Para-democracia

In Kolumbien sind Wahlen und Staatsterrorismus kein Widerspruch

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Am 30.5.2010 sind Präsidentschaftswahlen in Kolumbien. Nachdem der amtierende Präsident Álvaro Uribe vergeblich versucht hatte, die Verfassung zu ändern, um eine dritte Amtszeit zu legalisieren, stehen neue Gesichter zur Wahl. Ob damit das Regime der Angst, das System der "Parapolíticas", ein blutiges Wortspiel aus Paramilitärs und Staatspolitik, zu Ende geht, bezweifeln viele.

Als Álvaro Uribe 2002 mit 53 % der abgegebenen Stimmen zum Präsidenten gewählt wurde, kündigte er eine neue "demokratische" Ära, eine "Politik der demokratischen Sicherheit" an, was auch Putschgeneräle für sich in Anspruch nehmen (wie der an die Macht geputschte Millionär in Honduras).

Tatsächlich hat sich in den letzten acht Jahren in Kolumbien einiges verändert: Allein durch seine Person als "Parteiloser" hat Uribe bewiesen, dass das seit 60 Jahren herrschende Zwei-Parteiensystem aus Konservativen und Liberalen lediglich Wahloptionen suggerierte, die es nicht gab. So setzte auch die Regierung unter ihm genau das fort, was alle Vorgängerregierungen - wie in keinem anderen Land Lateinamerikas - vorangetrieben hatten: Bis auf die kolumbianische Armee ist fast alles in Privatbesitz nationaler und multinationaler Konzerne.

Dazu tragen neben den verschiedenen Freihandelsabkommen vor allem "investitions- und unternehmerfreundliche" Gesetze bei: Kolumbianische Regierungen unterstützen den Angaben der Deutsch-kolumbianischen Industrie- und Handelskammer zufolge traditionell Privatunternehmen und begrüßen Privatisierung sowie ausländische Investitionen im Land":

Diese Haltung wurde verstärkt, als Mitte der 90er der kolumbianische Markt international geöffnet wurde. Diese Öffnung brachte wesentliche Änderungen in der Gesetzgebung für Auslandsanlagen und im Finanzsektor mit sich.

Was sich hinter diesem Understatement verbirgt, sind paradiesische Zustände für ausländisches Kapital: minimale Steuersätze, minimale Sozialstandards, ausbeuterische Arbeitsbedingungen und lebensbedrohliche Umstände für Gewerkschaftsvertreter. Während die Profiteure dieses Regimes gar keine Steuern oder nur noch zum Spaß bezahlen, lebt über die Hälfte der kolumbianischen Gesellschaft in Armut.

Armut in Bogota. Foto: Wolf Wetzel

Und damit sich diese Staatsgeschenke auch exorbitant lohnen, wird jede Form gewerkschaftlicher Organisation zur Lebensbedrohung: Allein 2008 seien in Kolumbien 49 Gewerkschafter ermordet worden, so DGB-Chef Michael Sommer, weshalb es "in keinem anderen Land der Welt [...] gefährlicher [ist], für den Schutz der elementarsten Menschen- und Gewerkschaftsrechte einzustehen", In aller Regel sind die Mörder keine Polizisten, sondern Paramilitärs - privatisierter Terror, der so lange existiert, wie das formale Recht auf gewerkschaftliche Organisation und Streiks durch straffreien Terror de facto außer Kraft gesetzt wird.

Der Krieg im Inneren hat auch ein offizielles Gesicht: In gerade einmal zwei Amtszeiten hat die Regierung Uribes die Zahl der Armeeangehörigen um die Hälfte erhöht: von 190.000 auf 250.000 Soldaten. Dazu kommen über 150.000 Polizisten und mindestens eine genau so große Anzahl an Privaten Sicherheitsdiensten. Was sich hinter dem Gesicht der "Politik der demokratischen Sicherheit" verbirgt, hat die Kolumbianische Juristenkommission CCJ in beängstigenden Zahlen zusammengefasst: "Für 75 Prozent aller Tötungen und Vertreibungen [...] sind die rechts orientierten Paramilitärs und deren Rauschgiftbosse verantwortlich."

