Das Königreich in Gefahr: Spione, Horror-Comics und der Klebstoffmann

The Life and Death of Colonel Blimp

Ende einer Karriere: Michael Powell und Peeping Tom - Teil 2

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Teil 1: Die Karriere

Was unterscheidet Großbritannien von Nazi-Deutschland? Zum Beispiel dies: Churchills Meinung nach war The Life and Death of Colonel Blimp schädlich für die öffentliche Moral. Brendan Bracken, der Informationsminister, sollte den Film verbieten. Bracken, früher Journalist, bot Churchill die Stirn. Für ihn war Zensur vertretbar, wenn durch sie verhindert wurde, dass der Feind in den Besitz wichtiger Informationen gelangte. Blimp war ein Spielfilm. Die Unterdrückung missliebiger Meinungen war für Bracken ein Machtmissbrauch und einer Demokratie nicht würdig. Das lehnte er ab. Es spricht für Churchill, dass er Bracken nicht ablöste und durch einen willfährigeren Minister ersetzte.

Das Phantom von Canterbury

Powell schreibt in A Life in Movies, das Establishment habe zur Weißglut getrieben, dass er und Pressburger mitten im Krieg von der Freundschaft eines Briten mit einem Deutschen erzählten. In einigen Kritiken wurde der Film als defätistisch gegeißelt, als schlecht für die Moral und als Beleidigung der Armee. Besonders empört waren die Verteidiger des Britentums über die Schlüsselszene, in der Adolf Wohlbrück als aus Nazideutschland nach England geflohener Theo Kretschmar-Schuldorff eine große Rede hält. In der Szene erklärt ein guter Deutscher (das allein fanden Haudrauf-Propagandisten schon unerträglich) seinem starrköpfigen Freund aus England, dass der Krieg nicht länger eine Veranstaltung unter Gentlemen ist und dass er unterliegen wird, wenn er nicht endlich einsieht, mit welchem Gegner er es zu tun hat.

Der Film entstand in nur zwölf Wochen und für kaum glaubliche 200 000 Pfund (zu verdanken war das auch wieder der Kunst des Ausstattungsgenies Alfred Junge). Im Juni 1943 lief Blimp sehr erfolgreich in den britischen Kinos an (beworben als „der Film, den Churchill gern verboten hätte“). Dann traf Powell und Pressburger doch noch die Rache des Establishments. Mit der Begründung, Blimp erwecke den Eindruck, Großbritannien propagiere die von den Japanern in Pearl Harbour angewandte Art der Kriegsführung (weil sich am Anfang der britische Soldat nicht daran hält, dass der Krieg laut Abmachung erst um Mitternacht beginnt), wurde lange die Exportgenehmigung verweigert. Als der Film endlich ausgeführt werden durfte, hatte man ihn um ein Drittel gekürzt. Eine gekürzte, die Struktur stark verändernde Fassung kam auch bei späteren Wiederaufführungen in Großbritannien zum Einsatz. Die ursprüngliche Version wurde erst in den 1980ern vom National Film Archive annähernd wiederhergestellt.

A Canterbury Tale

Während den Nazis nur einfiel, wer alles der Feind war und vertrieben, eingesperrt oder ermordet werden musste, geht es in den außergewöhnlichen Propagandafilmen der Archers darum, wofür es sich zu kämpfen lohnt. Der nächste in der Reihe, A Canterbury Tale, ist einer jener Filme, wie sie außer Michael Powell nur noch Jacques Tourneur drehen konnte: Man spürt die Präsenz des Übernatürlichen, ohne dafür Spezialeffekt-Geister sehen zu müssen. Bei Powell hat das Spirituelle immer mit der Landschaft und der aus ihr entstandenen Kultur zu tun. Am Anfang sind mittelalterliche Pilger unterwegs nach Canterbury, als wäre es eine Verfilmung von Chaucers Tales. Dann verwandelt sich ein Vogel in ein Kampfflugzeug, und wir sind im England der Gegenwart (ob sich Stanley Kubrick an den Film erinnerte, als er in 2001 aus einem Knochen ein Raumschiff machte?). Drei der vier Hauptfiguren – eine englische Landhelferin, einen britischen und einen amerikanischen Soldaten – verschlägt es in ein Städtchen in Kent, in dem nachts, bei Verdunkelung, ein Phantom umgeht: der „Glueman“ schüttet jungen Frauen Leim ins Haar. Diese bizarre Erfindung beunruhigte das Publikum fast noch mehr als die experimentelle Erzählstruktur, mit der bei einer solchen Produktion niemand gerechnet hätte. Powell und Pressburger waren keine avantgardistischen Außenseiter, sondern inzwischen in der Mitte der britischen Filmindustrie angelangte Anarchisten.

