"Ausstieg aus der gesamten moralischen Geschichte"

Warum sich Joseph Ratzinger angesichts des sinkenden Kirchenschiffs kaum aus der Affäre ziehen kann

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Als Frauen- und Männerpaare in Europa endlich Rechtssicherheit beim Eingehen fester Partnerschaftsformen erlangt hatten, sprach Kardinal Joseph Ratzinger wiederholt – mit großer Theatralik – von einem "Austritt aus der gesamten moralischen Geschichte der Menschheit" und einer gravierenden "Auflösung des Menschenbildes". Warum eine zärtliche Partnerschaft von erwachsenen Menschen gleichen Geschlechts das Tor zur Hölle eröffnen soll, kann das kirchliche Lehramt bis heute freilich nicht plausibel erläutern. Erklärungen bleibt der Vatikan auch schuldig mit Blick auf die Schande der sexualisierten Priestergewalt an Kindern und Heranwachsenden. Es handelt sich hierbei durchaus um kein "modernes" Phänomen. Bei einer Fixierung auf die USA, Irland und – aktuell – auf den deutschsprachigen Raum werden die Enthüllungen kaum stehen bleiben.

Papst Benedikt XVI. Bild: Dongio. Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Joseph Ratzinger ist als oberster Glaubenswächter und hernach als Papst verantwortlich für den restaurativen Kurs des Römischen Kirchenschiffs, das sich derzeit mächtig im Sinken befindet. Zur bisherigen Bilanz seines Pontifikates gehören u.a. erneute Attacken gegen die Kirchen der Reformation und die lateinamerikanische Kirche der Armen, die Rehabilitierung der judenfeindlichen und dem letzten Konzil widersprechenden Tridentinischen Liturgie, der Skandal der Regensburger "Islam-Vorlesung", ein neuer Eurozentrismus und Zentralismus der lateinischen Kirche, die von einem renommierten katholischen Sozialwissenschaftler als "Schrottpapier" titulierte Sozialenzyklika, ein durch die Blume ausgesprochener Häresieverdacht1 gegen den großen Konzilstheologen Karl Rahner (1904-1984), ein spektakulär angekündigtes Papstbuch, das in Wirklichkeit die meisten Leser langweilt und viele Brücken zur Aufklärung hin wieder abreißt, ein verantwortungsloses Kondomvotum mit Blick auf den von AIDS heimgesuchten afrikanischen Kontinent, Rückwärtsgänge bezogen auf die interreligiösen und pazifistischen Verdienste seines unmittelbaren Vorgängers, der drohende Supergau einer Seligsprechung ausgerechnet von Papst Pius XII. sowie die Öffnung der Kirchentore für rechtsradikale Traditionalistenkreise …

Die Skandale um Sexualität und Priesteramt werden wohl die nachhaltigste Krise dieses Pontifikates bewirken, denn hier zeichnet sich erstmals ein durchgreifender Widerspruch aus dem bürgerlichen Kirchenvolk ab, der auch bislang unverdächtige Kirchengetreue erfasst. Auf der Beliebtheitsskala macht der Pontifex einen Sturzflug nach unten. Ratlose und depressive Theologen wissen in diesen Tagen kaum, wie sie angesichts all der abscheulichen Grabbeigaben des Karfreitags eine fröhliche Osterpredigt zuwege bringen sollen. Äußerungen der besonders romtreuen Bischöfe rufen bei den Opfern sexualisierter Gewalt, aber auch bei vielen Gläubigen Empörung hervor. Endlos ist die Geduld, mit der man unten Autismus und Unbeweglichkeit des römischen Systems zu tragen gewillt ist, wohl kaum.