Soldatensärge und deutsche Interessen

Votiert Bundespräsident Horst Köhler für Wohlstandskriege?

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Welche Gesichtspunkte dominieren die öffentliche Debatte um den Afghanistan-Krieg? Politiker, Medien und staatlich dotierte Militärseelsorger, die den Krieg am Hindukusch positiv darstellen, rücken das Thema "Respekt vor den Soldaten" in den Mittelpunkt. Sie sprechen über Mitgefühl mit traumatisierten und zerbrochenen Kriegsheimkehrern, stellen aber gleichzeitig in Aussicht, dass zukünftig noch mehr Bundeswehrangehörige im Leichensack in die Heimat zurückkehren.

Auf diese Weise wird raffiniert die wichtigste Frage umgangen: Wer ist verantwortlich für die deutsche Afghanistan-Kriegspolitik, die nachweislich von einer großen Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger nicht mitgetragen wird? Das Antikriegsvotum der Bevölkerung ist ja mitnichten eine Attacke gegen Mitbürger in Uniform, sondern ganz im Gegenteil ein Votum auch gegen noch mehr Psychiatrieaufenthalte von Militärangehörigen und gegen noch mehr Soldatengrabstätten. Die Verantwortung für Krieg und Soldatenleiden tragen hingegen allein die Regierenden und ihre parlamentarischen Mehrheitsbeschaffer, die sich nur auf eine Minderheit der Menschen im Land berufen können.

Warum sterben Soldaten? – Das Staatsoberhaupt meldet sich zu Wort

Der seit dem Ende des "Kalten Krieges" forcierte Diskurs (Deutsche Kriege für das "nationale Interesse"?) in der "neuen NATO" und das Programm des Bundeswehr-Weißbuches ("Abhängig von gesicherter Rohstoffzufuhr in globalem Maßstab") kreisen eindeutig um Wohlstandskriege. Die immer wiederkehrenden Stichworte lauten:

  • Wahrung des nationalen Wohlstands (also Aufrechterhaltung des ökonomischen Ungleichgewichtes auf dem Planeten)
  • Schutz vor "illegaler Immigration" (Abwehr der Armen aus anderen Kontinenten)
  • Freie Märkte und freier Warenfluss (Garantien für eigene Marktdominanz)
  • Freie Handels- und Seewege (militärische Absicherung der Exportwirtschaft)
  • Sicherung der Energie- und Rohstoffversorgung (Absicherung oder Erringen der Verfügungsgewalt über die knapp gewordenen Ressourcen der Erde zu Ungunsten schwächerer Nationen)

Es liegt ja auch auf der Hand, dass die ungleiche Verteilung von Einkommen, Konsum und Ressourcenzugriff zugunsten der reichen Weltzentren und auf Kosten der allermeisten Menschen auf dem Globus dauerhaft nur mit Militärgewalt aufrecht erhalten werden kann. Dieser Hintergrund wird im öffentlichen Diskurs ebenfalls nur selten thematisiert. Abgesehen von basischristlichen Initiativen sprechen auch die beiden großen Kirchen, für die der Staat die Kirchensteuer eintreibt, an dieser Stelle keinen Klartext.

Dankenswerter Weise hat aber jetzt das Staatsoberhaupt selbst den eigentlichen Kern bundesdeutscher Kriegspolitik wieder in Erinnerung gerufen. In einem Interview mit Deutschlandradio Kultur über den sog. Afghanistaneinsatz äußerte Bundespräsident Horst Köhler am 22. Mai 2010:

Meine Einschätzung ist aber, dass insgesamt wir auf dem Wege sind, doch auch in der Breite der Gesellschaft zu verstehen, dass ein Land unserer Größe mit dieser Außenhandelsorientierung und damit auch Außenhandelsabhängigkeit auch wissen muss, dass im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege, zum Beispiel ganze regionale Instabilitäten zu verhindern , die mit Sicherheit dann auch auf unsere Chancen zurückschlagen negativ durch Handel, Arbeitsplätze und Einkommen. Alles das soll diskutiert werden und ich glaube, wir sind auf einem nicht so schlechten Weg.

Bundespräsident Horst Köhler

"Es wird wieder sozusagen Todesfälle geben"

Das unerhört Neue an diesem Interview besteht darin, dass die herkömmliche menschenfreundliche Kriegsrhetorik und der Verweis auf einen uneigennützigen Opfereinsatz für andere Länder allenfalls noch in Randbemerkungen anklingen. Die Vorbereitung der Bevölkerung auf weitere "eigene Todesopfer", die "für Sicherheit in Deutschland" zu erbringen sind, scheint dem Bundespräsidenten gleichwohl am Herzen zu liegen:

Wir haben ja diese traurige Erfahrung gemacht, dass Soldaten gefallen sind, und niemand kann ausschließen, dass wir auch weitere Verluste irgendwann beklagen müssen. […] es wird wieder sozusagen Todesfälle geben, nicht nur bei Soldaten, möglicher Weise auch durch Unfall, mal bei zivilen Aufbauhelfern. Das ist die Realität unseres Lebens heute.

