40 Jahre Rote Armee Fraktion

Michael Sontheimer, der ein Buch über die Geschichte der RAF geschrieben hat, über den Einfluss der Geheimdienste, die Abenteuerlust, die Rolle der Frauen und die "Stalingrad-Mentalität" der RAF

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Äußerer Anlass für das Erscheinen von Michael Sontheimers Buch "Natürlich kann geschossen werden" - Eine kurze Geschichte der Roten Armee Fraktion, ist der 14. Mai 1970, der Tag, an dem ein Mann und vier Frauen – darunter Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof – in West-Berlin den Strafgefangenen Andreas Baader befreiten. Nicht nur für Sontheimer war dies die Geburtsstunde der Roten Armee Fraktion (RAF), die dann fast drei Jahrzehnte lang auch mit Mitteln des Terrors gegen Staat und Wirtschaft der Bundesrepublik Deutschland kämpfte.

Erst im April 1998 erklärte die RAF schließlich ihren Kampf für beendet. Sie ermordete in der Zeit 33 Menschen, 21 ihrer Mitglieder kamen ums Leben. Der entstandene Sachschaden beläuft sich nach Schätzungen auf rund 250 Millionen Euro.

Michael Sontheimer selbst wurde 1955 in Freiburg im Breisgau geboren. Er zählt zu den Gründern der Berliner tageszeitung (taz), war Redakteur und Autor bei der Zeit und arbeitet seit 1995 für den Spiegel. Außerdem schrieb er zehn Bücher zu politischen und zeitgeschichtlichen Themen. Sein Buch wird am 12. Mai um 19 Uhr im taz-Café in Berlin präsentiert mit einem Gespräch des Autors mit dem ehemaligen RAF-Mitglied Astrid Proll.

Für Sie ist die Befreiung von Andreas Baader am 14. Mai 1970 gleichzusetzen mit der Gründung der RAF. War deren Gründung nicht eher zufällig, also die Folge dieser Befreiungsaktion? Oder war sie schon zuvor gleichsam in den Köpfen der Beteiligten?

Michael Sontheimer: Schon als Gudrun Ensslin und Andreas Baader Anfang des Jahres 1970 noch in Rom waren, diskutierte in West-Berlin eine Gruppe um Horst Mahler, Manfred Grashof und andere die Gründung einer Stadtguerilla-Gruppe. Bei dem Versuch, Waffen zu beschaffen, verhaftete die Polizei dann den nach West-Berlin zurückgekehrten Baader. Gudrun Ensslin sorgte dafür, dass eine bewaffnete Aktion zu seiner Befreiung gestartet wurde. Die Gruppe trug zu diesem Zeitpunkt noch nicht den Namen Rote Armee Fraktion, beziehungsweise RAF. In der von Ulrike Meinhof verfassten Erklärung zur Baader-Befreiung findet sich allerdings die Parole: "Die Rote Armee aufbauen!"

Seit wann hieß die RAF denn dann RAF?

A. In der zweiten Schrift der Gruppe, dem im April 1971 veröffentlichten "Konzept Stadtguerilla" heißt es dann zum Beispiel: "Die Rote Armee Fraktion redet vom Primat der Praxis." In dieser in der linken Szene klandestin verbreiteten Schrift taucht auch erstmals das RAF-Logo auf, der fünfzackige Stern mit der Heckler-&-Koch-Maschinenpistole davor.

Haben schon bei den Anfängen der RAF Geheimdienste eine wichtige Rolle gespielt? Stichwort: Unterwanderung.

Michael Sontheimer: Schon vor der Gründung der RAF tauchte in der Kommune 1 ein Mann namens Peter Urbach auf, der bei der Reichsbahn arbeitete, in Wahrheit aber Mitarbeiter des West-Berliner Landesamtes für Verfassungsschutz war. Urbach brachte Brandbomben in die Kommune 1, und er war es auch, der Horst Mahler und Andreas Baader vorschlug, auf einem Friedhof in Berlin-Neukölln nach dort versteckten Feuerwaffen aus dem Zweiten Weltkrieg zu graben. Auf der Fahrt von erfolglosen Grabungen auf diesem Friedhof wurde Andreas Baader verhaftet. Der Verfassungsschutz war also mit einem Agent provocateur an der Entstehung des Terrorismus in West-Berlin und der Bundesrepublik direkt beteiligt. Dies ist ein kaum beachteter politischer Skandal ersten Ranges. Was der Verfassungsschützer Urbach zur Entstehung der Terror-Szene in West-Berlin tatsächlich beitrug, wurde nie aufgeklärt. Es gibt Hinweise darauf, dass er, nach seiner Enttarnung mit einer falschen Identität ausgestattet, sich in den USA niederließ.

Sie betonen den großen Anteil und sogar die Dominanz von Frauen in der RAF. So haben beispielsweise vier Frauen und nur ein Mann Baader befreit. Oder Finanzchefin war Gudrun Ensslin, Chefideologin Ulrike Meinhof, und auch später waren meist Frauen z. B. auf den Fahndungsplakaten in der Mehrheit. Haben Sie für all das eine Erklärung?

Michael Sontheimer: Die dominanten RAF-Frauen verstanden sich nicht vorrangig als Frauen, die für die Rechte der Frauen kämpften, sondern als antiimperialistische Militante. Heute muss man eingestehen: Die RAF war in punkto Gleichberechtigung eben Avantgarde. In der Gruppe spielte die sexuelle Orientierung auch keine Rolle. Lesben waren beispielsweise absolut akzeptiert.