Aus Powells Autobiographie:

1940, mit 49th Parallel, hatten wir den Amerikanern gesagt, dass wir genauso ihren Krieg führten wie den unseren. 1941, mit „… one of our aircraft is missing“, hatten wir der Welt gesagt, dass Europa nie erobert werden würde. 1942, mit Colonel Blimp, hatten wir gesagt, dass Großbritannien nie erobert werden würde. 1943, mit A Canterbury Tale, erklärten wir den Amerikanern, und unseren eigenen Leuten, für welche spirituellen Werte und für welche Traditionen wir kämpften.

A Canterbury Tale

Dafür erfanden sie den Friedensrichter Colpepper, der etwas von einem asketischen Mönch des Mittelalters hat und einen eigenen, ziemlich exzentrischen Plan verfolgt, solch spirituelle Werte wieder im Bewusstsein seiner Mitmenschen zu verankern. Im Lauf des Films wird klar, dass sich alle vier Hauptfiguren auf einer Pilgerreise befinden, ob sie das nun wissen oder nicht. Auf dem Weg zur Kathedrale von Canterbury gibt es ein paar kleine Wunder, und am Schluss ein richtig großes. Ein Film über die Anwesenheit der Vergangenheit in der Gegenwart, über die mystischen Kräfte in der Natur, aber ohne Eskapismus und Verklärung. A Canterbury Tale könnte jederzeit in einen Horrorfilm umschlagen, ist grandios inszeniert und war der erste kommerzielle Misserfolg der Archers. Sie konnten es verschmerzen, weil I Know Where I’m Going! und A Matter of Life and Death folgten, zwei auch an der Kinokasse erfolgreiche Meisterwerke.

Nonnen am Abgrund

Nach dem Krieg packte Powell wieder die Wanderlust. Er reiste nach Lateinamerika, besuchte das damals noch weitgehend unbekannte Machu Picchu und kam mit dem Plan zurück, vor Ort ein Epos über die Inkakultur zu drehen und sich bei der Gelegenheit Verbündete in Hollywood zu suchen, statt die Kontakte zur Traumfabrik den Geschäftsleuten zu überlassen. Niemand weiß, wie seine Karriere weiter verlaufen wäre, wenn er es gemacht hätte. Aber zuhause wartete Pressburger mit einem neuen Projekt auf ihn, und er ließ sich überzeugen. Black Narcissus spielt in einem entlegenen Winkel des Himalaya. Da es darum ging, eine Seelenlandschaft zu zeigen, entschied sich der unberechenbare Powell dafür, den Film im Atelier zu drehen (die wenigen Außenaufnahmen entstanden in Leonardslee, einer subtropischen Gartenlandschaft in Sussex). Das Himalaya-Gebirge baute Alfred Junge auf dem Studiogelände von Pinewood nach.

Black Narcissus

Ein indischer Fürst stellt einem anglikanischen Missionsorden einen an einem Abgrund errichteten, früher als Harem genutzten Palast zur Verfügung. Der Orden schickt fünf Nonnen dorthin, um eine Schule und ein Krankenhaus einzurichten. Die Nonnen sehen sich und ihre Gelübde bald einer harten Probe ausgesetzt, was ebenso mit der Atmosphäre im ehemaligen Frauenpalast wie mit unterdrückten Trieben und den Geistern der eigenen Vergangenheit zu tun hat. Die Superiorin, Schwester Clodagh (Deborah Kerr), und Schwester Ruth (Kathleen Byron) verlieben sich beide in Mr. Dean (David Farrar), den englischen Agenten des Fürsten. Die eine Schwester legt für Dean die Ordenstracht ab, aber der liebt die andere, die ihre Libido besser unter Kontrolle hat. Daraus entwickelt sich ein Eifersuchtsdrama, das noch dadurch befeuert wird, dass Deborah Kerr Powells frühere Geliebte war und Kathleen Byron die aktuelle. Black Narcissus ist der erotischste Film, den Michael Powell je gedreht hat (und damit einer der erotischsten Filme des britischen Kinos überhaupt). Er ist auch ein Höhepunkt des Technicolor-Films (Kamera: Jack Cardiff), spielt sehr subtil mit subjektiven und objektiven Farben und bewegt sich mit traumwandlerischer Sicherheit auf dem schmalen Grat zum Exotik-Kitsch.

