"Das soziale Europa gibt es nur in Sonntagsreden"

Der französische Soziologe Robert Castel über die Unzulänglichkeit des Nationalstaates, das "neue kapitalistische Regime" und die Notwendigkeit einer "transnationalen Antwort auf die Krise"

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Trotz dreistelligem Milliardenkredit zur Verhinderung eines griechischen Staatsbankrotts und dem 750 Milliarden Euro teuren "Schutzschirm" für mögliche weitere Wackelkandidaten der Währungsunion liegen an den Börsen und in den Machtzentren der EU die Nerven blank. Allein am Freitag, den 21.Mai 2010, füllten Hintergrundberichte über "Die europäische Tragödie" im Wirtschaftsteil der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" eine ganze Seite. Neben einem sorgenvollen Artikel über "Deutsch-französische Spannungen", den "stotternden Zwei-Länder-Motor Europas" und die "Systemunterschiede" zwischen Berlin und Paris wurde dort auch sehr ernsthaft die Frage erörtert, was zu tun sei, "wenn Zentralbanken in Kapitalnot geraten". Volkstümlicher ausgedrückt: Kann die EZB pleite gehen?

Pfingstmontag machte dann der "handfeste Streit" zwischen Bundesregierung und EU-Kommission um die Verschärfung des Stabilitätspaktes Schlagzeilen. Aufmacher der Online-Ausgabe des "Handelsblatt": Barroso wettert gegen Merkels Euro-Reformpläne.

Über die Gründe der Krise, ihre Auswirkungen, Perspektiven und mögliche Lösungen sprachen wir mit dem 1933 geborenen, französischen Soziologieprofessor und Forschungsdirektor der École des Hautes Études en Sciences Sociales, Robert Castel. Er hat sich in Deutschland unter anderem mit seinen Büchern "Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit" (Konstanz 2000), "Die Stärkung des Sozialen – Leben im neuen Wohlfahrtsstaat" (Hamburger Institut für Sozialforschung, 2005), "Negative Diskriminierung. Jugendrevolten in den Pariser Banlieues" (Hamburger Edition, 2009) sowie als Herausgeber des Sammelbandes "Prekarität, Abstieg, Ausgrenzung" (Campus, Frankfurt /M., 2009) einen Namen gemacht.

"Wir leben in einem Moment des Übergangs zwischen zwei Kapitalismen"

Als Reaktion auf die Schulden- und Finanzkrise der Eurozone fällt den Regierungen vor allem eines ein: "haushaltspolitische Strenge". In der Praxis bedeutet das massive Ausgabenkürzungen, Stellenabbau im Öffentlichen Dienst, Lohnsenkungen, weitere Privatisierungen und möglicherweise auch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer. In Griechenland hat es gegen diese "Rosskur" bereits vier Generalstreiks und heftige Straßenschlachten gegeben. Halten Sie eine solche "Austeritätspolitik" für Erfolg versprechend?

Robert Castel: Hinter der aktuellen Situation steckt ein Paradox: Es wird immer deutlicher, dass die Mehrheit der wesentlichen Probleme nicht mehr auf der Ebene des Nationalstaats angesiedelt sind. Das gilt insbesondere für die Fragen der gesellschaftlichen Regulierung. Angesichts von Globalisierung und Europäisierung bräuchten wir transnationale Regulationsinstanzen. Heute sind es allerdings auch auf europäischer Ebene die Nationalstaaten, die die Grundlage der Sozialpolitik, des Arbeitsrechts, der sozialen Absicherung, der Renten usw. bestimmen. Das "Soziale Europa" besteht nur aus einem Haufen Ankündigungen und Erklärungen mit sehr geringer Umsetzung und der Gefahr einer Anpassung auf dem untersten Niveau. Da muss man sich nur das hohe Tempo der EU-Osterweiterung anschauen.

Auf internationaler Ebene trifft das sogar in noch stärkerem Maße zu. Internationale Instanzen, die über Macht verfügen, sind die Weltbank und der Internationale Währungsfond. Wie wir wissen, zählt die Sorge um das Soziale nicht gerade zu deren Prioritäten. Sicher existiert die Internationale Arbeitsorganisation (ILO), die korrekte Ansichten in Sachen Arbeit hat. Aber die Macht der ILO ist lächerlich verglichen mit der des IWF.

Das Paradox, von dem ich sprach, sorgt dafür, dass sich selbst die Leute, die über diese Probleme nachdenken in einer unbequemen Position befinden. Die wichtigsten Dynamiken finden nämlich nicht mehr auf der nationalen Ebene statt. Der Nationalstaat ist überwunden, bleibt aber gleichzeitig die hauptsächliche politische Entscheidungsinstanz auf sozialem Gebiet. Durch die aktuelle Krise tritt ein Bedürfnis nach mehr Staat, nach einem besseren Staat zu Tage, doch zugleich ist das – verglichen mit dem, was als Regulierungsinstanz tatsächlich nötig wäre – die Wahl des kleineren Übels.