Die bis zum Schluss in den Erklärungen der Gruppe verwendete radikale Kleinschreibung – war sie eher zufällig oder steckte dahinter eine Absicht?

Michael Sontheimer: Die systematische Kleinschreibung sollte den radikalen Bruch symbolisieren, den die RAF-Kader mit allem Bestehenden vollzogen hatten.

Andreas Baader wird ja meist gezeichnet als Macker, Macho, Frauenheld und als Autonarr, also als eher unpolitischer Typ. Bei Ihnen dagegen kommt er "besser weg", er besitzt also durchaus planerische Qualitäten und ist nicht nur ein "Schwanz gesteuerter" Rebell. Woher haben Sie dieses Bild? Und mit wie vielen ehemaligen RAF-Mitgliedern konnte Sie über die Geschichte und Struktur der Gruppe sprechen?

Michael Sontheimer: Mit vier Mitgliedern der Gründergruppe der RAF konnte ich ausführliche Gespräche führen und sie auch zur Person und zur Rolle von Andreas Baader befragen. Außerdem habe ich mit drei Anwälten und einer Anwältin gesprochen, die ihn verteidigt haben. Das Baader-Bild des beschränkten Machos geht auf Stefan Aust zurück, der Ulrike Meinhof, mit der der zusammengearbeitet hatte, zu positiv und Baader dafür zu negativ beschreibt.

Die RAF genoss ja vor allem unter jüngeren Leuten eine Zeitlang durchaus deren Sympathie – das zeigen Umfragen in den 70ern. Und es gab zahlreiche Sympathisanten – auch und gerade in der eigentlich autoritätsfeindlichen Spontiszene der Hochschulen. Was war für diese Leute der Reiz des bewaffneten Kampfes, des Lebens im Untergrund usw.?

Michael Sontheimer: Abenteuer; Bonnie and Clyde; David gegen Goliath. Das spielte alles eine Rolle. Die RAF-Leute riskierten ihr Leben für die Revolution. Ihr bewaffneter Existenzialismus imponierte manchen. Allerdings gingen ja nur – vernünftigerweise – die allerwenigsten der klammheimlichen Sympathisanten selbst in den Untergrund.

Sie sprechen ja vom Krieg der RAF gegen den Bonner Staat? Wann war dieser Krieg endgültig verloren?

Michael Sontheimer: Der Krieg war gar nicht zu gewinnen, das ahnten schon die RAF-Gründer. In der im April 1971 veröffentlichten Schrift heißt es: "Das Konzept Stadtguerilla der Roten Armee Fraktion basiert nicht auf einer optimistischen Einschätzung der Situation in der Bundesrepublik und Westberlin." Aber die RAF-Gründer ertrugen es nicht, angesichts des brutalen Krieges in Vietnam einfach nichts zu tun oder auf friedlichen Demonstrationen mitzumarschieren, die ihrer Meinung nach nichts brachten. Endgültig besiegt hat Helmut Schmidt die RAF im Herbst 1977, als er ihren Forderungen nicht nachgab, und die Befreiung der Geiseln in der "Landshut" glückte. Davon hat sich die RAF nie mehr erholt. Alles, was dann noch kam, waren Nachhutgefechte.

Und warum machten einige dann dennoch weiter?

Michael Sontheimer: Die ehemalige RAF-Frau Birgit Hogefeld hat diese sture Konsequenz einmal "typisch deutsch" genannt. Es klingt zynisch, aber man könnte diese immer weiter machen auch mit einer "Stalingrad-Mentalität" der RAF begründen. Man kämpft auch in aussichtsloser Situation für den Endsieg. Wenn man aufhören würde, müsste man ja eingestehen, dass man sich geirrt hat und würde dem Feind recht geben. Es ist interessant, dass sowohl Faschisten, als auch radikale Kommunisten glaubten, die realen Kräfteverhältnisse aushebeln zu können. Mit dem "revolutionären Bewusstsein", das glaubten Mao Zedong und die Roten Khmer von Pol Pot, ließen sich Berge versetzen. Hitler und Goebbels glaubten an den "fanatischem Willen", mit dem sich der Endsieg gegen die übermächtigen Alliierten erzwingen ließe.

Die RAF löste sich ja selbst 1998 auf. Wie viele Mitglieder der dritten Generation werden aktuell noch gesucht?

Michael Sontheimer: Das Bundeskriminalamt sucht aktuell noch drei einstige RAF-Mitglieder: Ernst-Volker Staub, Daniela Klette und Burkhard Garweg. Die letzten Spuren von Staub und Klette wurden nach der Auflösung der RAF bei einem Überfall auf einen Geldtransporter in Duisburg am 30. Juli 1999 gefunden, bei dem über eine Million Mark erbeutet wurden. Es sieht danach aus, dass die beiden ihre handwerklichen Kenntnisse noch einmal zur Sicherung ihrer Altersversorgung eingesetzt haben. Neben dem noch gesuchten Trio kann es allerdings auch bei der dritten Generation der RAF noch ein, zwei Mitglieder gegeben haben, die nie Spuren hinterlassen haben und nach denen überhaupt nicht gefahndet wurde. Das weiß niemand.