Entscheidet das Internet die Wahl?

Vier Wochen vor der wichtigen Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen versuchen die Parteien noch einmal sämtliche Möglichkeiten auszuschöpfen

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Am vergangenen Wochenende läuteten die Parteien offiziell den Wahlkampfauftakt in Nordrhein-Westfalen ein. Doch die bunten Events in Oberhausen (CDU), Düsseldorf (SPD) oder Köln (FDP) wirken zunehmend wie Relikte aus den frühen Jahrzehnten der Bundesrepublik. Das Interesse der Öffentlichkeit ist – wie schon bei den Urnengängen im sogenannten "Superwahljahr" 2009 – vergleichsweise gering und mitunter gelingt es nicht einmal mehr, das Parteivolk zwecks Unterstützung des eigenen Spitzenkandidaten zu mobilisieren.

Wie nahe der subversive Blog Wir in NRW der Wahrheit kam, als "Theobald Tiger" am vergangenen Donnerstag behauptete, bei der CDU seien bis Karfreitag magere 2.000 Anmeldungen für die christdemokratische Rüttgers-Inthronisation in der Arena Oberhausen eingegangen, kann selbstverständlich nur vermutet werden. Doch immerhin sah sich Pressesprecher Matthias Heidmeier umgehend zu einer öffentlichen Gegendarstellung veranlasst. "Die CDU hat kein Mobilisierungsproblem", wollte Heidmeier festgestellt wissen. Man rechne mit "deutlich mehr" als 4.000 Besuchern (am Ende waren es nach Parteiangaben gut 6.000) und habe es nicht nötig – wie von "Wir in NRW" behauptet -, den Fanclubs des Schmusesängers Roger Cicero kostenlosen Eintritt zu gewähren.

Dass sich ein Pressesprecher vier Wochen vor einer Wahl dieser Größenordnung und Breitenwirkung zu derart absonderlichen Themen äußert, verrät im Prinzip mehr als jedes Dementi. Doch die Frage, wie das zunehmende Desinteresse an den Aktivitäten der Mandatsträger und ihrer Parteien überwunden werden kann, stellt sich nicht nur der CDU.

Folgerichtig spielen alternative Wahlkampfstrategien eine immer wichtigere Rolle. Wenn die Bürger weder auf Wochenmärkten noch auf Rathaustreppen überzeugt werden wollen, moderne Multifunktionshallen ihren Dienst ebenso zuverlässig versagen wie Szenekneipen oder Universitätsgebäude und schließlich die immer gleichen Talkshows wirkungslos in den Kanälen versickern, müssen die neuen Medien herhalten.

Twitternde Grüne und rote Ruhrgebiets-Familien

Die Grünen haben die Zeichen der Zeit erwartungsgemäß früh erkannt und bieten nach Meinung vieler Beobachter "die 'zweinulligste' Homepage der fünf großen Parteien in NRW" an.

Ganz oben auf der Seite erfahren die User, wo sie die möglichen Königsmacher, die derzeit bei etwa 12 Prozent der Stimmen vermutet werden, sonst noch finden können: Ökologisch korrekte Inhalte gibt es also auf Twitter, Facebook, YouTube, flickr und studiVZ.

Nach dem Wahlprogramm, das mehr als 200 Seiten umfasst und deshalb offenbar nicht als Zwischendurch-Lektüre taugt, muss man etwas länger fahnden - und wer es übersieht, landet direkt auf einer interaktiven Karte, welche die "letzten Netz-Aktivitäten Grüner Mitglieder aus Nordrhein-Westfalen" verzeichnet.

Dabei verblüffen die Mitteilungen, die Spitzenpolitiker und solche, die es werden wollen, dem Rest der Welt zukommen lassen, immer wieder durch sachliche Präzision und gedankliche Tiefenschärfe. So twitterte Arndt Klocke am 9. April 2010: "Heute genau in einem Monat ist Landtagswahl."

Die SPD, die in der Düsseldorfer Philipshalle am Samstag "rund 4000" Genossen begrüßen konnte, wittert in Nordrhein-Westfalen Morgenluft. Denn auch wenn es nicht für die favorisierte Koalition mit den Bündnisgrünen reichen sollte, spricht doch einiges dafür, dass Spitzenkandidatin Hannelore Kraft über 30 Prozent der Stimmen gewinnen und damit die Hoffnung auf eine bundesweite Trendwende schüren könnte.

So gibt es neben der Homepage der Partei auch die private Internetseite von Kraft. Hier menschelt es so ausgiebig, dass für die unangenehme Agenda 2010 definitiv kein Platz mehr bleibt. Stattdessen kommen die Freunde gediegener Schwarz-Weiß-Bilder und längst vergessener SPD-Ideale voll auf ihre Kosten. "Wir sind von unserer ganzen Geschichte her eine wirkliche Ruhrgebiets-Familie", schwört Hannelore Kraft, die ihren steinigen Lebensweg mit Highlights ihres privaten Fotoalbums illustriert.

