Der Turmbau zu Stuttgart

Rohbau-Fassade der neue Stadtbibliothek. Allle Bilder: Marcus Hammerschmitt

Die Hauptstadt Baden-Württembergs baut eine neue Bibliothek, und sie wird ein beeindruckendes Stück Architektur werden

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Das Richtfest für eine neue Stadtbibliothek rangiert üblicherweise auf der Beliebtheitsskala öffentlicher Events etwa auf dem Level einer Pissoir-Einweihung, und daher muss es schon etwas Besonderes sein, wenn zu einem solchen Richtfest die Notablen auftauchen. Impressionen von einem (halb-)öffentlichen Ereignis im Südwesten.

Das Besondere kann man zunächst an einer Zahl festmachen: 79 Millionen. So viele Euro lässt sich Stuttgart seine neue Stadtbibliothek kosten, und das ist in einer Zeit, in der Beschäftigung mit Stadtbibliotheken ein erstrangiger Karrierekiller in der Lokalpolitik ist, schon an sich bemerkenswert.

79 Millionen

Andererseits sind kulturelle Gelegenheiten ja immer so eine Sache. Meistens wird zu viel geredet, und kluge Reden sind eher die Ausnahme, weil so viel Platz und so geduldige Zuhörer für so viel dummes Geschwätz vorhanden sind, das die betreffenden Politiker/Kulturamtsleiter/Mäzene schon am nächsten Tag nicht mehr kümmert. Das Richtfest für die neue Stuttgarter Bibliothek war demgemäß nur als eine kulturelle Gelegenheit der schlimmeren Art vorstellbar. Aber ich war nun einmal eingeladen, und interessieren tat's mich doch, nachdem ich die Pläne einmal gesehen hatte. Vor allem die Führung durch den Rohbau wollte ich nicht verpassen.

Rede von OB Schuster

Der Sicherheitsdienst ließ mich zu (man wollte wohl die kulturelle Gelegenheit frei von Stuttgart-21-Protestierern halten), und sogleich begannen die Reden. Der Oberbürgermeister der Stadt redete, aber erfreulich kurz. Ein Landtagsabgeordneter redete, erfreulich kurz. Ebenso die Chefin der Stadtbibliothek. Mit Selbstlob wurde nicht gespart, aber das Schöne war: Es kam anscheinend zu Recht, und allen Aussagen, ob nun in politischer Absicht geäußert oder nicht, merkte man eine seltene Qualität an: die Leute meinten, was sie sagten. Sie waren wirklich stolz auf das entstehende Werk in ihrem Rücken, sie waren froh, an dieser Sache in der einen oder anderen Funktion mitgewirkt zu haben. Es war viel die Rede von der Wissensgesellschaft und von der Vermittlung des benötigten Wissens im 21. Jhdt., von der Integration neuer Medien und der Integration von Mitbürgern mit Migrationshintergrund, es war die Rede von den 79 Millionen.

Dass es in dem weitläufigen Bau Konfrenzräume, Vortragssäle, Veranstaltungsräume für Musik, Literatur und Theater geben wird, dass man sich als Nutzer Laptops ausleihen und an schallgedämpften Einzelarbeitsplätzen nutzen können wird, dass man von 500.000 Medieneinheiten im Bestand der neuen Bibliothek ausgeht, und, abermals, dass sie 79 Millionen kosten wird, und dass es nicht ganz einfach war, so viel Geld aufzutreiben für die Kultur.

In der Tat fragt man sich, wie Stuttgart, das möglicherweise mit einem Milliardenbeitrag in der Planung für das sinnentleerte Stuttgart-21-Projekt drinhängt, und diesen Betrag jüngst durch Kürzungen im Kulturetat auffangen wollte, zusätzlich diese neue Bibliothek stemmen will. Für die Redner war das alles kein Problem, und ihr Stolz und ihre Freude, endlich mal Geld für etwas Sinnvolles ausgegeben zu haben, ja sogar eine gewisse Überraschung darüber, verbreitete sich hin zum Publikum, auch zu mir.

Bei der Führung

Der Architekt Eun Young Yi in seiner Begeisterung und Rührung hätte es dann beinahe zum Kippen gebracht. Seine durchaus kühnen Pläne für die neue Bibliothek, die zum Beispiel einen zentralen, würfelförmigen Raum von 15 Metern Kantenlänge vorsehen, in dem nichts ist, und der als "Herz" bezeichnet wird, sprechen von einer gewissen spirituellen Ergriffenheit, die angesichts des Zwecks einer öffentlichen Bibliothek - Wissen für alle - leicht fehl am Platz wirken kann.

Er konnte sich die Vermutung nicht verkneifen, bei der guten Ausführung von Vorhaben wie diesem sei "der liebe Gott" anwesend, und weil man sicher sein konnte, dass er damit nicht sich selbst oder die 79 Millionen meinte, wurde schlagartig deutlich, dass es sich bei der neuen Stuttgarter Bibliothek neben vielem anderem auch um eine Kulturkirche handeln wird - ein faszinierender Einblick in die Mechanismen zum Recycling der zerfallenden Religionen. Gegenüber einer Transformation zum Jihadismus mag das die angenehmere Verpuppungsform der Religion sein, aber für mich, der Kultur und Kultus gern als zwei verschiedene Dinge sieht, ist das doch gewöhnungsbedürftig.

Projektleiter Wieschemann erklärt

Und dann machte der Projektleiter Wieschemann eine Führung. Erklärte das "Herz", den sich nach oben erweiternden Lesesaal, der auf dem Herzen aufsitzt, die vierfach-helixförmigen Treppenhäuser, Außenfassade und Innenfassade, die Gheothermie im Keller und die Photovoltaik auf dem Dach. Und der entscheidende Satz fiel, als Wieschemann bemerkte: Dies sei einmal ein Bauvorhaben, bei dem der Architekt die Reinheit des Entwurfs bis zum Schluss durchhalten könne.

Zum Essen gab es Spanferkel

Noch auf dem Rückweg über die große Freifläche, auf der einmal ein neues Geschäftsviertel die neue Bibliothek umzingeln soll, dachte ich: Das wird was. Die Stadt war um den Bahnhof herum an diesem Tag voller Ereignisse. Auf dem kaum noch benutzten Gleis 1a fanden offenbar Stellproben für einen Filmdreh statt. Fans der Stuttgarter Kickers waren auf dem Weg zum SSV Reutlingen, und die Polizei begleitete sie zu den für Gegröle reservierten Waggons im Verhältnis eins zu eins. Ich saß auf der Rückfahrt an meinem Platz, und wusste nicht genau, was ich denken sollte. Aber meine Gefühle waren klar: Ich freute mich auf die neue Bibliothek.

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Skepsis auf dem Rohbaudach