Black Narcissus

Das Finale der Geschichte ist große Oper. Es gibt eine sechsminütige Sequenz, in der Schwester Ruth versucht, Schwester Clodagh in den Abgrund zu werfen und an deren Ende sie selbst in den Tod stürzt (Hitchcock hatte das bestimmt gesehen, als er Vertigo drehte). Powell verwirklichte mit dieser Sequenz sein Ideal vom „komponierten Film“. Brian Easdale hatte vorab die Musik geschrieben (statt wie üblich hinterher), die beim Proben und beim Drehen der Einstellungen auf dem Klavier gespielt wurde, weil sich alles harmonisch in sie einfügen sollte: die Bewegungen und die Schreie der Darstellerinnen, die Farben und die Ausleuchtung, der Schnittrhythmus. 1947 war das revolutionär. Kein Sensorium für solches Cineastentum hatten Fachorgane wie der Katholische Filmdienst (24.8.1949), weil da meistens die eigene schmutzige Phantasie den Blick verstellte:

Die Verantwortungslosigkeit der Produzenten tritt klar zutage. Sie bringen einen Stand, der vielen Menschen Vorbild ist, in Misskredit, um das Publikum mit interessantem erotischem Kitzel zu ködern. […] Es gibt nichts, was für diesen Film spricht, nichts, was ihm auch nur ein Gran Sympathie abgewinnen könnte [sic]. Wir raten ab.

Black Narcissus

Während Powell und Pressburger noch an Black Narcissus arbeiteten, wurde ihnen eine der höchsten Ehrungen zuteil, die im Vereinigten Königreich zu vergeben waren. Einmal im Jahr fand die Royal Command Performance statt, zu der ausgewählte Bühnenkünstler eingeladen wurden und im Beisein der königlichen Familie ein Stück zur Aufführung kam. Die im Krieg zu Propagandazwecken und zur Hebung der Moral hergestellten Filme hatten dem Kino mehr gesellschaftliche Anerkennung verschafft. Um das auch formell zum Ausdruck zu bringen, wurde 1946 im riesigen Empire Cinema am Leicester Square die erste Royal Command Film Performance veranstaltet. Das war das Ereignis der Saison. Powell und Pressburger wurden dem König und der Königin vorgestellt (George VI. war ein Archers-Fan), dann lief A Matter of Life and Death. Das war, was die Anerkennung ihrer Arbeit in England anging, ihr größter Moment.

Rote Schuhe und rote Zahlen

Alles schien möglich, auch ein sich noch weiter vom Naturalismus entfernender Film um eine reisende Ballettruppe, für die Hein Heckroth, ein in den 30ern aus Nazideutschland geflohener, für Alfred Junges Ausstattungsteam arbeitender Maler das Produktionsdesign entwarf, mit einer 15-minütigen Ballettaufführung nach Hans Christian Andersens Märchen „Die roten Schuhe“, bei der sich Powell nicht um Konventionen schert, Kunst und Leben vermischt und gar nicht erst so tut, als gäbe es ein Publikum, um den naturalistischen Schein zu wahren. Nicht nur Alfred Junge hielt das für übertrieben (für Powell ein Trennungsgrund: er wollte von seinen Mitarbeitern hören, dass er nicht genug wagte, statt zuviel).

The Red Shoes

Die Archers-Produktionen wurden von J. Arthur Rank finanziert. Rank, ein methodistischer Laienprediger und Getreidemühlen-Millionär, gab in den 1930ern einen familientauglichen, mit methodistischen Grundsätzen vereinbaren Film in Auftrag, um dem moralischen Verfall Einhalt zu gebieten. Weil den Film keiner zeigen wollte, kaufte er sich ein paar Kinos. Bald besaß er mehrere Studios, die größte Kinokette des Landes und die größte Verleihorganisation. Ranks Aufstieg zum mächtigsten Filmmogul in Großbritannien wurde dadurch erleichtert, dass sich Hollywood nach Kriegsausbruch zurückzog, weil man dort glaubte, dass Hitler bald in London einmarschieren werde. Er füllte das so entstandene Vakuum. Bei Kriegsende kehrten die Amerikaner zurück. Die britische Regierung versuchte, die heimische Industrie durch Strafzölle auf US-Importe zu schützen. Die großen Hollywood-Studios reagierten mit einem Boykott. Rank intensivierte die eigene Produktion, kündigte für 1948 ein kostspieliges Programm an und sah sich dann in neuen Schwierigkeiten, als der „Filmkrieg“ im März 1948 ein Ende fand (die Amerikaner hatten sich in allen wesentlichen Punkten durchgesetzt), worauf der britische Markt mit einer Flut bisher zurückgehaltener Hollywoodproduktionen überschwemmt wurde.