Mein Vater hatte acht Geschwister und irgendwann habe ich mal 36 Cousins und Cousinen gezählt. Mit Papa und Mama waren wir fast jede Woche auf einer anderen Familienfeier irgendwo im Ruhrgebiet. Viel weiter sind wir nicht gekommen.

Hannelore Kraft

Alles für Rüttgers – und was bleibt der FDP?

Die Berater des amtierenden Ministerpräsidenten Jürgen Rüttgers hätten das kaum herzergreifender formulieren können, doch der selbsternannte Arbeiterführer, für den gleich drei Internetauftritte werben, präsentiert sich lieber als nimmermüder Landesvater, der zwischen Terminen mit der Bundeskanzlerin und dem Dalai Lama noch Zeit findet, Baustellen und Museen einzuweihen oder mit den Bürgerinnen und Bürgern durch das schöne Nordrhein-Westfalen zu radeln.

"14 Stunden und mehr am Tag" arbeitet ein fleißiger Ministerpräsident, kein Wunder also, dass die User unter der Rubrik Freizeit und Familie nur drei Bilder vorfinden: Jürgen Rüttgers mit Familie und Brötchenkorb, Jürgen Rüttgers mit Frau und Pferdekoppel und dazwischen – wie sollte es anders sein – Jürgen Rüttgers am Schreibtisch.

Auch die offizielle Homepage der NRW-CDU und die "Unterstützerplattform" des Ministerpräsidenten, dem derzeit wenig Chancen eingeräumt werden, die Regierung mit der FDP fortsetzen zu können, kennen nur ein Thema: Jürgen Rüttgers. Gleiches gilt für die CDU-Aktivitäten im Bereich der sozialen Plattformen Twitter, Facebook, YouTube:http://www.youtube.com/user/CDUNRWpodcast oder meinVZ. Die Unterschiede zwischen den gesendeten Inhalten sind – wie bei der Konkurrenz – allenfalls marginal.

Auch die FDP, die sich mit der Bundespartei im Umfragetief befindet, fahndet nach Unterstützern, Freunden und Followers auf den gängigen Plattformen. Um Interessenten zum Wahlkampfauftakt im Kölner Infotainer zu locken, wurde also nicht nur mit "leckeren Butterbrezeln, Kölsch und anderen Getränke", der "Luftballonaktion 'Aufsteigerland NRW'" und dem vermeintlich charismatischen Spitzenkandidaten Andreas Pinkwart geworben.

Trotzdem wirken die Liberalen angesichts ihrer geringen Chancen, noch einmal in die Landesregierung gewählt zu werden, prophylaktisch frustriert und sehr viel zurückhaltender als bei der Bundestagswahl im Herbst 2009. Das Wahlprogramm ist zwar schnell gefunden, aber schon der Link zur "Kampagnen-Seite" funktionierte Ende vergangener Woche nicht. Stattdessen gibt es die Wahlkampfstrategien, die beim Auftakt in der Kölner Innenstadt nicht wirklich zündeten, nun als pdf-Dokument.

Die Homepage des Spitzenkandidaten und amtierenden Ministers für Innovation, Wissenschaft, Forschung und Technologie passt sich diesem wenig ambitionierten Gesamteindruck an. Unter der Rubrik Biographie wird vor und nach dem schmalen Textbeitrag auf externe Quellen – einen Focus-Fragebogen und den Eintrag bei Wikipedia – verlinkt.

Linke Online-Aktivisten und Piraten mit "LiquidFeedback"

"Herzlich willkommen bei linksaktiv.de, der linken Online-Community. Hier kannst du dich mit anderen Linken treffen, dich austauschen und dabei helfen, die Linke stärker zu machen." Auf der Homepage der nordrhein-westfälischen Linken rangiert die parteieigene Plattform, auf der User nach vorheriger Registrierung auch "Fotos hoch laden, Videos einbinden und Blogs schreiben" dürfen, schon rein optisch über Twitter, Facebook und anderen Angeboten.

Überhaupt setzt die Partei, deren Regierungstauglichkeit auch im linken Spektrum, namentlich bei SPD und Grünen, umstritten ist, im Online-Bereich auf eine klare Raumeinteilung und jede Menge Text. Unter diesen Umständen kann schon ein schmaler Teaser zur detaillierteren Generalkritik an fünf Jahren schwarz-gelber Landesregierung werden.

NRW braucht gerechte Löhne und menschenwürdige Arbeitsbedingungen. Ministerpräsident Rüttgers schmückt sich gerne mit sozialer Rhetorik. Dabei hat er 2006 das Tariftreuegesetz in NRW abgeschafft, die Mitbestimmung im öffentlichen Dienst geschliffen und Leiharbeit im öffentlichen Dienst, wie im Uniklinikum Essen, zugelassen.

