Sozialer Sprengstoff?

Laut einer Umfrage der Landes-Eltern-Vereinigung erleben gut achtzig Prozent der Eltern das Gymnasium als überaus belastend. Warum das aber so ist, darüber schweigen sich die Elternvertreter lieber aus

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Über 80 Prozent der Eltern geben an, dass ihre Kinder, die ein bayerisches Gymnasium besuchen, nicht mehr ausreichend Zeit für außerschulische Aktivitäten haben. Sie hätten nur noch Schule und Büffeln im Kopf und müssten daher auf Sport und Musik, auf ehrenamtliches Engagement bei der Freiwilligen Feuerwehr, im Sportverein an der eigenen Schule verzichten.

Im Schnitt käme manch ein Gymnasiast auf 48 Wochenstunden, wobei die langen Fahrwege, Hausaufgaben, die Vorbereitung auf den nächsten Tag und das Lernen für Schulaufgaben noch gar nicht mit eingerechnet seien. Gleichzeitig habe die Menge des Nachhilfeunterrichts exorbitant zugenommen. Bedürfe noch jedes achte Kind der Anfangsklassen zusätzliche Außenförderung, verdopple sich dieser Anteil in der nächsten Jahrgangsstufe, während in der neunten Klasse gar jeder Dritte externe Hilfe brauche, vor allem in Mathematik und/oder Latein.

Zu diesen bedenklichen Zahlen kommt eine Umfrage, die die Landes-Eltern-Vereinigung für Gymnasien in Bayern jüngst durchgeführt hat und an der sich ca. 35 000 Eltern von gut 120 Schulen beteiligt haben.

Lage verschärft sich

Repräsentativ ist das Ergebnis allerdings nicht, da sich etliche Schulen daran nicht beteiligt hatten. Das Kultusministerium habe, obwohl es grünes Licht dafür gegeben habe, vorab mit einem Schreiben an die Schulleitungen vor juristischen Problemen und ihrer Rechtmäßigkeit gewarnt, was etliche Elternbeiräte davor habe zurückschrecken lassen, sie an ihrer Schule durchzuführen.

Seit 2007, wo man die nahezu identische Umfrage schon einmal abgehalten hatte, seien die neuerlichen Werte um ein Zehntel gestiegen, so Thomas Lillig, Geschäftsführer des LEVs, gegenüber Pressevertretern. Für den weiteren Anstieg verantwortlich seien vor allem überfrachtete Lehrpläne, vermehrter Leistungsdruck, aber auch Unterrichtsformen, die dem Praktischen zu wenig Raum ließen und dadurch verhinderten, dass das Kind den Stoff verstehen und hinterher auch anwenden könne. Entgegen aller Beteuerungen, die das Kultusministerium seit Jahre streue, sei die Stofffülle mit dem G8 keinesfalls kleiner geworden. Im Gegenteil!

Wie es allerdings zu diesen dramatischen Werten komme, darüber schweigt sich der Lobbyistenverband lieber aus. Und auch von Journalisten, die diese Ergebnisse in die Öffentlichkeit transportieren und dort verbreiten, kommt, obwohl es eigentlich deren Aufgabe wäre, solche Zahlen und Umfrageergebnisse genauer kritisch zu hinterfragen und zu werten, dazu herzlich wenig. Wieder mal scheinen sie ihre Hausaufgaben nicht recht machen zu wollen - vielleicht auch, weil ihre Kinder selbst davon betroffen sein könnten. Dabei läge die Wahrheit doch so offen auf der Straße, dass man sie im Prinzip nur aufzusammeln bräuchte.

Latent ungeeignet

Seit Jahren bewegen sich die Übertrittsquoten kontinuierlich nach oben. Nicht nur in den Städten, sondern mittlerweile auch auf dem Land. Inzwischen drängen über vierzig Prozent eines Jahrgangs aufs Gymnasium. In manchen Landesteilen ist beansprucht bereits jeder zweite Grundschüler das Etikett "Hochschulreife" für sich. Und bald wird das gewiss auch für einen gesamten Jahrgang gelten.

Da weder anzunehmen noch zu beobachten ist, dass die Kinder über all die Jahre um so viel klüger, lernwilliger und strebsamer geworden sind, textsicherer und kognitiv kompetenter als noch vor ein paar Jahren - man frage diesbezüglich mal bei einer gestandenen Lehrkraft in eine der davon betroffenen Schularten nach - , muss man davon ausgehen, dass noch mehr ungeeignete Schüler als früher aufs Gymnasium drängen und schließlich auch gehen.

Zudem hat man den Elternwillen gestärkt und die schulischen Anforderungen systematisch gesenkt. Abzulesen ist das nicht nur an den Lerninhalten, die in den Kernfächern Deutsch und Mathematik den Grundschülern fortan abverlangt werden, sondern auch bei den Prüfungsarbeiten, die Schüler, deren Notenschnitt nicht für den Übertritt ausreicht, in einem gesonderten Probeunterricht bewältigen müssen.