Rank hielt die meisten der von Powell und Pressburger vorgeschlagenen Projekte für zu ungewöhnlich und wenig erfolgversprechend, ließ die beiden aber machen, solange sich herausstellte, dass das Publikum wider Erwarten sehen wollte, was sie da auf die Leinwand brachten. Die Archers befanden sich in einer beneidenswerten Situation: Mit einem erstklassigen Team, das sich im Laufe der Jahre gebildet hatte, machten sie (für britische Verhältnisse) teure Filme von internationalem Format, mit einem Geldgeber, der dank eigener Kinos den heimischen Verleih sicherte und ihnen eine fast vollständige kreative Freiheit gewährte. Das änderte sich, als die Amerikaner wieder mitmischten, das britische Kino in die nächste Krise schlidderte und auch bei Rank gespart werden musste. Als The Red Shoes im Juli 1948 anlief, schrieb die Rank Organization tiefrote Zahlen.

The Red Shoes

Rank überließ die Geschäfte nun zunehmend seinem Buchhalter John Davis, der für ein Werk wie The Red Shoes gar kein Verständnis hatte und seinen Unmut auf die ihm eigene Weise zum Ausdruck brachte. Die Archers waren es gewohnt, ihr neuestes Werk bei einer feierlichen Premiere in Ranks prächtigem Uraufführungskino am Leicester Square vorzustellen. Als diesmal die Premiere ausfiel, wurde das in der Branche als Misstrauensvotum gewertet: Davis schien möglichst viel Geld einnehmen zu wollen, bevor es sich herumsprach, wie schlecht der Film war. The Red Shoes wurde kaum beworben, lief nur in wenigen Kinos und galt als böser Flop, als er im Oktober aus dem Verleih verschwand. Aber im Ausland, besonders in den USA, kam das Publikum in Scharen. The Red Shoes war mit dabei, als das Branchenblatt Variety 20 Jahre später eine Liste mit den 50 größten Kassenschlagern veröffentlichte. Der eigentlich ganz unkommerzielle, scheinbar ein gebildetes Nischenpublikum ansprechende Film hatte sich zur bis dahin kommerziell erfolgreichsten britischen Produktion aller Zeiten gemausert.

Es gibt ein Photo von 1951, auf dem J. Arthur Rank Powell und Pressburger eine in Japan vergebene Auszeichnung überreicht. Als das Photo aufgenommen wurde, war es schon ein Bild aus alten Zeiten. Nach den Querelen rund um Die roten Schuhe war die gemeinsame Vertrauensbasis zerstört. Powell und Pressburger gingen eigene Wege. Das war der Anfang vom Ende der Archers. Powell und Pressburger wussten es nur noch nicht, weil sie glaubten, mit fliegenden Fahnen zu Alexander Korda wechseln zu können. Korda hatte die Archers zusammengeführt, und dafür waren sie ihm dankbar. Möglicherweise verwechselten sie den real existierenden Filmproduzenten und Finanzjongleur mit dem geschönten Bild, das sie sich im verklärenden Licht der Erinnerung von ihm machten. Das war ein Fehler.

Alexander Korda hatte den durch den Beginn des Zweiten Weltkriegs unterbrochenen Thief of Bagdad in den USA fertiggestellt und dort überwintert. Jetzt war er wieder da und entschlossen, Rank den Rang abzulaufen. Die Archers hatten nicht als einzige das Gefühl, dass in der Rank Organization die Buchhalter zu stark den Ton angaben. Korda fiel es daher leicht, Rank seine Star-Regisseure abzuwerben (Carol Reed drehte für seine Firma London Films den Klassiker The Third Man). Powell und Pressburger unterschrieben bei Korda keinen Vertrag für jeweils einen Film, wie sie es bei Rank gemacht hatten, sondern für fünf Stück. Das war ihr nächster Fehler.

The Small Back Room

Das erste Projekt, The Small Back Room, war die Verfilmung eines Romans von Nigel Balchin. An der Glorifizierung des britischen Kriegshelden, an der andere längst arbeiteten, waren Powell und Pressburger nicht interessiert. Ihr Held ist ein Wissenschaftler mit schlecht sitzender Beinprothese, der dagegen ankämpfen muss, die Schmerzen mit Whisky zu betäuben. Die Geschichte spielt im Kriegsjahr 1943. Sammy Rice (David Farrar), ein Experte für Bombenentschärfung, arbeitet für eine Abteilung des Kriegsministeriums, die neue Waffen entwickelt und Klagen des Militärs über mangelnde Funktionstüchtigkeit damit kontert, dass die Zahlen etwas anderes belegen. Rice ist der einzige in der Abteilung, der Waffen bauen will, mit denen man auch den Krieg gewinnen kann, statt die eigenen Leute zu gefährden. Im Großbritannien des Jahres 1949 kam das nicht gut an.