Top-Terrorist Carlos unterhielt Netzwerk mit RAF und Revolutionären Zellen

Deutsche Behörden schweigen bis heute zum Ausmaß der Zusammenarbeit

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Ilich Ramirez Sanchez, besser bekannt unter dem Namen "Carlos, der Schakal", galt in den 80-er Jahren des vergangenen Jahrhunderts als der gefährlichste und meistgesuchte Terrorist der Welt. Der Mann, der als Terror-Söldner quer über den Erdball eine blutige Spur zog, hatte auch enge Verbindungen zu deutschen Terrororganisationen. Doch über das wahre Ausmaß dieser Zusammenarbeit schweigen die Sicherheitsbehörden bis zum heutigen Tag. Im Hauptstaatsarchiv Stuttgart lagernde Akten des BKA beweisen: RAF und Carlos hatten auch ein Attentat auf Walter Scheel (FDP) geplant.

Wie in deutschen Ämtern und Behörden üblich, geben auch heute noch Bundeskriminalamt und Bundesinnenministerium immer nur jene Informationen an die Öffentlichkeit, die sich sowieso nicht mehr verbergen lassen. Darüber hinaus herrscht das berühmte Schweigen im Walde. So auch im Fall Carlos. Dass der Venezulaner mit deutscher Terroristen-Hilfe am 12. Dezember 1975 in Wien die Konferenz der Minister der Erdöl exportierenden Länder, OPEC, u.a. zusammen mit Gabriele Kröcher-Tiedemann und Hans-Joachim Klein (beide Revolutionäre Zellen) überfiel, drei Menschen erschoss und mit 33 Geiseln per Flugzeug in Richtung des arabischen Raums flüchtete, ist hinreichend bekannt.

Bild Walter Scheel: Bundesarchiv (Bild 146-1989-047-20). Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Auch der durch Carlos' palästinensischer Stammorganisation PFLP initiierte und durchgeführte "Fall Entebbe" fand unter wesentlicher deutscher Beteiligung statt und ist der Öffentlichkeit nicht verborgen geblieben. In der Nacht vom 4. auf den 5. Juli 1976 endete auf dem Flughafen der ugandischen Hauptstadt Entebbe die Entführung einer Air-France-Maschine auf ihrem Weg von Tel Aviv nach Paris blutig. Nachdem die Entführer die Freipressung von 35 Terroristen aus der Haft gefordert hatten (unter ihnen auch die Stammheimer RAF-Gefangenen), dirigierten sie die Maschine nach Uganda, wo ein israelisches Spezialkommando die Geiseln in einer wilden Schießerei befreite. Dabei kamen die deutschen Terroristen Wilfried Böse und Brigitte Kuhlmann von den RZ ums Leben.

Auch der Sprengstoffanschlag auf das Maison de France am 25. August 1983 in Berlin (West), bei dem zwei Menschen ums Leben kamen und über zwanzig verletzt wurden, ging von Carlos aus. Sein deutscher Intimus Johannes Weinrich sitzt dafür noch heute in Berlin-Moabit. Er hatte den für das Attentat benötigten Sprengstoff in Ost-Berlin zwischengelagert und anschließend über die Grenze zum Kurfürstendamm gebracht. Genau an diesem Punkt enden - offiziell - die Aktivitäten der Carlos-Gruppe in der Bundesrepublik. Was der Mann aus Carracas in Deutschland sonst noch alles trieb, halten die Sicherheitsbehörden geflissentlich zurück.

Dazu lohnt sich ein Blick in ein amtliches Dossier mit dem Titel "Der Fall Carlos", 75 Seiten stark und als geheime Verschlusssache gestempelt. In diesem Papier, geschrieben vom BKA und gespickt mit französischen und britischen Geheimdiensterkenntnissen, wird die gesamte Rolle Carlos' in Deutschland deutlich. Demnach hatte der Terrorist im Juni 1975 im Pariser Studentenviertel Quartier Latin, Rue Toullier 9, eine konspirative Wohnung, in der er in diesem Sommer einen Komplizen und einen französischen Kriminalbeamten erschoss. Nur Minuten danach, Carlos befand sich bereits auf der Flucht und die Polizei in der Wohnung, wurde klar, dass der Venezulaner auch in der französischen Hauptstadt enge Verbindungen zu Deutschen aus der Terror-Szene unterhielt.

Vor der Wohnungstür stand plötzlich eine Ulrike S. aus Tuttlingen im Schwarzwald und wollte Carlos besuchen. Weil ihre Erklärung, sie habe Carlos in einem Pariser Cafe kennen gelernt und sei über seine wahren Aktivitäten nicht orientiert, so das Dossier, doch eher widersprüchlich klang, wurde die Frau mit Verbindungen zu deutschen Terroristen zunächst einmal festgenommen. Über Ermittlungen zu ihrer Person stießen die französischen Behörden schließlich auf ein ganzes Netz, dass der "Schakal" in der Bundesrepublik unterhielt, und leiteten die Erkenntnisse von Paris aus ans BKA in Wiesbaden weiter.