DIE LINKE. Nordrhein-Westfalen

Die Piratenpartei, die im größten Flächenland an die mitunter überraschend großen Erfolge der vergangenen Monate anknüpfen will, hat darauf verzichtet, Unsummen in die Gestaltung der zentralen Internetplattform zu investieren. Erhöhte Aufmerksamkeit ist ihr gleichwohl sicher, denn mit der selbst entwickelten Software "LiquidFeedback" soll der parteiinterne Diskurs nichts weniger als "revolutioniert" werden. Den Piraten schwebt angesichts steigender Mitgliederzahlen eine virtuelle Mischform aus direkter und indirekter Demokratie vor.

Mit der Software können die Parteimitglieder Vorschläge erarbeiten, diskutieren und zur Abstimmung stellen. Wer einen Vorschlag einbringt, kann die Zustimmung anderer zu dieser Idee erfragen und erfährt, durch welche Änderungen er weitere Unterstützung gewinnen oder verlieren kann. Die Stimmberechtigten beeinflussen die Vorschläge durch ihr Feedback, regen Änderungen an oder machen Konkurrenzvorschläge, die wiederum dem Feedbacksystem unterliegen. Das Ergebnis entsteht durch einen offenen Wettstreit der besten Ideen.

Piratenpartei NRW

Um das Ergebnis der anstehenden Landtagswahl positiv zu beeinflussen, könnte "LiquidFeedback" allerdings zu spät kommen.

Verschwindend geringe Minderheit hat Meinungsführerschaft im Web 2.0

"Das Internet wird wahlentscheidend", glaubten der Hightech-Verband BITKOM und das Meinungsforschungsinstitut Forsa bereits vor der letzten Bundestagswahl. Thorsten Quandt, Professor für interaktive Medien- und Onlinekommunikation der Universität Hohenheim, hält diese These allerdings für deutlich verfrüht.

Nach der Auswertung einer repräsentativen Befragung von 1.000 Wahlberechtigten, die Forsa im Dezember 2009 durchführte, kommt Quandt zu dem Ergebnis, dass die deutschen Wähler ganz andere Prioritäten setzen als die US-Amerikaner beim Präsidentschaftswahlkampf 2008, der maßgeblich von Online-Aktivitäten beeinflusst wurde. Nur 36 Prozent der Bevölkerung haben sich nach Quandts Berechnungen hierzulande im Netz über den Wahlkampf informiert – der Vergleichswert aus den Vereinigten Staaten liegt bei 58 Prozent.

Entsprechend gering stufen die Deutschen den politischen Informationswert des Internets ein, das als hauptsächliche Quelle mit 13 Prozent zwar vor dem Radio (11 Prozent), aber deutlich hinter dem Fernsehen (52 Prozent) und den Zeitungen (22 Prozent) rangiert.

Im internen Vergleich der Online-Nutzung kommt den Medien des Web 2.0 überdies keine besondere Relevanz zu. Als Informationsquellen dienen stattdessen die entsprechenden Seiten von Großportalen und Suchmaschinen, die Homepages von Tageszeitungen und Zeitschriften, Parteien und Kandidaten oder TV-Sendern. Zwar konnten grundsätzlich desinteressierte Wähler über Foren und Social Networks etwas leichter erreicht werden, doch eine tatsächliche Mobilisierung ließ sich offenbar nicht feststellen.

23 von 31 Social Networking-Interessierten und 46 von 61 Foren-Nutzern geben an, vornehmlich die Beiträge anderer gelesen zu haben, anstatt selbst aktiv zu kommunizieren. Die Folge ist, dass es einer verschwindend geringen Minderheit im Promillebereich gelingt, die Meinungsführerschaft im web 2.0 zu übernehmen.

Thorsten Quandt

Entspannte Beobachter mögen es beruhigend finden, dass der Mangel an persönlicher und politischer Glaubwürdigkeit oder inhaltlicher Überzeugungskraft offenkundig nicht ohne weiteres durch einen Wechsel des Mediums kompensiert werden kann. Doch diese Situation dürfte sich in absehbarer Zukunft ändern, meint selbst der Online-Skeptiker aus Hohenheim.

Eine Unterscheidung nach Altersklassen lässt zumindest erwarten, dass das Wahlkampfmedium "Internet" an Bedeutung gewinnt: Innerhalb der jüngsten Alterskohorte der 18- bis 29jährigen Onliner (155 Befragte) stellt das Internet für 29 Prozent das wichtigste Medium zum Wahlkampf dar – geschlagen allein vom Fernsehen (49%), aber deutlich vor der Zeitung (19%).

Thorsten Quandt