"Ein Jahr voller Gewalt"

Vor einem Jahr putschten Oberschicht und Militär gegen die letzte demokratisch gewählte Regierung von Honduras

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Am 28. Juni 2009 sollte in dem kleinen mittelamerikanischen Honduras über die Möglichkeit einer verfassunggebenden Versammlung abgestimmt werden. Mit der Reform des Grundgesetzes versuchte die liberale Regierung von Präsident Manuel Zelaya die sozialen Rechte einem Land zu stärken, in dem nach Angaben von UNO-Organisationen bis zu 70 Prozent der Bevölkerung in Armut leben.

Zu der Abstimmung sollte es nie kommen. In den frühen Morgenstunden des Tages stürmte ein Sonderkommando der Armee die Residenz des Präsidenten, verschleppte ihn und brachte ihn außer Landes (Präsident in Honduras durch Militärputsch gestürzt). Es war der erste erfolgreiche Militärputsch in Lateinamerika nach Jahrzehnten. Hintergrund des Umsturzes waren in erster Linie die sozialen Auseinandersetzungen in dem mittelamerikanischen Land.

Seither ist Honduras international isoliert. Die übergroße Mehrheit der UN-Mitgliedsstaaten erkennt das Putschregime nicht an. Dies galt für Diktator Roberto Micheletti ebenso wie für den aktuellen Machthaber Porfirio Lobo. Unterstützt wird das Regime jedoch von den USA und der EU. Vor allem die deutsche Regierung und die in Honduras vertretene FDP-nahe Friedrich-Naumann-Stiftung werben für die Anerkennung der Putschisten, unter deren Herrschaft mehrere Dutzend Aktivisten der Demokratiebewegung ermordet wurden.

Telepolis sprach mit Edgar Soriano Ortiz. Der 30jährige Historiker und Theaterschauspieler ist aktiv in der Nationalen Widerstandfront gegen den Staatsstreich. In der unlängst gegründeten internationalen Kommission dieses zentralen Bündnisses der Demokratiebewebung ist er für die Kontakte Europa zuständig.

Herr Soriano, vor einem Jahr, am 28. Juni 2009, hat in Honduras ein Militärputsch gegen die letzte demokratisch gewählte Regierung ihres Landes stattgefunden. Präsident Manuel Zelaya wurde von einem Spezialkommando der Armee entführt und außer Landes gebracht. Seither hält sich das Putschregime, das vor allem von den USA und der EU unterstützt wird. War dieser Umsturz also erfolgreich?

Edgar Ortiz: Wenn wir über das Geschehen vor einem Jahr sprechen, müssen wir uns zunächst darüber im Klaren werden, was geschehen ist: Am 28. Juni 2009 fand ein Putsch, ein krimineller Akt, der Oberschicht statt, die vom US-Außenministerium unterstützt wurde. In Honduras gedenken wir heute der Opfer der Repression. Es war ein Jahr voller Gewalt, auch struktureller Gewalt. Immerhin leben 70 Prozent der Bevölkerung in Armut. Die Gründe dafür sollten mit dem Projekt einer verfassunggebenden Versammlung ausgeräumt werden. Dieses Vorhaben hatte zum Sturz der Regierung Zelaya geführt. Unter dem Putschregime hat die politische Gewalt von Seiten des Staates massiv zugenommen. Es gab Übergriffe, Verletzte, Tote. Zahlreiche Aktivisten des Widerstandes mussten das Land verlassen.

Aber ein Jahr nach dem Staatsstreich zeigen sich auch die Fortschritte. Wir begehen heute auch das einjährige Bestehen der Nationalen Front des Volkswiderstandes, des zentrales Protestbündnisses der Demokratiebewegung. Denn dieser Putsch richtete sich nicht nur gegen Zelaya, sondern gegen die übergroße Mehrheit der honduranischen Bevölkerung. Unser Erfolg besteht in der täglichen Widerstand gegen das Regime, in den Stadtteilen, auf dem Land. Es geht darum, die Bevölkerung zu politisieren und zu organisieren.

Aber nach dem Sturz Zelayas gab es täglich Massenproteste im ganzen Land. Inzwischen sind diese sichtbaren Proteste abgeebbt. Weist das nicht auf eine Schwächung der Demokratiebewegung hin?

