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Bundesverfassungsgericht erlaubt Internet-Bericht über Hanf züchtenden Politikerinnen-Sohn

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Erneut hat das höchste deutsche Gericht den Presserichtern aus Hamburg bescheinigt, dass sie das Grundrecht auf Meinungs- und Pressefreiheit in grober Weise missachten. Die Rechtspraxis des bedeutendsten Gerichtsorts für Medienangelegenheiten bezeichneten die Karlsruher Richter als eine verfassungsrechtlich bedenkliche Verkürzung. Der in Hamburg angemaßten Kompetenz, darüber zu befinden, woran Interesse der Öffentlichkeit bestehe, erteilte man eine klare Absage (AZ: 1 BvR 1891/05).

2003 lachten die deutschen Gazetten über eine missglückte Homestory einer Politikerin, deren 18-jähriger Sohn bei dieser Gelegenheit dabei ertappt wurde, im Blumentopf Hanf zu züchten. "Die grüne Aufzucht meines Sohnes" kommentierte die Mutter, während der Hobbygärtner verschämt die rechtsfeindliche Pflanze auf dem Kompost entsorgte. Dort fand sie auch die zeitungslesende Staatsanwaltschaft, die sich bei einer Hausdurchsuchung von einem TV-Team filmen ließ und sogar selbst eine Pressemeldung "Haschpflanze im Hause P." absetzte. Der Sohnemann ließ die Ausstrahlung verbieten, ertrug jedoch mannhaft den Spott der Printmedien (soweit bekannt).

"Die grüne Aufzucht meines Sohnes"

Die Partei, die um den Ruf ihrer damaligen Generalsekretärin fürchtete, verbreitete selbst eine Erklärung, der (volljährige!) Schüler habe bloß verschiedene Samen eingepflanzt, und einer davon habe sich halt zur Hanfpflanze entwickelt. Mit diesem Jux nicht genug, drohte die damalige Spaßpartei den Medien mit Konsequenzen für den Fall ihrer Ansicht nach unzutreffender Berichterstattung. Auch die Mutter persönlich äußerte sich öffentlich zu dem peinlichen Vorfall.

Aufbauend auf Agenturmeldungen über die Posse inklusive Link auf einen entsprechenden T-Online-Artikel veröffentlichte jemand im Internet den (hier anonymisierten) Text:

Polizei sucht Hasch im Hause P.

F.-Generalsekretärin C.P. hat Ärger mit der Justiz: Im Blumentopf ihres 18-jährigen Sohnes X. wächst eine Hanf-Pflanze. Auf Anordnung der Staatsanwaltschaft wurden Räume und Garten der Familie in H. durchsucht. Gegen X. wurde ein Ermittlungsverfahren wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz eingeleitet. [...]

Hamburger Landrecht

Im Jahre 2005 erstritt der Politikersohn, der sich nicht im Internet blamiert sehen wollte, vor dem Landgericht Hamburg ein Verbot, das auch vom Hanseatischen Oberlandesgericht bestätigt wurde. Die Richter vom Sievekingplatz sahen die Persönlichkeitsrechte des Pflanzenfreundes verletzt, weil der Vorfall belanglos sei und der seinerzeit 18-jährige Knabe als Heranwachsender in besonderem Maße geschützt werden müsse. Die Prominenz der Mutter sei ebenso unerheblich wie das Einverständnis von Sohnemann, bei der Homestory mitzuwirken, denn letzteres erfasse nicht das anschließende Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft. Man störte sich daran, dass der Äußernde den Namen des Sohnes genannt hatte.

Dass die Meldung von 2003 im Jahre 2005 längst allgemein bekannt war, sogar die Staatsanwaltschaft selbst berichtet hatte, war den Hamburger Richtern genauso schnurz wie die Tatsache, dass Sohnemann nicht gegen andere Medien vorgegangen war. Ein Verletzter könne sich aussuchen, wen er verklagen wolle und wen nicht. Dass sich die Inhalte auf einer nicht kommerziellen Website befanden, die nur von wenigen wahrgenommen wurde, war den Hanseaten ebenfalls einerlei - denn im Internet sendet man im Prinzip weltweit! Ebenso wenig half es, dass der Äußernde das seiner Meinung nach überzogene Vorgehen der Staatsanwaltschaft kritisieren und dabei sein Grundrecht auf freie Meinungsäußerung wahrnehmen wollte.