Der im Jahr 2000 geschlossene Vertrag mit der US-Regierung sah als oberstes Ziel die Zerschlagung der Drogenkartelle, die Zerstörung der Anbauflächen ("narcotráfico"), die Demobilisierung der Paramilitärs und die Vernichtung der FARC vor. Um die Militarisierung im Inneren zu kaschieren, war gerade auch im westlichen Ausland viel von Stärkung der Menschrechte, vom Aufbau einer unabhängigen Justiz und Ausgleich maßloser sozialer Ungerechtigkeiten die Rede.

Geht man davon aus, dass ein Kernpunkt des "Plan Colombia" tatsächlich die Zerschlagung der Drogenkartelle zum Ziel hatte, so sieht die Bilanz verheerend aus: Ganz nüchtern stellt EBDD und Europol in einer gemeinsamen Stellungnahme vom 29.4.2010 fest:

Der Großteil des derzeit weltweit verfügbaren Kokains stammt von Kokapflanzen, die in Kolumbien angebaut werden und die einen erheblichen Beitrag zur dortigen Wirtschaft leisten.

Was sich hinter dieser lapidaren Äußerung verbirgt, lässt sich sehr anschaulich darstellen: Weltweit wird die Kokain-Produktion auf ca. 800 Tonnen jährlich geschätzt. Geht man von einem kolumbianischen Marktanteil von ca. 70 Prozent und einem Marktpreis von 100 US-Dollar pro Gramm aus, kommt man auf die Summe von 56 Milliarden US-Dollar. Wenn man den Außenhandel Kolumbiens aus dem Jahre 2008 mit ca. 37,62 Milliarden US-Dollar dagegenhält, bekommt man eine Vorstellung davon, welche ökonomische und politische Macht sich dahinter verbirgt. Daran ändern spektakuläre Festnahmen von "Drogenbaronen", die Beschlagnahmung ihrer Vermögen und gelegentliche Auslieferungen an die US-Justiz nichts: Der Hilfsorganisation Brot für die Welt zufolge entfällt trotz der milliardenschweren Bekämpfungsprogramme rund 70 Prozent der weltweiten Kokainproduktion auf Kolumbien. 2008 nahmen dort der Kokaanbau und die Kokainherstellung sogar um 27 Prozent zu. Man kann die Kokainwirtschaft deshalb als integralen Bestandteils eines äußerst voluntativen Geschäftszweiges der kolumbianischen Wirtschaft begreifen.

Geschäfte mit illegalen Drogen können auch Quellen "extralegaler Finanzierungen"1 verdeckter Kriegsführungen sein. Hinweise auf so etwas gibt es nicht nur in Kolumbien, sondern auch aus anderen Ländern: In ihrem Buch Out of Control etwa vermutet die US-Journalistin Leslie Cockburn solche Geschäftsbeziehungen auch hinter der Finanzierung der nicaraguanischen Contras, die in den 1980er Jahren die gewählte Regierung stürzen sollten. Wenn also die Regierung Uribes einen Krieg gegen die Drogen verkünden und gleichzeitig an diesen Geschäften partizipieren würde, dann beträte sie damit womöglich kein Neuland. Mittlerweile hat der mutmaßliche Drogenboss und namhafte Paramilitär Salvatore Mancuso zugegeben, Uribe "Stimmen beschafft" zu haben. Und ein Bericht des US-Geheimdienstes Defence Intelligence Agency von 1991 legt nahe, dass der bekannteste und sagenumwobenste unter den kolumbianischen Drogenbossen, Pablo Escobar, beste Beziehungen zu Uribe unterhielt.