Edgar Ortiz: Nein, denn es hat sich nur die Strategie geändert. Inzwischen geht es darum, die Bevölkerung landesweit an der Basis zu organisieren. Natürlich waren die ersten Reaktionen massiv. Die Menschen sind massenhaft auf die Straßen gegangen, um diesen Staatsstreich der Rechten gegen die legitime Regierung zurückzuweisen. Die Bevölkerung forderte die Rückkehr des Präsidenten. Nach mehreren Monaten haben wir die Strategie geändert. Nun geht es, wie gesagt, um die langfristige Organisation der Bevölkerung.

Auch in einem Kommuniqué der Widerstandsfront heißt es zuversichtlich: "Die Gegenwehr nimmt von Tag zu Tag zu und sie findet auf dem ganzen nationalen Territorium statt." Geben Sie uns ein Beispiel für diese Bewegung?

Edgar Ortiz: Die Menschen organisieren sich in den Stadtteilen und Nachbarschaften in Komitees und sozialen Zusammenhängen. Das ist wichtig, weil eine organisatorische Basis für den Kampf der Demokratiebewegung geschaffen werden muss. Langfristig genügt es nicht, wenn sich der Protest aus einer Emotion heraus speist. Wenn wir eine wahrhafte Demokratie aufbauen wollen, in der die gesamte Bevölkerung an den Entscheidungsprozessen beteiligt ist, müssen wir gleichsam ein Bewusstsein für diese Kultur schaffen und das herrschende Zweiparteiensystem durchbrechen, in dem die Kandidaten von oben vorgegeben und von wirtschaftlichen Machtgruppen eingesetzt werden.

Um diese neue politische Kultur zu entwickeln, fordern Sie nach wie vor die Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung. Wie wollen Sie das unter den gegebenen Bedingungen durchsetzen?

Edgar Ortiz: Indem wir die Strukturen der Nationalen Widerstandsfront als Vertreterin der Bevölkerungsmehrheit ausbauen. Uns ist klar, dass wir nur mit einer Verfassungsreform die Macht der ein Dutzend Familien brechen können, die Honduras politisch und wirtschaftlich im Würgegriff halten. Das Hauptziel der verfassunggebenden Versammlung ist es, die soziale Gerechtigkeit in diesem Land massiver sozialer Ungleichheit zu stärken.

Die aktuelle Staatsführung unter dem rechtsgerichteten Unternehmer Porfirio Lobo erkennen Sie nicht an. Was bedeutet das aber praktisch?

Edgar Ortiz: Sehen Sie, Lobo wurde Ende November vergangenen Jahres in einem Wahlgang unter der Kontrolle und mit Manipulation der Putschisten inthronisiert. Diese Wahlen wurden von der Mehrheit der Bevölkerung nicht anerkannt: Rund 60 Prozent der Honduranerinnen und Honduraner enthielten sich. Auch die große Mehrheit der internationalen Gemeinschaft erkennt das Lobo-Regime deswegen nicht an.

Dennoch hat er einen "Prozess der Versöhnung" angekündigt. Welche Erfahrungen haben sie mit seiner Führung gemacht?

Edgar Ortiz: Lobo hat auf voller Linie bewiesen, dass er nichts anderes darstellt, als die Fortsetzung des Putschregimes unter seinem Vorgänger, dem Diktator Roberto Micheletti. Seit seiner Amtsübernahme im Januar dieses Jahres setzt er den Polizei- und Militärapparat dazu ein, die in der Widerstandfront organisierte Bevölkerung zu unterdrücken. Führende Putschisten haben inzwischen Posten in seiner Regierung inne.

Zum Beispiel?

Edgar Ortiz: Arturo Corrales, der "Minister" für Planung und Kooperation, General Romero Vásquez Velázquez, die Juristin Vilma Morales oder Mirna Castro, die zur "Kulturministerin" ernannt wurde.

Die Weigerung, das Lobo-Regime anzuerkennen, soll also auch die schleichende internationale Akzeptanz vermeiden. Wir sind uns etwa im Klaren darüber, dass alle Mittel, die diesem Regime zur Verfügung gestellt werden, später dem honduranischen Volk auf die Rechnung gesetzt werden. Tatsächlich wurde unlängst ein erster provisorischer Haushalt beschlossen. Das Lobo-Regime versucht auf diese Weise den Staatsbankrott zu vermeiden, weil seine Führung aufgrund der mangelnden internationalen Anerkennung keinen Zugang zu globalen Fonds hat. Der provisorische Haushalt wurde allein von den USA unterstützt, deren Regierung Lobo als einen Präsidenten der Versöhnung präsentiert, der sich gegen radikale Kräfte zur Wehr setzen muss.