Schweinegrippe: Diskrepanz zwischen Warnungen und Wirklichkeit

Hat die WHO mit Übertreibungen der Gefahren das Vertrauen der Menschen eingebüßt?

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Die möglichen Gefahren, die von der Schweinegrippe (H1N1) ausgehen könnten, wurden von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) hoch angesetzt. Schon seit Jahren wurde immer wieder vor einer anstehenden verheerenden Grippewelle gewarnt, die Spanische Grippepandemie von 1918 diente dabei oft Vorlage (Angst vor der Grippe-Epidemie). Damals waren am Ende des 1. Weltkriegs Millionen von Menschen an den Folgen der Grippeinfektion gestorben (Wie tödlich wäre eine Grippe-Pandemie wie die von 1918?). Aber schon die Vogelgrippe im Jahr 2006, die als Kandidat galt, ließ die beschworene Katastrophe nicht eintreten (Nachricht aus der Sperrzone).

Jetzt also galt die Schweinegrippe als große Bedrohung, die viele Menschen dahinraffen könnte, wenn die Menschen nicht durch Impfungen geschützt und im Falle einer Erkrankung mit antiviralen Mitteln behandelt würden (Kommt die globale Grippe-Pandemie?). Die WHO rief, um sicher zu gehen und nicht nachträglich der Unverantwortlichkeit bezichtigt zu werden, die Pandemie aus, die Industriestaaten bestellten eilig Impfstoffe, die nationalen Gesundheitsbehörden spielten mit – und auch als die erste Welle relativ glimpflich abgeflaut war, wurde vor zweiten gewarnt, die nun endgültig die Gefahr mit sich bringen.

Weil aber die Menschen und auch manche Ärzte und Gesundheitsexperten, müde der vielen Warnungen und Katastrophenbeschwörungen und schon durch die letzte offizielle Panikwelle bei der Vogelgrippe immunisiert, erst einmal beobachten konnten, dass das Schlimme nicht einzutreten schien, sank die Glaubwürdigkeit der WHO und der nationalen Epidemienzentren und ließen sich viele Menschen gar nicht impfen. Daher sind die Regierungen auf die für teures Geld und in Panikstimmung gekauften Impfstoffen sitzen geblieben.

Sollte tatsächlich einmal eine wirkliche gefährliche Pandemie kommen, dann dürfte nun die Bereitschaft der Menschen noch geringer als dieses Mal sein. In einem Bericht an die Parlamentarische Versammlung des Europarats (PACE), der Ende April veröffentlicht werden soll und der dem Guardian vorliegt, kritisiert der Labour-Abgeordnete und Vizevorsitzende des Gesundheitsausschusses Paul Flynn, dass die WHO und andere Gesundheitsbehörden durch das Übertreiben der Gefahren das Vertrauen der Menschen in sie untergraben hätten. Das könne gefährlich werden und Leben kosten.

Flynn weist dabei auf die Diskrepanz zwischen den Warnungen und der Wirklichkeit hin. So habe das britische Gesundheitsministerium zunächst mit bis zu 65.000 Toten gerechnet. Anfang 2010 ging man noch von 1.000 Todesfällen. Im Januar wurde schließlich geschätzt, so Flynn, dass 5.000 Menschen infiziert worden waren und 360 daran gestorben sind. Zwar haben nicht alle europäischen Länder ein großes Impfprogramm aufgebaut, aber wer sich skeptisch zeigte wie die polnische Regierung wurde schief angesehen und galt als unverantwortlich.

Flynn führt die Übertreibung wie andere Kritiker auf den großen Einfluss der Pharmakonzerne zurück (Schweinegrippe: Geschäft mit der Angst). Die WHO sei nicht transparent genug gewesen, einige Mitglieder der Beratergruppen seien mit Pharmakonzernen vor allem über Forschungsgelder für Impfstoffe und Medikamente gegen die Grippe verbunden. Bislang habe die WHO ihre Neutralität nicht überzeugend darlegen können und nicht einmal die entsprechenden Erklärungen zu Interessenkonflikten vorgelegt. Unklar sei, ob Vertreter der Pharma-Konzerne direkten Einfluss auf Empfehlungen der WHO gehabt hatten. Der Verdacht bestehe auch, so Flynn, dass Formulierungen der Pharma-Konzerne als Empfehlungen übernommen wurde, ohne ausreichend wissenschaftlich geprüft worden zu sein.

Im Januar hatte die Parlamentarische Versammlung bereits eine erste Anhörung gemacht, bei der u.a. der Epidemiologe darauf hingewiesen hatte, dass die Spanische Grippe am Ende des 1. Weltkriegs unter völlig anderen Bedingungen ausgebrochen war. Soldaten und Bevölkerung waren oft unterernährt und geschwächt, es fehlte an Medizin, um die als Folge der Grippeinfektion auftretende Lungenentzündung zu behandeln, an der die meisten Menschen starben. Damals versuchte die WHO die Kritik von sich abzuweisen, indem sie behauptete, dass man die Mitgliedsstaaten unabhängig berate und sorgfältig darauf achte, nicht von Interessen beeinflusst zu werden. Im Fall der Influenza-A sei die Organisation "nicht von der Pharmaindustrie auf unangemessene Weise beeinflusst" worden. Die WHO geht im letzten Update von bislang weltweit 16.931 Todesfällen aus.

Der damalige Vorsitzende des Ausschusses, der SPD-Politiker Wolfgang Wodarg, hält die gegen die Schweinegrippe eingeleiteten Maßnahmen für "einen der größten Medizinskandale des Jahrhunderts" und bezeichnete die Pandemie als Fake. Es sei unverantwortlich, dass man Millionen von Menschen dem Risiko unzureichend getesteter Impfstoffe ausgesetzt habe. Heute findet die zweite Anhörung statt, zu der u.a. die polnische Gesundheitsministerin Ewa Kopacz eingeladen wurde, um zu erklären, warum ihr Land keine Impfstoffe bestellt hatte.