Um dafür nur ein Beispiel zu geben: Neuerdings ist es möglich, dass ein Schüler, der beim landesweit durchgeführten Test in den Fächern Deutsch und Mathematik jeweils nur die Note Vier erzielt, allein aufgrund des Willens der Eltern aufs Gymnasium wechseln darf. Eine Vorstellung, die für sich genommen schon zu Kopfschütteln Anlass gibt, wird damit doch der Eindruck vermittelt, dass ein Kind, das mit Vierern in den Kernfächern aufwartet, überhaupt für ein Gymnasium in Betracht kommt.

Grundschule

Talent, nicht Geld

Dass dann das Gymnasium für eine Vielzahl von Schülern und deren Eltern zum latenten Stress wird, sie sich ständig überfordert fühlen und der Nachhilfeunterricht zur lohnenden Einnahmequelle für andere wird (Der Schwarzmarkt der Bildung), den sich viele Familien nicht immer leisten können, dürfte eigentlich niemand verwundern.

Gewiss darf Bildung, auch die höhere, nicht vom Geldbeutel abhängen. Es geht hier allein um Können, Begabung und Talent, und nicht ums Bankkonto, den Ruf oder das Wohnviertel. Schule hat keine Dienstleistungsfunktion, um finanziell begüterte Schichten zu gut dotierten Jobs durchzuwinken. Auch und vor allem nicht für Mittelschichtseltern, die der Auffassung sind, einen Quasi-Rechtsanspruch auf "höhere Bildung" zu haben und bei einem Scheitern ihres Sprösslings gar meinen, dies der Schule oder einem ihrer Ansicht nach unfähigen Lehrer in die Schuhe schieben zu müssen.

Gleichwohl ist das Gymnasium eben auch keine Schule für alle. Es stellt besondere, um nicht zu sagen, höchste Anforderungen an das Leistungsvermögen eines Schülers. Dort sollen nicht viele, sondern möglichst die besten Schüler eines Jahrgangs unterrichtet und nachhaltig gefördert werden. Zumal dort mehrere Sprachen beherrscht und politische Systeme verstanden werden müssen, naturwissenschaftliche Grundlagen vermittelt und Einblicke in die eigene wie in fremde Kulturen und deren Geschichte gegeben werden, wozu es allerdings dann auch differenzierterer Analyse, Deutung und kritischer Würdigung bedarf. Zumindest war es so einmal gedacht. Und das G8, also die Verkürzung der gymnasialen Schulzeit um ein Jahr, war ursprünglich auch genau dafür neu eingerichtet worden.

In den allgemeinen Klagen und Lamentos über Leistungsdruck und Stofffülle, die die Elternvertreter seit der Gründung des G8 immer wieder anschlagen, wird das immer verschwiegen. Sind Schüler nicht zum problemlösenden Denken fähig, zum Analysieren, Kombinieren und Transferieren; und sind sie nicht in der Lage, Hausaufgaben, die den ausschließlichen Sinn haben, den in der Schule vermittelten Lernstoff nochmals zu vertiefen, allein zu bewältigen, dann sind sie am Gymnasium einfach fehl am Platz.

Mut zur Qualität

Es nützt dann auch wenig, sie jahrelang mitzuziehen, sie in übergroße Klasse einzupferchen, zusätzliche Lehrer für sie abzustellen, ihnen LRS, Legasthenie, Dyskalkulie oder andere "getürkte" Leistungsschwächen zu attestieren. Schule, und hier vor allem das Gymnasium, wird für sie zu einem ständigen Hort der Demütigung, Kränkung und Erniedrigung.

Längst weiß man, dass knapp ein Drittel aller Gymnasiasten - auch hier ist die Tendenz steigend - dort nicht hingehören. Auch an den Gymnasien gibt es etliche Schüler, deren Sprach-, Rechen- und Lesefertigkeiten so gering sind, dass die unterrichtenden Lehrer ihnen längst die rote Karte zeigen müssten. Doch statt dies zu tun, sie erst gar nicht an diesen Ort der Qual zu lassen, werden sie jahrelang mitgeschleppt, wo sie dann auch noch die Lernentwicklung der Begabtesten und Talentiertesten hemmen.

"Die Quote derjenigen Schüler, die das G8 nicht mit Abitur beenden, liegt bei geschätzten 40 Prozent", muss selbst Ulrich Pfaffmann, der bildungspolitische Sprecher der SPD in Bayern und Verfechter einer Gemeinschaftsschule bis zur zehnten Klasse, eingestehen.