Artikel 5 GG in Karlsruhe bekannt

Fast fünf Jahre lang reifte die hiergegen eingelegte Verfassungsbeschwerde in Karlsruhe, bis nun der Erste Senat des höchsten deutschen Gerichts den Hamburger Richtern deren Urteil derart temperamentvoll um die um die Ohren haute, dass die eine oder andere Frisur aus der Fassung geraten sein dürfte.

Mit zwischen den Zeilen deutlich platzierter Süffisanz begannen die Verfassungsrichter ihre unerbittliche Schelte. Das Bundesverfassungsgericht habe die maßgeblichen Fragen bereits entschieden. Dies gelte namentlich für das Verhältnis des Grundrechts auf Meinungsfreiheit zu dem ebenfalls grundrechtlich geschützten allgemeinen Persönlichkeitsrecht bei der Berichterstattung über Strafverfahren. Die Verfassungsbeschwerde sei offensichtlich begründet. ("Offensichtlich" gilt in juristischen Texten als Kraftausdruck.) Höflich erinnerte man die Hamburger, dass unter den Schutz der Meinungsfreiheit nicht nur Werturteile, sondern auch Tatsachenbehauptungen fallen, wenn und soweit sie zur Bildung von Meinungen beitragen - was bei dem hier zu beurteilenden Bericht über ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren offensichtlich der Fall sei.

"Grundlegendes Fehlverständnis des Gewährleistungsgehaltes der Meinungs- und Pressefreiheit"

Auch in diesem Fall hatten die Hamburger Richter bei der in Presseangelegenheiten gebotenen Abwägung zwischen dem Persönlichkeitsrecht des Klägers und dem Grundrecht auf Presse- und Meinungsfreiheit nicht hinreichend abgewogen. Die Verfassungsrichter bekamen beinahe Schaum vor dem Mund, als sie den Hamburger Kollegen die Meinung(sfreiheit) sagten:

[...] Die Erwägung des Oberlandesgerichts, der Berichterstattungsgegenstand sei objektiv belanglos und begründe daher jedenfalls kein das Interesse des Klägers, ungenannt zu bleiben, überwiegendes öffentliches Informationsinteresse, deutet auf ein grundlegendes Fehlverständnis des Gewährleistungsgehaltes der Meinungs- und Pressefreiheit hin. Sie lässt nämlich nicht hinreichend erkennen, ob das Gericht sich bewusst war, dass es zunächst vom Selbstbestimmungsrecht der Presse oder auch des journalistischen Laien als Trägers der Meinungsfreiheit umfasst ist, den Gegenstand der Berichterstattung frei zu wählen, und es daher nicht Aufgabe der Gerichte sein kann zu entscheiden, ob ein bestimmtes Thema überhaupt berichtenswert ist oder nicht. Die Meinungsfreiheit steht nicht unter einem allgemeinen Vorbehalt des öffentlichen Interesses, sondern sie verbürgt primär die Selbstbestimmung des einzelnen Grundrechtsträgers über die Entfaltung seiner Persönlichkeit in der Kommunikation mit anderen. Bereits hieraus bezieht das Grundrecht sein in die Abwägung mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht einzustellendes Gewicht, das durch ein mögliches öffentliches Informationsinteresse lediglich weiter erhöht werden kann. Angesichts dessen stellt es eine verfassungsrechtlich bedenkliche Verkürzung dar, wenn das Oberlandesgericht dem Kläger vorliegend allein deshalb einen Unterlassungsanspruch zuerkannt hat, weil dessen allgemeines Persönlichkeitsrecht das Informationsinteresse der Öffentlichkeit überwiege. [...].

(Zitiert nach juris, Entscheidungsdatum: 09.03.2010, Aktenzeichen: 1 BvR 1891/05.)

Die Karlsruher Richter fanden es auch keineswegs so unerheblich, dass längst allerhand andere Medien berichtet hatten, denn das Medieninteresse selbst sei Indiz für ein Interesse der Öffentlichkeit. Die "kuriosen, anekdotischen Elemente" und insbesondere der Umstand, dass die Vorbildfunktion genießende Politikerin selbst durch ihren Kommentar die Aufmerksamkeit der Staatsanwaltschaft entfachte, fanden die Verfassungsrichter witzig genug, um es berichtet sehen zu wollen.

