ALG II: Die Stille nach der Mehrbedarf-Ernüchterung

Der Hoffnung nach dem Bundesverfassungsgerichtsurteil zum Thema Regelsätze ist Ernüchterung gewichen - dazu tragen auch die neuen Regelungen zum Mehrbedarf bei

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Ein Vierteljahr nach dem ALG II-Urteil

Als das Bundesverfassungsgericht sich endlich zum Thema ALG II-Regelsätze äußerte, war die Hoffnung auf eine Erhöhung groß. Zwar hatten die Richter in Karlsruhe nicht entschieden, dass die bisherigen Regelsätze zu niedrig angesetzt waren, sondern sahen diese als nicht evident unzureichend an, jedoch wurde vielfach angenommen, eine genaue und nachvollziehbare Berechnung der Regelsätze könne automatisch nur zu einer Erhöhung führen. Ebenso große Hoffnungen wurde in die Mehrbedarfregelung gesetzt, die die Richter verlangt hatten. Ein Vierteljahr später wurde der Mehrbedarfskatalog abgesegnet und, zusammen mit den bisherigen Urteilen zum Thema, gibt wenig Anlass zur weiteren Hoffnung.

Mehrbedarf? Welcher Mehrbedarf?

Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil gerügt, dass der Gesetzgeber nicht für atypische Lebenslagen vorgesorgt hätte. So fehle es an Regelungen für einen "unabweisbaren, laufenden, nicht nur einmaligen und besonderen Bedarf". Diesem Mangel wurde nun abgeholfen - jedoch mit einem Mehrbedarfskatalog, der nicht nur von der Opposition als Schnellschuss angesehen wird. Der Mehrbedarfszuschlag ist erst dann zu gewähren, wenn ein laufender unabweisbarer atypischer Bedarf besteht, der so erheblich ist, dass er nicht aus Einsparungen oder Leistungen Dritter gedeckt ist. Ausdrücklich ausgeschlossen wurden die Übernahme der Praxisgebühr, Schulmaterialien und Schulverpflegung, Bekleidung bzw. Schuhe in Über- oder Untergrößen, nicht von § 21 Abs. 5 SGB II umfasster krankheitsbedingter Mehraufwand, Brille, Zahnersatz und orthopädische Schuhe.

Doch auch bei den Positivbeispielen will kaum Freude aufkommen, wenn beispielsweise Nachhilfekosten lediglich dann übernommen werden, wenn zum einen die Dauer der Nachhilfe absehbar ist, zum anderen die Nachhilfebedürftigkeit einem Krankheits- oder Todesfall in der Familie folgt. Ebenso ernüchternd für Eltern war die Entscheidung des Bundessozialgerichtes, den Eltern eines behinderten Kindes keinen Mehrbedarf für die Erziehung des Kindes zu gewähren. Der 6-jährige Junge ist als schwer gehbehindert anerkannt. Er leidet unter anderem an Störungen des Wachstums, der Aufmerksamkeit und der allgemeinen Entwicklung und kann bis heute nicht laufen - dennoch ist dies kein Grund dafür, den Eltern höhere Leistungen zukommen zu lassen, entschieden die Richter in Kassel.

Die Begründung zeigt die gesamte Absurdität der ALG-II-Gesetze auf: So handele es sich bei ALG II nicht um eine Fürsorgeleistung, sondern um ein arbeitsmarktpolitisches Instrument, weshalb höhere Leistungen erst ab dem Alter gezahlt werden können, ab dem es dem Empfänger möglich ist, sich durch eine Erwerbstätigkeit ein Zubrot zu verdienen. Die vorgesehenen 17% Mehrkosten sollen hier ausgleichend für jene wirken, denen ein solcher Zuverdienst aufgrund ihrer Behinderung nicht möglich ist. Auch einen Mehrbedarf im Sinne des Urteils des Bundesverfassungsgerichts lehnten die Richter in Kassel ab, ersparten sich hier jedoch die Begründung. Für Eltern (schwer)behinderter Kinder bedeutet dies, dass sie mit den Mehrkosten, die durch die Behinderung der Kinder entstehen, dann alleine dastehen, wenn sie sowieso bereits am unteren Ende der Einkommenspyramide sind.

Umzugskosten? Da muss man schon selbst anfassen

Auch Umzugskosten werden bei ALG-II-Empfängern nicht automatisch in voller Höhe übernommen. Entschieden wurde, dass eine professionelle Spedition nur dann notwendig ist, wenn wegen des Alters, einer Behinderung oder kleiner Kinder der Umzug nicht selbst organisiert werden kann. Trifft dies nicht zu, so sei der Umzug mit gekauften Kartons, einem selbst gesteuerten Mietlastwagen sowie studentischen Hilfskräften zu organisieren - als Richtschnur für die entstehenden Kosten wurden 951,25 Euro angesetzt.

Hier ist nicht verwerflich, dass ALG-II-Empfänger zunächst versuchen sollen, die Kosten für den Umzug gering zu halten, die Ausschlusskriterien sind jedoch nicht wirklich nachvollziehbar. Zum einen ergibt sich gerade bei der Einbeziehung von (studentischen) Hilfskräften oft eine erhebliche Versicherungsproblematik, die bei einer Spedition abgedeckt ist, zum anderen ist eine Vielzahl von ALG-II-Empfängern zwar nicht als behindert anerkannt, jedoch aufgrund von Erkrankungen wie Bandscheibenproblematiken, Sehnenscheidenentzündungen usw. usf. kaum in der Lage, selbst oder mit Hilfskräften zusammen Kartons sowohl zu packen als auch zu schleppen. Hier würde es der Einzelfallregelung bedürfen - doch dies ist weiterhin nicht vorgesehen. Im Gegenteil - bereits jetzt werden Rufe laut, auch die Kosten der Unterkunft zu pauschalieren, was dem ALG-II-Prinzip "eine Regelung für alle" folgt.

Noch geringere Regelsätze?

Dem Gedanken, dass das Bundesverfassungsgerichtsurteil nur eine Erhöhung der Regelsätze zulässt, widersprach auch der neue Präsident des Gerichtes, Andreas Voßkuhle, in einem Kommentar zum Thema. Der Gesetzgeber, so Voßkuhle, habe durchaus die Möglichkeit, die Regelsätze zu senken, sofern diese dadurch nicht evident unzureichend werden.

Für ALG-II-Empfänger ist somit die Hoffnung auf höhere Leistungen weiterhin größtenteils ein Trugschluss. Auch wenn die Anzahl der Klagen vor den Sozialgerichten erheblich zugenommen hat, so wird die Mehrheit der Leistungsempfänger weiterhin mit den derzeitigen Leistungen (oder demnächst noch weniger) auskommen müssen. Dafür ist davon auszugehen, dass die Zumutbarkeitsregelungen hinsichtlich der Arbeitsaufnahme weiterhin verschärft werden - Ideen wie der dritte Arbeitsmarkt, der für die "Chancenlosen" niedrig bezahlte, subventionierte Arbeitsplätze schaffen soll, sind hierbei wahrscheinlich nur der Anfang.