"Wenn der Vater mit dem Sohne..."

Portrait einer Familie: Michael Stocks abgründiger und erstaunlicher Film über väterlichen Missbrauch "Postcard to Daddy"

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Der Regisseur Michael Stock wurde im Alter zwischen acht und sechzehn Jahren von seinem Vater sexuell missbraucht. Ein Vierteljahrhundert später konfrontiert er vor der Kamera seine Familie mit seiner Vergangenheit. Die daraus entstandene Videobotschaft sendet er in Form eines Dokumentarfilms an den Vater. Trotz des unfassbaren Dramas ist "Postcard to Daddy" keineswegs von Hass geprägt, sondern von Neugier, Hoffnung und Liebe. Stock, 1993 bekannt geworden durch seinen Low-Budget-Spielfilm "Prinz in Hölleland", will nicht anklagen, sondern verstehen. Ursprünglich wollte Stock aus der Geschichte seines Missbrauchs einen Spielfilm machen. Doch die Förderer und finanzierenden Fernsehsender, die bekanntlich für diversen Schrott mit Gebührengeldern keineswegs geizen, wollten das Projekt nicht finanzieren, nachdem sie es zuvor bis zur Unkenntlichkeit verfälschen und auf die vermeintlichen Bedürfnisse eines Massenpublikums zurechtbiegen wollten.

Der Regisseur und sein Vater. Alle Bilder: http://postcard-to-daddy.de

Im Vatikan, beim Deutschen Fußball Bund, im Odenwald und in Salem, in Knabenchören, Internaten der Protestanten wie der Katholiken, urbi et orbi: Vorwürfe wegen sexuellem Missbrauchs. Er ist, man will das nicht gern wahrhaben, allerorten.

Aber die aktuelle, seit ein paar Monaten täglich grassierende Debatte zum Missbrauchsthema ist doch vor allem ein Missbrauch des Missbrauchs. Um abzurechnen mit allem, was der gesellschaftliche Mainstream von Rechts bis Links sowieso noch nie mochte: Mit der Kirche, mit Schwulen, mit der Reformpädagogik, vor allem und zu allererst mit "1968", das angeblich dem Werteverfall Vorschub geleistet und einem libertären, angeblich missbrauchsfördernden sexuellem Anything-Goes Tür und Tor geöffnet hat.

Und was empfehlen dann die schwarzgrünen, bionadetrinkenden, nichtrauchenden, mülltrennenden, doppelverdienenden Wertebürger im nächsten Atemzug: Natürlich "die Familie". Das Allheilmittel der wertevermittelnden, wärmespendenden, kunsterziehenden, sonntagsspaziergehenden Bürgerlichkeit. Den Ort, der als letzter noch der Erosion des Anstands und dem allgemeinen Untergang des Abendlandes Einhalt gebietet, die Moderne zähmt und ihren Gefahren Widerstand entgegenbringt.

Der Vater hat das dickere Fell

Solche Idyllen-Ideologien stellt Michael Stock mit seinem Film jetzt radikal in Frage: Er erzählt von der Illusion familiären Glücks. Von einem scheinbar anständigen Elternhaus, dem "es an nichts fehlt", mit Vater, Mutter, drei Kinder, mit Haus im Schwarzwald, mit genug Geld, sozialem Engagement, Garten und Bootsreisen im Sommer. Und dieses Elternhaus entpuppt sich bei näherem Hinsehen als Hölle. Der Vater hat seinen jüngsten Sohn, den Filmemacher über acht Jahre sexuell missbraucht.

Die Mutter und die beiden älteren Geschwister haben - angeblich, aber Stock glaubt ihnen das - nichts gemerkt, selbst als der Sohn nach einem Selbstmordversuch mit notdürftig selbst verbundenen Pulsadern am Abendbrotstisch saß. Oder als die Mutter einmal unverhofft ins Zimmer kam, und fast Zeugin des Missbrauchs geworden wäre, woraufhin sich Michael unter dem Ehebett versteckte und die ganze Nacht dort ausharrte.

"Mit unseren Eltern war es niemals langweilig", sagt der ältere Bruder Christian, noch immer irgendwie fassungslos über das, wonach ihn Michael befragt. Es ist ein durchweg deprimierendes Bild: Vom Schweigen, Verschweigen, von Ignoranz, Verdrängung, von Demütigung.

Es ist auch die völlige Zerstörung des Mythos vom Familienpatriarchen. Denn was bleibt von diesem Vater? Er missbraucht nicht nur den eigenen Sohn. Sondern er "baggert alles an, was einen Rock trägt", wie sich seine inzwischen geschieden lebende Gattin erinnert. Er trinkt, solange und soviel bis er nicht mehr weiß, was er seinem Sohn antut, bis er so sehr nach Alkohol stinkt, dass er seine Tochter anekelt. Und dem auf die Frage seines Sohnes, warum er mit seinen Taten besser leben könne als der Sohn, nur der schreckliche Satz einfällt: "Ich habe einfach das dickere Fell".

Schweigen

Trösten kann man sich allein mit der Annahme, dass es sich um einen Einzelfall handelt. Kann man ihn verallgemeinern? Doch solche Ausreden spenden nur eine überaus vage Hoffnung. Es ist eine allgemeingültige, generationstypische Geschichte über Kinder der Nachkriegszeit, die das Sprechen miteinander oder mit den eigenen (Nazi-)Eltern nie gelernt hatten.

Zugleich macht dieser Film auch vieles verständlich, was rund um den Komplex Missbrauch Außenstehenden nach wie vor Rätsel aufgibt. Das Schweigen, die Abspaltung, Verdrängung der Opfer. Die Kumpanei des Geheimhaltens zwischen Opfer und Täter, die aus Scham und Selbstvorwürfen heraus nie mit Dritten über die Taten gesprochen haben.

Der Regisseur und seine Mutter

Und er zeigt andere Folgen: Michael Stock konnte jahrelang nur Lust in der totalen sexuellen Verfügbarkeit empfinden. Der Film zeigt die Berliner Schwulenszene der 1990er Jahre.

Noch einmal zur Familie. Stocks Geschichte über seine Familie "entwertet diese Lebensform genauso wenig, wie es Jesuiten und Lehrer in Verruf bringen sollte, weil sich in unserer augenblicklichen Wahrnehmung dort der sexuelle Missbrauch häuft." So schrieb Tilman Krause in der "Welt". Und das stimmt natürlich. Die Lebensform, das Glück, das viele Menschen in der Familie erfahren wird dadurch nicht entwertet.

Aber "Postcard to Daddy" könnte uns davor bewahren, aus "Familie" wieder eine Ideologie zu machen, mit der gesellschaftliche Schlachten ausgetragen werden. Er könnte uns Skepsis und Vorsicht beibringen, uns lehren Familien nicht länger zu idealisieren, ihr nicht irgendeine Unschuld zu unterstellen, und sie nicht länger für besser zu halten als andere gesellschaftliche Institutionen. Denn das ist Familie: Kein idyllischer Gegenentwurf zur Gesellschaft, sondern ihr Abbild.