Verwaiste Werke und Immaterialgüterrechts-Waisenhäuser

Informelle Methoden des Umgangs mit zu langen Schutzfristen und unbekannten Rechteinhabern

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Die Kombination von sehr langen Schutzfristen und dem Fehlen eines Registers, in dem Rechteinhaber und ihre Erben eingetragen sind, führt zu einem immer größeren Pool von so genannten "verwaisten Werken", von denen niemand mehr weiß, ob und welche Schutzrechte daran noch bestehen und bei wem um eine eventuelle Genehmigung nachgefragt werden muss. Da sich die Politik dieses Problems nicht annimmt, sind informelle Methoden des Umgangs damit entstanden.

Das Bundesarchiv stellte eine ganze Reihe von Bildern der Zeitgeschichte unter Creative Commons Lizenzen. Viele davon stammen aus den letzten Jahrzehnten und wurden von namentlich bekannten Fotografen gefertigt, die offenbar in einem Umfang Nutzungsrechte an Behörden abgaben, welche eine solche Praxis erlauben. Doch es gibt auch Bilder wie das bei Wikimedia Commons eingestellte Portraitfoto von Kurt Weill, das deutlich älter ist und von einer unbekannten Person angefertigt wurde. Auf Fragen, welche Rechte das Bundesarchiv an dem Bild genau beansprucht, auf welchem Wege sie ihm übertragen wurden und warum auch 2010 noch ein Immaterialgüterrechtsschutz bestehen soll, reagiert man beim Bundesarchiv in bewährter Beamtenmanier: Man lässt Antworten erst einmal ausbleiben und bemängelt stattdessen den "ultimativen Ton".

Kurt Weill. Foto: Bundesarchiv, Bild 146-2005-0119 / unbekannt / CC-BY-SA.

Erst auf mehrere Erinnerungsschreiben hin antwortet man schließlich, dass das Bundesarchiv "nicht davon ausgeht", dass die Fotografie gemeinfrei ist. "Vielmehr", so die Behörde, sei das Porträt eine "professionelle Arbeit und somit ein Lichtbildwerk, das Urheberrechtsschutz genießt". Das Bundesarchiv habe sich entschieden, das Foto, dessen Hersteller sich nicht ermitteln ließ, unter der Lizenz CC-BY-SA zu veröffentlichen, weil es sich "in der Pflicht sieht, auch Zeugnisse von Kulturschaffenden aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einem breiteren Kreis der Öffentlichkeit zugänglich zu machen und insbesondere gemäß den Maßgaben des § 1 des Bundesarchivgesetzes 'nutzbar zu machen'". Auf die Frage, wie denn ein unbekannter Fotograf Nutzungsrechte an das Bundesarchiv übertragen haben kann, antwortet man, dass es sich beim "Bild 146-2005-0119" um den Scan des im Archiv vorliegenden Original-Glasnegativs handeln würde. Darin sehen die Koblenzer eine ausreichende Grundlage für eine "archivische Nutzung", wozu sie auch eine Veröffentlichung des Bildes rechnen.

In Deutschland ist der Monopolschutz für Lichtbilder im § 72 des Urheberrechtsgesetzes (UrhG) geregelt. Danach laufen die Rechteinhaberprivilegien 50 Jahre nach dem Zeitpunkt der Veröffentlichung ab. Ist ein Bild niemals veröffentlicht worden, dann wird für den Fristbeginn die Herstellung herangezogen. Man kann deshalb die Leistungsschutzrechtsfrist auf knapp 100 Jahre verlängern, wenn man ein unveröffentlichtes Bild nach 49 Jahren noch schnell ins Internet stellt.

Diese Schutzfrist gilt allerdings nur, wenn ein Foto nach dem 31. Dezember 1969 veröffentlicht oder angefertigt wurde. Für ältere Werke laufen nach § 129 des Urheberrechtsgesetzes verschiedene Fristen - je nachdem, ob das Foto zwischen dem 1. Januar 1960 und dem 31. Dezember 1969 oder vorher veröffentlicht wurde. Unveröffentlichte Fotos, die vor 1960 entstanden, werden 25 Jahre nach dem Tod des Lichtbildners gemeinfrei. Das kompliziert die Sache vor allem dann, wenn man nicht weiß, wer dieser Lichtbildner war und wann er starb. Die Originalbeschreibung "Kurt Weill, der bekannte Komponist der 'Drei-Groschen-Oper', ist zur Premiere seines neuen Stückes 'Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny' nach Wien gekommen" legt jedoch nahe, dass das Foto bereits zu seinem Entstehungszeitpunkt 1932 veröffentlicht wurde.