Dass die Hamburger Gerichte nicht der Frage nachgingen, ob und inwieweit der Sohnemann in die Berichterstattung der Homestory eingewilligt hatte, stieß auf Unverständnis. Für "verfassungsrechtlich bedenklich" hielt man das Ausblenden der Tatsache, dass die Staatsanwaltschaft selbst - also eine öffentliche Behörde - eine eigene Pressemeldung abgesetzt hatte. Üblicherweise dürfen sich nämlich Journalisten auf behördliche Informationen verlassen und diese ungeprüft übernehmen. Ähnlich verhält es sich für Meldungen namhafter Presseagenturen, denen Redaktionen die Anwendung journalistischer Sorgfalt grundsätzlich zubilligen und deren Material ebenfalls ungeprüft verwenden dürfen.

Lähmung individueller Meinungsfreiheit

Vorliegend ging es allerdings nicht darum, ob die Nachricht zutreffend war, sondern darum, ob man sich auch auf die fremde Entscheidung verlassen könne, einen Sachverhalt öffentlich thematisieren zu dürfen, der mit Persönlichkeitsrecht kollidiert. (Einen solchen Fall bot vor einem Jahr die von der Staatsanwaltschaft bekannt gegebene Festnahme einer HIV-positiven Popsängerin.)

"Ja!" sagen die Verfassungsrichter, journalistische Laien dürfen auf die Richtigkeit der einer staatsanwaltschaftlichen Pressemitteilung vorausgegangenen Abwägung vertrauen. Denn andernfalls bestünde die Gefahr, eine Lähmung der individuellen Meinungsfreiheit zu bewirken. Von "überzogenen Sorgfaltsanforderungen hinsichtlich des Wahrheitsgehalts von Tatsachen aus allgemein als zuverlässig beurteilten Quellen" hält man in Karlsruhe nichts.

Die Verfassungsrichter mahnten an, dass keine Sorgfaltsanforderungen zum Schutz der Persönlichkeitsrechte des Betroffenen postuliert werden dürfen, die die Bereitschaft zum Gebrauch des Grundrechts herabsetzen und so "auf die Meinungsfreiheit insgesamt einschnürend wirken" können. Das schreiben die Karlsruher fast wörtlich in jede Entscheidung, in der sie die Hamburger Presserichter zurückpfeifen.

Unter sticht Ober

Genau das aber wird am Hamburger Sievekingplatz auch weiterhin praktiziert werden. Denn solange man fünf Jahre auf die Durchsetzung seiner Meinungsfreiheit warten muss, sind viele bereit, falsche Urteile zu akzeptieren oder in Vergleichsverhandlungen zu treten - zumal entsprechende Verfahren neben Zeit auch Geld, Nerven und Energie kosten. Dass man den Hamburger Presserichtern von höchster Stelle vorwirft, ständig die Verfassung zu brechen, führte bisher noch zu keiner Änderung der dortigen Rechtsprechung - zur Freude professionell eingestellter Anwälte. Davon konnte sich der Parteifreund der Kläger-Mutter, Herr Guido W., höchstpersönlich überzeugen, als ihm das Landgericht Hamburg ebenfalls einen Maulkob verpasste.

Dank des fliegenden Gerichtsstandes können im Internet praktisch alle Sachen in Hamburg anhängig gemacht werden, sodass die Richter auch weiterhin überregional mit einem "grundlegenden Fehlverständnis" über das grundgesetzlich garantierte Bürgerrecht auf freie Meinungsäußerung entscheiden können. Obwohl solche Entscheidungen von Karlsruhe immer wieder aufgehoben werden, erachtete der Deutsche Richterbund die Zustände noch 2008 als eine gute Sache. Und der Deutsche Anwaltverein behauptete ernsthaft: "Die Wahl eines besonders sachkundigen Gerichts dient der zügigen und kompetenten Erledigung des Rechtsstreits, also beiden Parteien." Bürgerrechtsbewegungen oder sonstige Interessenvertreter von Internetnutzern wurden vor der noch von Brigitte Zypries gefällten Entscheidung, am fliegenden Gerichtsstandes festzuhalten, nicht befragt.