Boom der Großstädte

Während die Bevölkerung in Deutschland schrumpft, wachsen die Großstädte und werden in der Wissensgesellschaft auch wirtschaftlich bedeutsamer

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Vor 15 Jahren, als die Zahl der Internetnutzer rasant zu wachsen begann und die Kommerzialisierung des Internet einsetzte, glaubten viele, was auch Marshall McLuhan schon in den 60er Jahren angesichts des Fernsehens prophezeit hatte, dass die Städte ihren Zenith überschritten haben. Telearbeit, Teleshopping, Telebanking sollten den Verkehr ersetzen, den Gang in die virtuelle Welt einleiten und den räumlichen Ort immer unwichtiger machen. Egal, wo man sich aufhält, immer hat man den gleichen Zugang zur virtuellen Weltmetropole, weswegen zumindest diejenigen, die es sich leisten können, auf das Land flüchten. Dezentralisierung statt räumlicher Verdichtung wurde erwartet.

Der Architekturtheoretiker Martin Pawley schrieb zum Beispiel noch in Telepolis im Jahr 2000: "Urbane Verdichtung ist nicht effizient, sie ist teuer, unflexibel, undemokratisch und gefährlich. Gering bevölkerte und weiträumige Netzwerke von Siedlungsgebieten sind kontrollierbar, erhalten sich selbst und - was das Wichtigste ist - bieten an, wo die Menschen wirklich leben wollen. " Er war von der Auflösung der Stadt durch den digitalen Urbanismus überzeugt (siehe zum Thema auch das Telepolis-Special von 1996: Stadt am Netz).

Weltweit hat allerdings die Stadtbevölkerung zugenommen, mehr als die Hälfte der Menschheit lebt seit kurzem in Städten. Besonders in den Entwicklungs- und Schwellenländern findet ein explosives Wachstum der Großstädte, Megacities und Metacities statt. Man spricht von einem Boom der urbanen Korridore, in denen sich unvorstellbare Menschenmassen drängeln, viele auch in Slums. Auf der anderen Seite gibt es in den Industrieländern auch aufgrund des Bevölkerungsrückgangs und wirtschaftlicher Faktoren das Phänomen der schrumpfenden Städte. Dabei handelt es sich meist um kleine und mittlere Städte, in Deutschland vor allem im Osten.

Wie eine Studie des Deutsche Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) nun zeigt, sind die 14 größten Städte Deutschlands, die eine Bevölkerung von mehr als einer halben Million haben, mit 3 Prozent gewachsen, während die Gesamtbevölkerung leicht um 2 Prozent geschrumpft ist. Der Unterschied ist nicht gewaltig, belegt aber einen Trend. Es geht nicht um die Renaissance der Städte, sondern um die der (meisten) Großstädte. Dazu kommt, dass die Großstädte selbst wachsen, während auch ihr unmittelbares Umland schrumpft – auch wirtschaftlich seit 2005. Das war früher anders und scheint den Trend zur Suburbanisierung und zum Sprawling umzukehren in eine höhere Konzentration des städtischen Raums.

Der Sogeffekt der Großstädte, die mehr berufliche Optionen und auch bessere Ausbildungsmöglichkeiten bieten, ist vor allem bei den jungen Menschen hoch: "Die Zahl der jungen Erwachsenen bis 25 Jahre wächst in den Großstädten doppelt so schnell wie im Rest des Landes. Parallel nimmt die Zahl der unter 18-Jährigen nur halb so stark ab wie im Durchschnitt Deutschlands." Allerdings ist der Unterschied zwischen den Städten beträchtlich. Münchens Bevölkerung ist in den letzten zehn Jahren mit 11 Prozent am stärksten gewachsen, danach kommen nicht Städte in Westdeutschland, sondern Dresden mit 7 Prozent und Leipzig mit 5 Prozent. Die Städte im Ruhrgebiet (Dortmund, Essen und Duisburg) entsprechen freilich den meisten Trends nicht.

Auch der Zuwachs der 25- bis 30jährigen Stadtbewohner und der besonders hohe Anstieg der Frauen von 25-30 Jahren ist deutlich. Das spiegelt auch die Veränderung des Erwerbsverhaltens der Frauen wieder, die zu einem höheren Anteil studieren und arbeiten. Bei dieser Verjüngung und Verweiblichung liegen Dresden, Leipzig und München an der Spitze.

Die Wissenschaftler vermuten, dass viele ausgebildeten Akademiker an den Hochschulstandorten bleiben, weil sie dort eher die Chancen haben, einen Job zu finden und Karriere zu machen (oder dies glauben) und das Umfeld für die angestrebte Lebensweise finden. Es gebe zudem Hinweise, dass sich Unternehmen bei ihrer Standortwahl auch den Wünschen der jungen, gut ausgebildeten Menschen, in der Stadt zu leben, orientieren:

Die qualifizierten Köpfe – auch kreative Klasse genannt – suchen Lifestyle mit interessanter Kunstszene und ethnischer Vielfalt, wie sie vorzugsweise in den großen Städten zu finden sind.19 Weil also die Kreativen in den Städten leben wollen und die Wissensökonomie ihr Know-how benötigt, folgen die Unternehmen den Standortwünschen der Menschen.

Zumindest wächst in den Großstädten nicht nur die Bevölkerung, sondern auch es wächst auch die Beschäftigung stärker als im Durchschnitt – und noch stärker als im direkten Umland. Hamburg, München und Frankfurt liegen hier an der Spitze, aber Berlin scheint seit 2005 wieder aufzuholen, was darauf zurückgeführt wird, dass die "überregionalen und vor allem an den wissensintensiven Dienstleistungen … in den Städten stark expandieren".

Insgesamt würden Großstädte besser verdienende Menschen anziehen. Zwar nehme insgesamt die "soziale Mischung" zu, aber um den Preis der Gentrifizierung, also von homogeneren Bevölkerungen in den Vierteln:

Der Drang in die Innenstädte ist häufig auf einzelne bestimmte Altbauquartiere fokussiert. Büronutzungen als auch die Wohnungsnachfrage besser verdienender Haushalte lassen in den betreffenden Gebieten die Mieten steigen und verdrängen damit sozial benachteiligte Personengruppen aus ihren angestammten Wohnquartieren."