Ist ein Foto kein einfaches Lichtbild, sondern ein "Lichtbildwerk", dann läuft die Schutzfrist nach § 64 des Urheberrechtsgesetzes erst 70 Jahre nach dem Tod des Urhebers ab. Ein solches Lichtbildwerk muss jedoch nach § 2 eine "persönliche geistige Schöpfung" sein. Bei der Ermittlung des Unterschieds zwischen einem Lichtbild und einem Lichtbildwerk kommt es deshalb nicht darauf an, ob die Person, die den Abzug betätigte, Geld dafür bekommen hat. Stattdessen stellte das Landgerichts München I in seiner Entscheidung vom 25. April 2002 (Az. 7 O 16110/01) fest, dass ein Foto "den urheberrechtlichen Leistungsschutz nach § 72 UrhG, jedoch nicht den Werkschutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Nr. 5 UrhG [genießt], wenn es einerseits über ein Mindestmaß an persönlicher geistiger Leistung hinausgeht und andererseits nicht durch die Individualität des Fotografen oder eine künstlerische Aussage geprägt ist." Mit dieser Argumentation stuften die Richter die durchaus von einem Profi gefertigten Fotos von Rudolf Scharping im Pool als Lichtbilder und nicht als Lichtbildwerke ein.

Die möglicherweise auch von einem Willen zur Rechtslagenvereinfachung geleitete Argumentation des Bundesarchivs, dass das sehr schlichte Portraitfoto ein Lichtbildwerk sei, ist nicht ganz ungefährlich. Durch diese Behauptung könnten Erben von damals in Wien arbeitenden Fotografen nämlich auf die Idee kommen, einen Nutzungsvertrag einsehen zu wollen, der der staatlichen Stelle die entsprechende Verfügungsmacht über das Bild gewährt. Und Geld fordern, wenn sie nichts Entsprechendes vorgelegt bekommen. Das wäre vor allem deshalb problematisch, weil das Bundesarchiv die Frage bejaht, ob es mit anderen Bildern ebenso verfährt.

Die Rechtsprechung behilft sich bei solchen Problemen teilweise damit, dass eine konkludente Übertragung von Nutzungsrechten als widerlegliche Vermutung anerkannt wird. Allerdings ist die Praxis hier von Gericht zu Gericht verschieden, weshalb die Rechtsunsicherheit groß ist. Für neuere Werke kommt es in solchen Fällen mit darauf an, ob die vorgetragene Geschichte zur Nutzungsübertragung glaubhaft ist. Bei sehr alten Werken erkennen Richter nach Auskunft des Urheberrechtsexperten Thomas Hoeren vom Institut für Informations-, Telekommunikations- und Medienrecht an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster häufig die Tatsache an, dass es keine Überlebenden mehr gibt, die sich an konkrete Rechteübertragungen erinnern könnten.

Das Vorgehen des Bundesarchivs scheint, auch wenn es nicht ungefährlich ist, von einem guten Willen getrieben. Bei anderen Stellen dagegen, die ebenfalls Nutzungsrechte auf eher schwacher Grundlage behaupten, ist dieser gute Wille nicht ohne weiteres erkennbar: Die dpa etwa vertrieb, wenn man den Kennzeichnungen im Spiegel und in anderen Zeitungen und Zeitschriften Glauben schenken darf, das Portrait eines der Beteiligten am Raubmord von Bad Buchau vor der "Bushido"-Altarwand in seinem Jugendzimmer. Dieses Foto wurde offensichtlich nicht von einem dpa-Fotografen, sondern von einem der Täter bei der Vorbereitung der Tat mit seiner Handykamera aufgenommen. Und woher die dpa die Bilder genau hat, war bei der Agentur nicht in Erfahrung zu bringen. Die Erfahrung mit solchen "geleakten" Bildern lehrt, dass dafür eher Mitschüler und Behördenmitarbeiter in Frage kommen, als die Fotografen selbst. Trotzdem druckten die deutschen Medien das "dpa" unter die Bilder. Das kostete sie nichts extra, weil sie eine dpa-Flatrate haben, führt allerdings dazu, dass schließlich jeder glaubt, die dpa hätte tatsächlich Nutzungsrechte an den Fotos.

Bundesarchiv und dpa sind jedoch keineswegs die einzigen Stellen, die aufgrund der Unsicherheit, die das Urheberrecht schafft, Rechte an Bildern behaupten, welche sie möglicherweise gar nicht haben: Mittlerweile gibt es spezialisierte Firmen, die nur deshalb Geld für die Verwendung von Immaterialgütern kassieren, damit Film- oder Hörspielmacher etwas vorlegen können, mit dem die Rechtsabteilungen beruhigt werden. Darauf, ob solche Firmen wirklich die Rechte an altem Bild-, Film-, oder Tonmaterial haben, kommt es gar nicht an. Hauptsache, so die Klage eines Hörspielautoren, es wird Geld überwiesen und der Redakteur kann sich nachher auf diesen Zahlungsvorgang berufen.