Werden die Menschen einsamer?

Ein britischer Bericht legt nahe, dass die moderne Gesellschaft das Alleinsein und die Isolation trotz virtueller Kontakte fördert

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Multitasking in Dauerkommunikation, Schwimmen in sozialen Netzwerken, Gezwitscher und Geschnatter schriftlich und mündlich im Internet oder über Handys: Angeblich versinken vor allem die jungen Menschen mit den Medien in zwischenmenschlichen Beziehungen und sind ständig eingebunden und an der kommunikativen Leine. Aber vielleicht ist der Zwang zur Kommunikation und zur Vernetzung auch oder vor allem ein Versuch, die Aufmerksamkeit der Anderen zu bekommen und zu halten. Wer kommuniziert, ist nicht einsam. Und weil man mittlerweile überall und zu jeder Zeit kommunizieren kann, hat derjenige, der dies nicht macht, einen Makel.

Nach einer Umfrage, die im Auftrag der Mental Health Foundation durchgeführt wurde, geben 11 Prozent der Befragten an, dass sie sich einsam fühlen, fast die Hälfte der mehr als 2.200 befragten Erwachsenen meint, dass die Einsamkeit derzeit zunimmt. Nur 22 Prozent behaupten, sie würden sich niemals einsam fühlen, 37 Prozent geben an, sie kennen einen Freund oder ein Familienmitglied, der bzw. das sehr einsam sei. Um ihre Einsamkeits-Kampagne ins rechte Aufmerksamkeitslicht zu setzen, titelte die Stiftung ihren Bericht denn auch: Die einsame Gesellschaft?www.mentalhealth.org.uk/campaigns/loneliness-and-mental-health/.

Einsamkeit, so der Bericht, würde zwar alle immer wieder einmal empfinden, aber zumindest dann, wenn man über längere Zeit einsam oder isoliert ist, würde dies zu einem Stigma für diejenigen, die das sagen. Überdies sei "chronische Einsamkeit" langfristig gesundheitsgefährdend und oft begleitet von Depressionen oder anderen psychischen Störungen sowie von steigendem Alkohol- und Drogenkonsum – was allerdings auch mit ein Grund dafür sein dürfte, dass Menschen scheuen, sich als einsam zu bezeichnen, weil sie dann als Loser gelten könnten. In der Aufmerksamkeitsgesellschaft mit ihrer Oberschicht der Prominenten hat man Fans, Freunde wie in Facebook oder Followers auf Twitter. Dass spiegelt den Wert. 30 Prozent jedenfalls würden es nicht gerne zugeben, wenn sie sich einsam fühlen. Frauen geben dies eher zu als Männer, sie sagen auch eher, dass sie sich deswegen depressiv gefühlt hätten, und sie haben deswegen auch öfter professionelle Hilfe gesucht, was Männer bei psychischen Problemen sowieso höchst ungern machen.

Die heutige Lebensweise würde die Menschen beeinträchtigen, mit Anderen in Verbindung zu treten. Immer mehr Menschen leben alleine. Die Zahl der Singlehaushalte hat sich in Großbritannien von 6 Prozent aller Haushalte im Jahr 1972 auf 12 Prozent im Jahr 2008 verdoppelt. Dazu steigt die Zahl der Scheidungen und die der Alleinerziehenden. Zwar leben die Menschen länger, dies aber auch zunehmend mehr alleine. Ob freilich alleine zu leben, schon heißt, sich auch einsam oder isoliert zu fühlen, ist fraglich. Ebenso wenig kann der Bericht belegen, dass die Menschen in der modernen Gesellschaft tatsächlich einsamer werden. Zumindest scheint der Boom der Massenveranstaltungen nahezulegen, dass die Menschen auch körperlich die Nähe suchen und in der Masse baden wollen, auch wenn sie etwa mit dem Public Viewing nur den Fernseher aus der Isolation der Zimmer holen.

Die flexible Gesellschaft verlangt, dass immer mehr Menschen nicht mehr dort arbeiten oder studieren können, wo ihre Familie oder ihre Freunde leben. 35 Prozent sagen aber, sie würden gerne näher bei ihnen wohnen. Steigende Arbeitszeit, das Verschwimmen von Arbeit und Freizeit, könnte auch den Effekt haben, Einsamkeit zu verdrängen. Dazu verschwinden soziale Gelegenheiten zur Kontaktaufnahme wie Poststellen, Clubs oder kleine Geschäfte, auch die zunehmende Verstädterung könne die Einsamkeit fördern. Hingegen sei Telearbeit mit dem Internet häufiger geworden, das zudem erlaube, mit Anderen zu kommunizieren, ohne ihnen begegnen zu müssen oder zu wollen. Die Zeit, die die Menschen in ihrer Freizeit online sind, so der Bericht, geht ihnen für die nicht-virtuellen sozialen Kontakte ab. Allerdings haben sie dann wenigstens virtuellen Kontakt und sind nicht völlig isoliert wie vor dem Fernseher. So sagen 62 Prozent der Befragten, dass die Technik uns helfe, mit den Menschen in Kontakt zu bleiben, die wir sonst aus den Augen verlieren würden.

Mit dem Internet und dem Mobilfunk verändern sich zweifellos die Formen von Einsamkeit und Geselligkeit, ebenso wie die von Privatheit und Öffentlichkeit. Normalerweise gibt es keinen puren Fortschritt oder reine Zerstörung, wir gehen eher seitwärts mit Verbesserungen, Kompensationen für das Verschwindende und Veränderungen. Allerdings lässt sich vermutlich schon sagen, dass es gegenwärtig einen Kult der Geselligkeit und des sozialen Netzwerke(l)ns gibt, während Einsamkeit keinen hohen Wert genießt, sondern eher als Makel empfunden wird. Das war keineswegs immer so. Der Rückzug bis hin zum Dasein als Eremit war durchaus eine anerkannte kulturelle Strategie und mit der Ausbildung des Geistes verwoben. Das Individuum, das gegen die Masse gestellt wurde, war eben auch das Abgetrennte und Distanzierte. Und lange Zeit, zumal in der Romantik, wurde Einsamkeit auch mit dem Genie und der Kreativität in Verbindung gebracht. Tatsächlich könnte nicht die Arbeit im Team oder im Netzwerk den Sprung zur Schaffung des Neuen ermöglichen, sondern erst das ungesellige Ausscheren aus der Menge und aus deren Normen und Zwänge. Die "Weisheit der Massen" kann ziemlich effektiv im Verbessern sein, braucht aber vermutlich den Einzelnen (und zeitweise Einsamen) für grundlegende Innovationen.