Außenseiter Klimaschutz

1 730 000 Prozent Steigerung des Wirtschaftswachstums? Das hält die Erde nicht aus. Gespräch mit Angelika Zahrnt über Klimagipfel und eine Wirtschaft jenseits des permanenten Wachstums

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Nach dem gescheiterten Kopenhagener Gipfel wird derzeit in Bonn verhandelt: Wie weiter im Internationalen Klimaschutz? Die offiziellen Bonn Climate Talks sollen den nächsten Klimagipfel in Cancún vorbereiten. Kritisch begleitet werden sie durch das Bonner Klimaforum, wo Nichtregierungsorganisationen wie ATTAC und der BUND nach Alternativen suchen. Am Rande des Klimaforums sprach Telepolis mit Angelika Zahrnt, Mitglied im Nachhaltigkeitsrat der Bundesregierung und Ehrenvorsitzende des BUND.

Bleibt es beim Verhandlungsstand von Kopenhagen dann bedeutet das eine globale Temperaturerhöhung von drei bis vier Grad Celsius. Das Ziel lautet zwei Grad. Und selbst bei Erreichen dieses Ziels würden Länder wie Bangladesch wohl im Meer versinken. Warum gibt es, trotz Konferenzen im Dutzendpack, keine Verhandlungsergebnisse mit Substanz?

Angelika Zahrnt: Die Verhandlungen in Kopenhagen sind ganz wesentlich an dem Konflikt von Klimaschutz und Wirtschaftswachstum gescheitert. Die USA sehen im Klimaschutz eine Bedrohung für ihr weiteres Wachstum, für den american way of life. China und Indien sehen ihre gerade erst eröffneten Möglichkeiten zu wirtschaftlicher Entwicklung begrenzt.

Die Luft ist raus!

Nun geht der Verhandlungsmarathon weiter: Bis zum 11. Juni wird auf Ministerebene in Bonn verhandelt. Ende des Jahres soll im mexikanischen Cancún ein Nachfolger für das Kyoto-Protokoll besiegelt werden. Sind Sie optimistisch?

Angelika Zahrnt: Ich selbst bin nicht optimistisch. Ich habe auch hier auf dem Bonner Klimaforum niemanden getroffen, der daran glaubt, dass in Cancún irgendwelche substanziellen Ergebnisse erzielt werden. Vor Kopenhagen waren die Erwartungen groß, nun werden sie tiefer gehängt. Auch der EU-Vertreter, den wir zu Gast hatten, meinte: Okay, 2011 geht es weiter – vielleicht. Es ist kein Drive in den Verhandlungen, da sind keine Ambitionen. Das ist biederes Verhandeln ohne Erwartungen, ohne Druck, zu echten Ergebnissen zu kommen. Die Luft ist raus.

Die Menschheit als Ganzes kann reagieren, wenn eine Gefahr offensichtlich und wissenschaftlich belegt ist

Das System aus Verhandlungen, Verträgen, neuen Verhandlungen, Vertragsergänzungen (wie dem Kyoto-Protokoll) und so weiter nennt man Internationales Regime. Das Regime zum Schutz der Ozonschicht war erfolgreich. Das Klimaschutz-Regime ist ihm nachgebildet. Ist das überhaupt sinnvoll?

Angelika Zahrnt: Das „Montrealer Protokoll zum Schutz der Ozonschicht“ war in der Tat erfolgreich. Das zeigt: Die Menschheit als Ganzes kann reagieren, wenn eine Gefahr so offensichtlich und wissenschaftlich belegt ist. Nur muss man vorsichtig sein, wenn man fragt: Für den Schutz der Ozonschicht hat es geklappt, warum sollen wir nicht nach dem selben Muster Kohlendioxid reduzieren?

Bei der Ozonschicht mussten FCKW und ein paar andere Gase gebannt werden. Das betraf Kühlschränke und Haarsprays. Jetzt geht es um Energie. Es wird also nicht nur ein marginaler Teil unserer Wirtschaft berührt. Es geht ums Ganze, es geht um unsere bisherige Produktionsweise und um unseren bisherigen Lebensstil.

Angelika Zahrnt; Foto: BUND

Und es geht um Erdgas, Kohle und Öl – und da kommen mächtige Lobbies (siehe Braune Kohle, grün gewaschen) ins Spiel...

Angelika Zahrnt: ... denen keine vergleichbar mächtigen Lobbies gegenüberstehen. Die FCKW-Produzenten bildeten keine so mächtige Lobby. Erdgas, Kohle, Öl, das ist ein anderes Kaliber.

Politik und Energiewirtschaft setzen auch in Deutschland auf neue Kohlekraftwerke. Die Folgen für das Klima sind, wie jeder wissen kann, verheerend. Warum dennoch Kohleverstromung?

Angelika Zahrnt: Auch hier sind wirtschaftliche Interessen an erster Stelle zu nennen. Die Politik ist nicht mutig genug, gegen diese Interessen voll auf erneuerbare Energien, Energieeffizienz und Energieeinsparung zu setzen. Dabei rechnet auch der Sachverständigenrat für Umweltfragen der Bundesregierung vor: Wir kommen ohne neue Kohlekraftwerke und ohne eine Verlängerung der AKW-Laufzeiten aus.