"Los falsos positivos" - gefälschte Erfolgsmeldungen

Mit dem "Plan Colombia" war auch das Ziel verbunden, die über 100.000 Paramilitärs zu demobilisieren. Mit dem Versprechen auf fortgesetzte Straffreiheit und Integrationsangebote ins Zivilleben sollte der Privatisierung herrschender Gewalt Einhalt geboten werden. Das hat(te) nicht nur eine propagandistische Seite, es hatte auch systemische Gründe. Wie immer, wenn sich die herrschende Klasse eigenmächtig der Gewalt bedient, paramilitärische Gruppen als Privatarmee unterhält, sind damit systemische Risiken verbunden. Ab einer bestimmten Größe verselbstständigen sich diese paramilitärischen Strukturen. Anfangs agieren sie als Söldner und erfüllen lediglich Aufträge. Mit ihrer Größe und ihrem Einfluss steigt automatisch auch die Bereitschaft, selbst Politik zu machen. Wenn also seit 2002 von "Demobilisierung" die Rede ist, dann ist damit nicht das Ende von Terror gemeint, vielmehr seine Integration und Eingliederung in den staatlichen Machtapparat. Wie erfolgreich und mörderisch diese Verzahnung von Paramilitärs, Militärs und Regierungspolitik funktioniert, zeigt kaum eindrucksvoller das System der "falsos positivos".

Im September 2008 gelangte das System der gefälschten Erfolgsmeldungen an die Öffentlichkeit. Der Begriff "falsos positivos" geht auf den Jargon der Militärs zurück, die tote Guerilleros als "positivos" verbuchen. Wie dieses System funktioniert beschreibt der UNO-Sonderberichterstatter für aussergerichtliche Hinrichtungen, Professor Philip Alston, so:

Ein 'Rekrutierender' täuscht das Opfer mit falschen Versprechen und bringt es an einen entfernten Ort. Dort wird es kurz nach seiner Ankunft von Mitgliedern der Armee getötet. Danach wird der Tatort verändert, so dass die Person als legitim bei einem Gefecht getötet erscheint. Oft werden Fotos gemacht, auf der das Opfer in der Uniform eines Guerillero erscheint und mit einer Waffe oder Granate in der Hand. Die Opfer werden anonym in Massengräbern bestattet und die Mörder aufgrund ihrer Erfolge im Kampf gegen die Guerilla belohnt."

So erging es nach Mutmaßungen einer Anwältin der kolumbianischen Juristenkommission CCJ mindestens 13 Jugendlichen aus dem Stadtviertel Soacha in Bogotá, die Anfang 2008 "spurlos" verschwanden und vermisst gemeldet wurden. Andere Anwälte der Organisation haben "insgesamt 1205 Fälle aus der Zeit zwischen Juli 2002 und Juni 2008 dokumentiert. Gewerkschafter, Menschenrechtsaktivisten, Gemeindeführer - alle tot."2 Die Opfer der "falsos positivos" sind nicht nur Opfer sozialer Säuberungen. Diese Politik des falschen Totenscheines trifft genauso Menschen, die sich den Paramilitärs in den Weg stellen und so straffrei und lukrativ zugleich aus dem Weg geräumt werden können. Zu den Opfern zählen dem UNO-Sonderberichterstatter nach auch politisch Aktive, denen keine strafbare Handlung nachgewiesen werden können bzw. deren Verurteilung unnötige Publizität verursachen würde und die man auf diese perfide Art zum Schweigen bringt:

Die Anzahl der Fälle, ihre geografische Verteilung und die Verschiedenheit der in die Fälle verwickelten Militäreinheiten weisen darauf hin, dass diese auf eine mehr oder weniger systematische Weise von einer bedeutenden Anzahl von Elementen innerhalb der Armee verübt wurden.