In Frankreich haben wir das unter Mitterand ausprobiert. Nach seiner Wahl zum Staatspräsidenten 1981 versuchter zunächst eine keynesianistische Politik zu lancieren, gesellschaftliche Planung zu betreiben, aber 1983 ist er damit gegen die Wand gefahren. Das ist der Beweis, dass ein Land wie Frankreich – also eine Mittelmacht – nicht mehr in der Lage war, die wichtigsten Parameter der eigenen Wirtschafts- und Sozialpolitik zu kontrollieren. Damals gab es Leute, die von Verrat an den sozialistischen Ideen sprachen. Ich denke jedoch man muss da tiefer gehen. Wir haben seinerzeit festgestellt, dass sich der Nationalstaat nicht mehr eigenständig bewegen kann. Das wirtschaftliche Europa, der Euro und die Finanz haben zu einem Souveränitätsverlust der Nationalstaaten geführt.

Könnte das insbesondere bei den Gewerkschaften beliebte Schlagwort vom "Sozialen Europa" zur inhaltlichen Klammer einer länderübergreifenden Bewegung von unten werden?

Robert Castel: Im vergangenen Sommer haben wir in Frankreich als Reaktion auf die Standortverlagerungen von Teilen der Produktion und die Schließung von Fabriken bedeutsame Phänomene erlebt. Es gab spontane und extrem brutale Reaktionen mit dem so genannten "Kidnapping" von Managern und Drohungen unterschiedlicher Art. Das ist Ausdruck eines großen Unbehagens, der Unzufriedenheit Vieler, die Erfahrungen mit Erwerbslosigkeit und prekäre Beschäftigung gesammelt haben.

Für den Moment beschränkt sich das auf sporadische Reaktionen, die einmal hier und ein paar Tage später dort stattfinden. Es handelt sich um kleine, spektakuläre, aber verstreute Ausbrüche, die im Augenblick allem Anschein nach keine soziale Bewegung bilden können, sofern man darunter ein Minimum an Kollektivität, an Verbindungen und gegenseitiger Bezugnahme unterschiedlicher Situationen aufeinander versteht und natürlich auch die Existenz gemeinsamer Ziele.

Das klingt sehr düster. Sehen Sie irgendwo Anlass zu Optimismus?

Robert Castel: Langfristig vielleicht. Der kollektive Organisationsprozess, die soziale Bewegung der Arbeiterklasse, hat historisch betrachtet sehr viel Zeit gebraucht, um sich zu konstituieren. Nehmen wir den Beginn der Industrialisierung mit einem Proletariat, das sich in einer verzweifelten Lage befand. Dieses Proletariat hat sich dann zu einer Arbeiterklasse entwickelt und kollektive Organisationen geschaffen. Zum Beispiel Gewerkschaften, die im weiteren Verlauf einen Kompromiss zwischen den Bedürfnissen des kapitalistischen Marktes und den Minimalforderungen der Arbeit ausgehandelt haben, wie die soziale Absicherung, die Arbeitssicherheit oder die Rente.

Die Hypothese ist sehr gewagt, aber eine derartige Dynamik könnte sich langfristig erneut entwickeln. Wir leben in einem Moment des Übergangs zwischen zwei Kapitalismen. Seit Anfang der 70er Jahre haben wir in Westeuropa den Industriekapitalismus hinter uns gelassen. An dessen Stelle ist ein neues, wilderes kapitalistisches Regime entstanden. So wild wie der Industriekapitalismus in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts war, bevor er etwas gezähmt wurde. Heute erleben wir im Gegensatz zu den 60er Jahren, dass die Zukunft schlimmer wird als die Gegenwart ist. Aber es ist nicht sicher, dass die Verschlechterung wirklich eintritt. Eine Unsicherheit besteht hier in beide Richtungen. Ein neuer sozialer Kompromiss ist nicht ausgeschlossen, auch wenn die Formen, die er annehmen könnte, aufgrund der ungünstigen Kräfteverhältnisse für die Arbeit noch nicht erkennbar sind.

In der gegenwärtigen Krisendebatte werden immer wieder Vergleiche mit der Weimarer Republik und den 30er Jahren gezogen. Besteht die Gefahr, dass es zum Neuaufschwung der extremen Rechten und zur Herausbildung einer militanten, reaktionären Massenbewegung kommt?

Robert Castel: Die Geschichte wiederholt sich nicht und etwas Derartiges ist meines Erachtens heute nicht absehbar, auch wenn wir gewisse Tendenzen in Richtung der extremen Rechten mit der Verbreitung von Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und antidemokratischen politischen Praktiken feststellen. Diese Strömung scheint mir dennoch vorläufig eine Minderheit zu sein, auch wenn wir das gleiche natürlich im Jahr 1931 in Deutschland hätten sagen können.