Freunde und teilweise deren verwandtschaftlichen Beziehungen hatten dafür gesorgt, dass Carlos in Deutschland Fuß fassen konnte. So legt "Der Fall Carlos" das genaue Gegenteil dessen dar, was die deutschen Sicherheitsbehörden der Bevölkerung bis dato noch immer verkaufen: Es habe nie ein Netz des Südamerikaners hierzulande gegeben, und abgesehen von den oben geschilderten Aktionen seien Deutsche nicht in seine Anschläge und Aktivitäten involviert gewesen. Immerhin waren die Aufenthalte Carlos' in Deutschland derart selten, dass er bereits Mitte der 70-er Jahre im "Hotel Cafe Europa" auf der Baseler Straße 17 in Frankfurt/Main einen Stammplatz hatte. Es war der Tisch Nummer 6, an dem der untersetzte Terrorist Platz zu nehmen pflegte, wenn er Freunde aus der linksradikalen Szene der hessischen Metropole traf, aus der auch einer seiner besten Männer, Hans-Joachim Klein, stammte. In diesem Cafe, so der Bericht BKA SO/TE-6885, Tagebuchnr. 300/75 VS V, wurde denn auch eine Kooperation zwischen Carlos und den Deutschen vereinbart. Er versorgte sie über einen Mittelsmann mit Geld und sie unterstützten ihn bei Aktionen.

Seine ausgezeichneten Verbindungen bestanden u. a. zu einem arabischen Arzt, der in einem Krankenhaus in Oberhausen (NRW) arbeitete und zu einer gewissen Karoline K. in Alsdorf, einem unscheinbaren Dorf bei Aachen. K. war ehemaliges KPD-Mitglied und unterhielt beste Kontakte zur DDR, indem sie Reisen von Jugendgruppen zur FDJ (Freie Deutsche Jugend) organisierte. Auch Ralph Reinders, eines der bekanntesten RAF-Mitglieder, traf sich häufig mit Carlos. Bei einem Besuch in Paris heckten beide den Plan aus, einen Anschlag auf den heutigen Alt-Bundespräsidenten Walter Scheel zu verüben. Doch bei der Ausspähung Scheels wurde das Vorhaben wieder fallen gelassen. Die Sicherheitsvorkehrungen für ihn waren zu scharf.

Der Clou der Kontakte des Top-Terroristen nach Deutschland war allerdings eine Deckadresse im schwäbischen Schwaigern. Dort, in der Sollenbergstraße, wohnte der ahnungslose Schwiegervater eines Carlos-Freundes aus Paris. Urlina Luis Angel Urdaneta von der feinen Rue du Montparnasse, der auch bei der Schießerei in der Wohnung Rue Toullier 9 anwesend war, hatte die Tochter des Mannes geehelicht. Für Carlos ein gefundenes Fressen. Bevor dieser zu einer Reise nach oder durch die Bundesrepublik aufbrach, bildete Urdaneta eine Art Vorauskommando, prüfte, ob die Luft in Schwaigern rein war und ließ seinen Chef nachkommen.

Bundesdeutsche Behörden waren auch darüber orientiert, dass der "Schakal" per Auto ungehindert vom Gebiet der DDR in die Bundesrepublik fahren konnte. Laut einer Stasi-Unterlage diente ihm die RAF-Terroristin Juliane Plambeck in einem Wagen mit französischem Kennzeichen dabei als Chauffeuse. Als Plambeck 1981 zusammen mit Wolfgang Beer auf einer Kreisstraße bei Bietigheim-Bissingen (Baden-Württemberg) tödlich verunglückte, trug der rote Golf, in dem sie fuhren, Pariser Kennzeichen. Im Fahrzeuginneren fanden Polizisten eine Maschinenpistole der Marke Heckler & Koch, ein HK 93 mit abgesägtem Schaft und Lauf, das Spuren aus dem Tatkomplex Buback trug.

Carlos verfügte offenbar auch über Detailkenntnisse aus dem deutschen Sicherheitsapparat. So soll er nach Angaben des britischen Autors David Yallop ("Die Verschwörung der Lügner", 1994) nach dem OPEC-Überfall im Flugzeug erklärt haben, dass es zwischen RAF und Bundesregierung ein Abkommen gegeben habe. Der Inhalt: Dafür, dass die Nachfolgegeneration Baaders und Ensslins keine Lufthansa-Maschinen entführe und keine Aktionen auf deutschen Flughäfen durchführe, habe die Regierung jährlich 2,5 Millionen D-Mark (etwa 1,25 Millionen Euro) Schutzgeld gezahlt. Tatsächlich griff die RAF weder Lufthansa-Flugzeuge noch deutsche Flughäfen an. Die Entführung der "Landshut" im Herbst 1977 war das Werk arabischer Terroristen, nicht der RAF.