orientalismus lag, die Anime unbedingt der klassischen bildenden Kunst gleichstellen möchte, sie damit ausschließlich als ästhetische Form betrachtet. Dabei sind Anime ein popkulturelles Phänomen, dem man nur beikommt, wenn man es kultursoziologisch und historisch untersucht, und im Kontext der Kulturindustrie, dessen Produkt sie sind.

Ghost in the Shell. Bild: Production I.G

Eben diese weniger kunstimmanente Betrachtung der Anime war die Absicht einer Retrospektive zum japanischen Animationsfilm beim Filmfestival von Locarno im August 2009, die einen Monat später noch durch eine umfangreiche Ausstellung am Turiner Filmmuseum ergänzt wurde. Unter dem Titel "Manga Impact. The World of Japanese Animation" zeigte die von Carlo Chatrian kuratierte Schau über 30 Langfilme, dazu 28 kürzere Filme und diverse Kurz- und TV-Programme und war damit die bislang größte europäische Anime-Schau.

Bisherige größere Ausstellungen hatten entweder ein kleineres Programm oder beschränkten sich auf rein historische Epochen, wie etwa die im Frühjahr 2009 beim Münchner Filmmuseum gezeigte Retrospektive der Anfänge der Anime vor 1953. Zusätzlich aufgewertet wurde die Schau in Locarno durch die Anwesenheit von mehr als zwei Dutzend Filmemachern - auch für so ein Ereignis gab es keine Vorläufer. Zudem hatte sich die Retrospektive von Locarno neben dem historischen Querschnitt die Aufgabe gestellt, auch nach dem Einfluss des Anime-Kinos auf andere Kulturen und entsprechende Wechselwirkungen zu fragen.

Man wolle überholte Vorstellungen über Anime abbauen, ergänzte Turins Direktor Alberto Barbera, zeigen, dass sich in Japan "eine sehr viel wichtigere kulturelle Revolution als diejenige von Walt Disney in den 30er Jahren" ereignet habe. Inzwischen hat die Anime-Faszination längst auch die Jugend des Westens infiziert. Es gibt Kinderfilme und Kriegsdramen, Pornos und Dokumentationen. Anime beeinflusst auch das bessere Massenkino, etwa in Mizuho Nishikubos atemberaubenden Anime-Sequenzen für Tarantinos Kill Bill 1 oder in Animatrix. Und es gibt Hybride, Verschmelzungen japanischer Anime mit etwas anderem.

Das Sesam-öffne-Dich der japanischen Kultur

Ein roter Balken schießt von rechts oben nach links unten, Gesichter wechseln im Stakkato-Rhythmus und Schriftzüge erscheinen in modernistischer Type auf der Leinwand - dann plötzlich wechselt das Bild, das gerade noch an die sowjetische Plakatkunst der zwanziger Jahre erinnert hatte, in ein nicht ganz scharfgestochenes Schwarzweiß. Man sieht eine schneebedeckte Landschaft, einen weißgrauen Himmel, der plötzlich von dutzenden Fliegern der deutschen Luftwaffe mit bedrohlich schwarzen Schatten bedeckt wird. Es folgen Panzer, "Säuberungen" mit dem Flammenwerfer, Soldaten, die mit Schäferhunden Jagd nach Menschen machen.

Auch diese Bilder des Terrors hinter der Ostfront im Herbst 1942 bleiben nur kurz auf der Leinwand stehen, dann springt der Film in eine Idylle in Grün und Sonnenblumengelb, die schnell als Erinnerungstraum entlarvt ist, bevor die Hauptfigur, das junge Waisenmädchen Nadja, ihren Kampf aufnimmt gegen Nazis und Deutschherrenordens-Kreuzritter zu Pferde, die als Dämonen des Mittelalters mitten im Zweiten Weltkrieg wiederauferstanden sind. First Squad: the Moment of Truth heißt dieser Film des Japaners Yoshiharu Ashino, der 2009 in Locarno seine internationale Premiere erlebte - der Höhepunkt der vier Filme einer "Manga Nacht", mit der das Filmfestival seine diesjährige Retrospektive feierte; das war im August vergangenen Jahres auf der "Piazza Grande" vor über 8000 Zuschauern und auf der angeblich größten Freiluftleinwand der Welt ein Erlebnis, das man so schnell nicht vergaß.

First Squad. Bild: Studio 4°C

In der Geschichte, die Ashino und das renommierte "Studio 4°C" ("Animatrix") erzählen, kämpft ein blondes russische Girlie mit japanischem Einschlag und Samurai-Schwert in einer Eliteeinheit gegen die deutschen Truppen und ihre Helfershelfer aus dem Geisterreich. Der Ansatz ist von dem gar nicht so verschieden, den auch ein Quentin Tarantino in seinem Film "Inglourious Basterds" praktiziert: Eine Kostümfilm, der historische Details weniger wichtig nimmt als die grundsätzliche Haltung, und Ashino treibt auch das Spiel mit Stilen und Zitaten aus der Kulturgeschichte ähnlich weit wie der Amerikaner: Eisensteins Filme, futuristische und konstruktivistische Malerei, sowjetische Musik aus den 30ern, Märchen und japanische Popkultur sind noch längst nicht alles, was in diesem Potpourri zusammengewirbelt wird, das trotz seiner Wildheit immer Sinn ergibt.

Die Einfälle, die hier auf den Betrachter einstürzen, könnten für drei Filme reichen, kondensiert zu den nur knapp 70 Minuten ist "First Squad" ein großartiger, ebenso kurzweiliger wie intelligenter Film. Und ein herausragendes Beispiel für die Wechselwirkungen zwischen Anime und anderen Kulturen. "First Squad" spielt nicht nur in Europa, es geht auch auf einen russischen Comic zurück, und das Drehbuch wurde von zwei Russen geschrieben. Die Bildsprache ist allerdings ganz und gar japanisch.

Andere, noch prominentere Künstler ließen sich gleichfalls von Anime beeinflussen: Ob Richard Linklater in "Waking Life" oder "A Scanner Darkly" oder der französische Noir-Film "Renaissance" oder Quentin Tarantinos "Kill Bill".

Was an diesen Beispielen klar wird: Ähnlich wie etwa Bollywood für Indien, ist Anime zum Sesam-öffne-Dich der japanischen Kultur geworden, zum globalen Universalschlüssel, der Japan der Welt erschließt und umgekehrt. Die Tür ist aufgestoßen, es gibt noch viel zu entdecken.

Heute abend startet der TV-Sender „arte“ einen zweiwöchigen Programmschwerpunkt über Hayao Miyazaki. Immer Montags und Donnerstags um 20:15 Uhr gibt es einen Film des Animationsfilm-Meisters. Den Anfang macht die Reihe heute mit „Chihiros Reise ins Zauberland“ (2001)

Teil 2: Das Beobachten des Beobachters