Bundespräsident Horst Köhler

WER muss die Zeche zahlen? Die Soldaten, ihre Angehörigen, die Politiker? Und WARUM müssen angesichts der "Realität unseres Lebens heute" sozusagen "weitere Todesfälle" hingenommen werden? Horst Köhler beantwortet im Klartext nur die Frage nach dem Warum:

Man muss auch um diesen Preis [weiterer Todesopfer] sozusagen seine am Ende Interessen wahren [sic!]. Mir fällt das schwer, das so zu sagen. Aber ich halte es für unvermeidlich, dass wir dieser Realität ins Auge blicken.

Bundespräsident Horst Köhler

Zum Ende des Interviews gibt der Bundespräsident sich sehr jovial. Er zeigt Verständnis dafür, dass "die Soldaten in Afghanistan von Krieg sprechen", und er hält es auch für normal, dass er selbst "im Gespräch mit ihnen nicht 'ne verkünstelte andere Formulierung gewählt" hat.

Will man das gesamte Interview als Kursansage bewerten, dann zeichnet sich sozusagen folgende Richtung ab: Der Bevölkerung soll in zunehmendem Klartext vermittelt werden, dass es bei der Kriegsaußenpolitik letztlich um die Wahrung nationaler deutscher Interessen (um "unsere Chancen") geht. Durch Angst vor Einbußen bei "Handel, Arbeitsplätzen und Einkommen" verspricht sich die Politik mehr Kriegsakzeptanz bei der Bevölkerung. Entsprechend wird stellvertretend pauschal davon gesprochen, Soldaten würden "für uns alle" und für "unsere Interessen" töten oder selbst sterben. Kollektiv werden die Bürger – ob sie es wollen oder nicht – in die Kriegsverantwortung genommen. Derweil erhält der Kriegsgegner kein vergleichbar wirkungsvolles Medienforum, um kundzutun: "Für mich tötet und stirbt niemand in Afghanistan!"

Es war einmal ein Grundgesetz

Die von Bundespräsident Horst Köhler im Interview mehrfach bemühte ökonomische und geostrategische Interessenswahrung weist eine gravierende Schwachstelle auf. Nach zwei Weltkriegen hat sich ab 1945 im Völkerrecht und namentlich auch im Grundgesetz der Bundesrepublik ein zivilisatorischer Lernprozess niedergeschlagen, der einen solchen Gesichtspunkt für militärische und kriegerische Planungen endgültig als unvereinbar mit jeglichem Recht brandmarkt. Entsprechende Ausführungen zu Grundgesetz und Völkerrecht, wie sie jüngst z.B. der Rechtswissenschaftler Dieter Deiseroth vorgelegt hat, erscheinen heute – gemessen am öffentlichen Diskurs – als "konservativ" (vgl. jetzt in ausführlicher Form: Dieter Deiseroth, Das Friedensgebot des Grundgesetzes und der UN-Charta. Sonderdruck aus "Becker/Braun/Deiseroth: Frieden durch Recht?". Berliner Wissenschaftsverlag. Berlin 2010).

Gleichwohl bleibt es dabei: für Militäreinsätze zugunsten nationaler Wohlstands-, Wirtschafts-, Handels-, Macht- oder Energieinteressen gibt es in unserer Zivilisation keinerlei Legitimation. Die Alternative des dritten Jahrtausends lautet: intelligente Kommunikation und Kooperation auf dem Globus auf der Grundlage des für alle geltenden Rechtes oder Rehabilitation jener militärischen Stärkepolitik, die die Abgründe des 20. Jahrhunderts herbeigeführt hat und die heute die Umsetzung von Überlebensstrategien auf dem Planeten Erde unmöglich macht.

Nun stellt sich die Frage, ob man die Befürworter von Militärdoktrinen zugunsten nationaler Wohlstands- und Wirtschaftsinteressen öffentlich als Verfassungsfeinde bezeichnen darf. Bislang observieren Verfassungsschutz und Polizeibehörden ja nur erklärte Kriegsgegner und insbesondere Antimilitaristen, die mit drastischen – z.T. weniger geschmackvollen – Mitteln die öffentliche Wiedereinführung des Heldenkultes konterkarieren.

Der deutsche Staatsangehörige Amir Mortasawi möchte zur Klärung beitragen. Er hat – wie er in einem Rundmailing mitteilt – nach dem oben referierten Deutschlandfunkinterview am 26. Mai beim Generalbundesanwalt eine Strafanzeige gegen den Bundespräsidenten erstattet. Horst Köhlers Votum, dass "im Notfall auch militärischer Einsatz" zur Wahrung nationaler Interessen notwendig sei, betrachtet Mortasawi als Angriff auf das Grundgesetz.