Doch anstatt daraus die Konsequenz zu ziehen, die Qualität der Bildung durch eine bessere, gezieltere und striktere Auswahl rechtzeitig zu heben und die Abbrecherquoten dadurch spürbar zu senken, steigert man die Gymnasiastenzahl von Jahr zu Jahr. Als ob man Wachstumszahlen, die das Land gewiss braucht, um aus der Krise zu kommen, mit mehr Abiturienten steigern könnte.

Wer der Ansicht ist, dass Bildung Wachstumssprünge auslösen und den Wohlstand eines Landes mehren könnte, der müsste eher die technischen und praktischen Kompetenzen von Lehrlingen steigern statt immer mehr Schüler durch die Pforten der gymnasialen Bildung zu jagen.

Es ist ja beileibe nicht so, dass jeder, der ein Abitur in der Tasche hat, automatisch auch einen "höheren Beruf" ergreifen kann oder dieses Bildungszertifikat ihm später ein sorgloses Auskommen sichern wird. Die Generation Praktikum liefert ein beredtes Beispiel, zu welchen Kreisverkehr Überqualifizierung führen kann.

Weil die Politik solch unpopuläre Entscheidungen aber scheut, auch und vor allem aus Angst vor Lobbyistenverbänden wie dem LEV und den Schulen eine strengere Selektion verordnet, wird sich an diesen Zugangs- und Abbrecherquoten wenig ändern.

Gymnasium

Lösung einfach

Dabei wäre die Lösung doch so einfach. Seit dem PISA-Schock werden jedes Jahr Jahrgangsstufentests in den Fächern Mathematik, Deutsch und Englisch durchgeführt. Damit soll landesweit überprüft werden, wie weit logisches Denken, Lese-, Sprach- und Textverständnis bei den Schülern eines Jahrgangs entwickelt ist, welche Lernfortschritte sie und ihre Schule gemacht haben, ob sie in Zusammenhängen denken können und inwieweit sie in der Lage sind, bestimmte Probleme selbstständig zu lösen.

Leicht könnten diese oder ähnliche Tests dazu hergenommen werden, die Eignung eines Schülers für diese oder jene Bildungsanstalt festzustellen. Die Verantwortung dafür würde dann auf die Schule und ihre Lehrer übergehen, die das anhand anspruchsvoller Kriterien prüfen. Dazu bräuchte es nur den Willen und den Mut der Politik. Doch die ist vielfach zu schwach, dem Druck, den Lobbyisten und Ideologen auf sie ausüben, zu widerstehen.

Im Prinzip weiß jeder, dass viel zu gute Noten vergeben werden. Nicht nur in den Grundschulen oder an den Gymnasien, sondern später auch an den Universitäten des Landes, wo die Abbrecherquoten bekanntlich ähnlich hoch sind. Teilweise aus Bequemlichkeit, man will ja keinen Ärger mit Eltern und Rechtsanwälten, teilweise aus Sorge der Schulleiter um den guten Ruf ihrer Schule in der Öffentlichkeit, und teilweise aus psychologischen Gründen, schließlich könnten schlechte Noten das Selbstwertgefühl schwächen und sich leicht zum Trauma auswachsen.

Statt ihrer Aufgabe und ihres Auftrags gerecht zu werden, Schüler wie Eltern beizeiten auf das richtige Bildungsgleis zu schieben, und gleichzeitig die Durchlässigkeit der einzelnen Bildungswege für Spätentwickler zu verbessern, lässt man sie lieber auf das falsche Gleis und sehendes Auges an die Wand fahren, was dann erst jene traumatischen Erfahrungen hervorruft, die man dann beklagt.

Niemand darf scheitern

Der Preis, der für das Nichthandeln der Politik gezahlt wird, ist ein hoher. Der inflationären Verteilung von Bildungszertifikaten, die seit Jahren dem Motto nachhängt: Keiner darf scheitern, folgt die stete Abwertung ihrer Bedeutung. Unternehmen, Behörden und Universitäten wissen, dass sie das Papier, auf dem sie stehen, nicht wert sind (Wir sind alle Kreter). Darum führen sie auch längst eigene Eignungstests durch.

Andererseits: Solange der Egalitätsgedanke über den Leistungsgedanken obsiegt, die Meinung vorherrschend ist, dass möglichst allen alles zugänglich gemacht und auch jeder studieren muss und kann; und solange das Ziel der Bildung ausschließlich die Verteilung von Zertifikaten ist, und zwar auch dann, wenn sie sich jemand nachweislich nicht verdient hat, weil er sich a) nicht angestrengt hat oder b) ihm die Fähigkeiten dazu fehlen, und obendrein ein Scheitern von vornherein möglichst ausgeschlossen ist, wird sich an der Misere unserer Bildungssystems insgesamt wenig ändern. Und zwar auch nicht mit mehr oder mit weniger Geld. Da ist weder Annette Schavan noch Roland Koch zuzustimmen.