Nicht nur die systematischen Verbindungen zwischen Militärs und terroristischen Paramilitärs sind damit belegt und dokumentiert worden. Mit dem im selben Jahr öffentlich gewordenen "Parapolítica-Skandal" - in Anspielung auf den "Irangate" auch als "Paragate" Skandal bezeichnet - wurden zugleich die engen Verbindungen zwischen Paramilitärs und der Regierung Uribe offen gelegt: "33 Kongressmitglieder sind inzwischen wegen ihrer Zusammenarbeit mit den rechtsradikalen Milizen inhaftiert, gegen weitere 31 wird ermittelt."

Werbung der kolumbianischen Armee. Foto: Wolf Wetzel.

Warum unterstützen gerade westliche Länder dieses staatsterroristische Regime? Warum setzten sie ihren "Kampf gegen Terrorismus" mit einem derartigen Komplizenstatus der Lächerlichkeit aus?

Nachdem in den letzten Jahren in Venezuela, Bolivien, Nicaragua, Ecuador und zuletzt in Honduras linke Regierungen an die Macht gekommen waren, antikapitalistische Ideen nicht nur eine gesellschaftliche, sondern auch machtpolitische Basis in Lateinamerika bekamen, zählt Kolumbien mittlerweile zu den wenigen Regimen auf diesem Kontinent, die mit mörderischer Konsequenz am sub-imperialen Konzept festhalten: Die fast vollständige Privatisierung des öffentlichen, staatlichen Sektors ist nach der "Öffnung" Anfang der 90er Jahre so gut wie abgeschlossen. Der Terror gegen jede Form gewerkschaftlicher Organisation verspricht traumhafte Profite. Was für die Mehrheit in Kolumbien barbarische Arbeitsverhältnisse sind, verspricht im Wirtschaftsdeutsch ein "sicheres Investitionsklima" - was die rot-grüne Regierung, später die schwarz-gelbe Regierung in Deutschland zufrieden zur Kenntnis nehmen.

Während diese "Große Koalition" in Afghanistan mit militärischem Einsatz für das kämpft, was in Kolumbien längst Realität ist, zeigt man sich gegenüber dem Staatsterrorismus der Uribe-Regierung aufgeschlossen und verständnisvoll. Natürlich gäbe es Defizite, aber die Bemühungen seien spürbar und vor überzogenen Erwartungen warne man bekanntlich überall auf der Welt. Man ist realistisch, man weiß, dass man Armut als Existenzgrundlage, Terror als alltägliche Drohung nicht nur mit Wahlen sichern kann. Was im zivil-gesellschaftlichen Diskurs gerne zusammengedacht wird: Sicheres Investitionsklima in rohstoffreichen "Zukunftsmärkten" und Menschen- und Grundrechte ist eine Schimäre. Mit Menschenrechten kann man Kriege begründen, aber keine glänzenden Gewinne machen - so einfach ist das, auch wenn die Welt immer komplizierter geworden sein soll.

Es gibt noch einen weiteren Grund, warum der Uribismus (auch ohne Uribe) in Kolumbien weder in der US-Regierung, noch bei europäischen Regierungen zur Disposition steht. Der blutige Kampf um die verbliebenen Ressourcen auf dieser Welt macht - nach der weitgehenden Aufteilung osteuropäischer Staaten und erschöpfter Rohstoffquellen - wieder Appetit auf Kolumbien.

Man vermutet dort viel - Erz, Uran, unerschlossene Ölfelder ... und ist sich dabei eines sicher: Solange der Uribismus an der Macht bleibt, liegen diese Schätze auf dem Silbertablett multinationaler Konzerne:

Uribes Kolumbien ist für Washington in Südamerika von entscheidender strategischer Bedeutung. Eingeklemmt zwischen linksnationalistischen und USA-feindlichen Regierungen in Venezuela und Ecuador und einem linksliberalen großen Nachbarn wie Brasilien, bleibt Kolumbien der einzige Staat in der Region, der den USA auf Schritt und Tritt folgt und über den die US-Regierung ihre Politik in der Region zu Gehör bringen kann.

(Handelsblatt vom 3.7.2008).