Die Industrieländer streben ein Wirtschaftswachstum von drei Prozent pro Jahr an. Damit würde sich das Volumen der Wirtschaft binnen hundert Jahren mehr als verneunzehnfachen. Warum gilt das Motto „Wachstum, Wachstum über alles“?

Angelika Zahrnt: Dahinter steckt ein Glaube, dass Wirtschaftswachstum alle Probleme lösen wird: Mehr Wohlstand, weniger Arbeitslosigkeit und mehr Glück, weil alle mehr Güter haben. Dieser Glaube an unbegrenztes Wirtschaftswachstum ist noch gar nicht so alt: Er entstand erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Doch Wirtschaftswachstum führt nicht zu sozialem Ausgleich. Wir haben trotz Wirtschaftswachstum eine vertiefte soziale Spaltung. Man muss eine neue Sozial-, Einkommens- und Umverteilungspolitik machen, um sozialen Ausgleich zu schaffen. Für das zweite Ziel, die Vollbeschäftigung, bräuchte man fünf Prozent Wachstum – und das ist illusorisch.

Glück durch 1 730 000 Prozent Steigerung des Wirtschaftswachstums?

Fünf Prozent Wirtschaftswachstum, das bedeutet nach hundert Jahren über 13 050 Prozent und nach zweihundert Jahren knapp 1 730 000 Prozent Steigerung, also eine satte Versiebzehntausendfachung der Produktion. Würde wenigstens das uns glücklich machen?

Angelika Zahrnt: Nein, auch das Versprechen vom Glück durch Wachstum lässt sich nicht dauerhaft erfüllen. Menschen werden nicht glücklicher, wenn sie in jedem Zimmer einen Fernseher stehen haben und fünf Mal im Jahr durch die Welt fliegen. Die Zufriedenheit steigt mit dem Einkommen, aber nur bis zu einem gewissen Punkt. Das hat die Glücksforschung festgestellt. In den Industrieländern haben wir ein so hohes materielles Niveau erreicht, individuell wie gesellschaftlich. Die Frage ist, wie wir ohne eine weitere Steigerung auskommen. Wir müssen Alternativen finden: Was macht uns glücklich, wenn nicht das Immer-mehr-Haben?

Laut Glücksforschung: Soziale Gleichheit und Solidarität.

Angelika Zahrnt: Diese Thesen haben Erich Fromm und andere schon lange vertreten, aber jetzt kann man sie auch wirklich empirisch fundiert belegen. Ich glaube, die Debatte um die Ziele des Wirtschaftens kann eine ganz neue Wendung nehmen. Wir erkennen: Soziale Gleichheit und soziale Kontakte sind für das Wohlbefinden viel wichtiger als immer mehr Güter. Auch deshalb sollten wir in unseren – im Schnitt! – reichen Gesellschaften mehr Wert auf sozialen Ausgleich legen.

Von den 21 Zielen werden zwei Drittel erkennbar nicht erreicht

Stagnation ist Ausdruck und Ursache von Wirtschaftskrise, so zumindest die Mainstream-Meinung. Wie funktioniert eine Marktwirtschaft ohne Wachstum?

Angelika Zahrnt: Das ist die entscheidende Frage, über die wir uns Gedanken machen müssen. Der Ökonom Hans Christoph Binswanger glaubt: Ohne ein minimales Wirtschaftswachstum von einem bis anderthalb Prozent geht es nicht. Ich denke, dass ist eine offene Frage. Aber die Erde wird eine Vervielfachung der Produktion nicht aushalten. Darum müssen wir uns Gedanken machen, wie wir Wirtschaft und Gesellschaft anderes strukturieren können, damit sie ohne Wirtschaftswachstum auskommen.

Die Debatte steht also am Anfang.

Angelika Zahrnt: Nein, die Kritik am Wirtschaftswachstum ist spätestens in Folge des Jahres 1968 in Deutschland hochgekommen. Sie hat Auf und Abs gehabt und bekommt nun erneut Dynamik vor dem Hintergrund der Klimaproblematik. Weiteres Wachstum in den Industrieländern, neues notwendiges Wachstum in der Dritten Welt und eine Reduktion der Treibhausgase in hinreichendem Umfang – das geht nicht zusammen, wie langsam deutlich wird.

Sie sind Mitglied im Nachhaltigkeitsrat, beraten die Bundesregierung. Wie viel Gehör finden Sie bei der Kanzlerin?

Angelika Zahrnt: Der Nachhaltigkeitsrat hat unterschiedlich Gehör gefunden mit seinen Empfehlungen. Die Bundesregierung hat eine weitestgehend gute Nachhaltigkeitsstrategie. Die muss sie aber ernst nehmen und umsetzen. Bisher ist sie dabei gescheitert, das hat das Statistisches Bundesamt nüchtern vorgerechnet. Von den 21 Zielen werden zwei Drittel erkennbar nicht erreicht. Bei jeder Klimaschutzmaßnahme ist der Umweltminister dafür, aber der Wirtschaftsminister nickt nur dann, wenn keine Gefahr für das Wirtschaftswachstum besteht.