G20-Gipfel kapituliert vor dem Finanzsektor

Anstatt Banken und Spekulanten an die Kandare zu nehmen, buhlen die Mächtigen der Welt um ihre Gunst

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Die Hoffnungen, dass es beim G20-Gipfel im kanadischen Toronto an diesem Wochenende zu wegweisenden Entscheidungen kommen würde, waren von vornherein nur gering. Die Abschlusserklärung ist jedoch sogar im Angesicht der niedrigen Erwartungshaltungen mehr als enttäuschend.

Eine strengere Regulierung für Banken und Hedge-Fonds? Vertagt! Höhere Eigenkapitalanforderungen? Vertagt! Eine Finanzmarkttransaktionssteuer? Wird es nicht geben! Eine global koordinierte Bankenabgabe? Wird es nicht geben! Volkswirtschaftliche Koordinierungsversuche? Auf freiwilliger Basis, ohne Verpflichtung, ohne Kontrolle, ohne Sanktionierung. In Toronto unterzeichneten die Staatschefs der führenden Volkswirtschaften die bedingungslose Kapitulation der Nationalstaaten vor dem Finanzsystem und den Marktkräften.

We agree to disagree

In einem Punkt sind sich Staatschefs, Finanzexperten und natürlich auch die Lobbyisten der Finanzwirtschaft einig - auf nationaler Ebene kann man den Finanzsektor in einer globalisierten Welt nicht mehr zähmen. Kopflose Alleingänge, wie beispielsweise das deutsche Verbot ungedeckter Leerverkäufe von ausgesuchten Papieren, sind bestenfalls bedeutungslos, schlimmstenfalls kontraproduktiv.

Die Finanzzentren der Welt stehen im Wettbewerb und die Big Player sind an allen relevanten Standorten vertreten. Für die Deutsche Bank macht es keinen Unterschied, ob sie CDS auf deutsche Staatsanleihen über Frankfurt oder über London handelt und vertreibt. Um wirkungsvoll regulieren zu können, müssten sich also alle G20-Staaten darauf einigen, regulieren zu wollen. Dies wissen die Lobbyisten in Berlin, Washington und London aber zu verhindern. Selbst wenn sich Deutschland, die USA und Großbritannien in einem Punkt ausnahmsweise mal einig sind, gibt es noch Staaten wie Kanada, Australien oder Brasilien, die ihr Veto einlegen können, da sie ihre nationalen Interessen verletzt sehen.

Was eine Einigung auf den kleinsten gemeinsamen Nenner konkret bedeutet, kann man am Beispiel der Eigenkapitalvorschriften für Banken sehen. Zwar ist man sich einig, die Kapitalanforderungen gemessen am Risikopotential "signifikant" zu erhöhen - die Frage aber, was "signifikant" ist, wurde allerdings vertagt und der Zeitrahmen zur Umsetzung wird auf nationaler Ebene beschlossen. So droht nun ein zäher Anpassungsprozess, in dem die Lobbyisten den Ton angeben. Natürlich wäre es beispielsweise für die Deutsche Bank ein Nachteil, wenn sie strengere Eigenkapitalanforderungen als ihre Konkurrenz in London oder Washington hätte. Im Finanzministerium hatte man schon immer Verständnis, wenn es darum ging, etwaige Standortnachteile für deutsche Banken abzubauen. Man muss also nicht allzu viel Phantasie aufbringen, um zu erahnen, wie "signifikant" Berlin zu Wege gehen wird. Und was für Berlin gilt, gilt analog auch für London und Washington.

Finanzmarkttransaktionssteuer vom Tisch

Angela Merkel verstand es in den letzten Monaten, aus ihrem "Wunsch" nach einer Finanzmarkttransaktionssteuer einen politischen PR-Coup zu machen. Um der Opposition und koalitionsinternen Kritikern den Wind aus den Segeln zu nehmen, setzte sie sich an die Spitze der internationalen Befürworter dieser äußerst wirkungsvollen Abgabe. Dies erstaunt auf den ersten Blick, schließlich ist die Einführung einer Finanzmarkttransaktionssteuer eigentlich eher ein Wunsch, der aus den Kreisen der Globalisierungskritiker stammt - sie ist beispielsweise namensgebend für Attac, der "Vereinigung für eine Besteuerung von Finanztransaktionen zum Nutzen der Bürger".

Nun wird allerdings offenbar, was Kritiker schon seit längerem vermuten: Die Finanzmarkttransaktionssteuer war für Angela Merkel eine Sollbruchstelle. Ihr war klar, dass es im internationalen Rahmen eine "negative Klarheit" - wie die Kanzlerin es im besten Neusprech ausdrückt - über diesen Steuerwunsch gibt. Nachdem sie eher wie ein Kätzchen als wie ein Löwe für ihren Steuerwunsch gekämpft hat, war die Finanzmarkttransaktionssteuer bereits im Vorfeld vom Tisch. Für Merkel ist dies jedoch eine eingeplante "Niederlage" - sie kann nun Zuhause darauf verweisen, dass ihr Wunsch, die Finanzakteure an den Kosten der Krise zu beteiligen, international nicht vermittelbar wäre.

Weltspartag?

Ernsthaftes Interesse hat Angela Merkel allerdings daran, ihr volkswirtschaftliches Idealbild der "Schwäbischen Hausfrau" zur internationalen Norm zu machen. Bereits im Vorfeld des Gipfels kam es im Streit um die deutschen Sparvorhaben zum Showdown mit den Amerikanern. Jenseits des Atlantiks hat man nun einmal andere Vorstellungen, wie man die Wirtschaft ankurbeln und die Staatsfinanzen sanieren kann.

Während die deutsche Regierung die Ausgaben kürzt, versucht die amerikanische Regierung, die Wirtschaft durch "Deficit Spending" zunächst anzukurbeln, um die Staatsdefizite dann aus den höheren Steuereinnahmen reduzieren zu können. Die so geschaffene zusätzliche Nachfrage nützt natürlich auch - und vor allem - den Exportnationen China und Deutschland. Wenn Deutschland spart und die USA die Binnennachfrage mit Schulden ankurbeln, spart sich Deutschland auf Kosten der US-Steuerzahler reich, so die Position der US-Regierung.

Es ist durchaus als Erfolg für Angela Merkel zu werten, dass im Abschlussdokument ein vages Bekenntnis zum Sparen aufgenommen wurde. Die "entwickelten" G20-Staaten wollen ihre Neuverschuldung bis zum Jahr 2013 halbieren und ab 2016 Schulden abbauen. Nur für das chronisch überschuldete Japan machte man eine Ausnahme. Dieser Formelkompromiss ist allerdings nicht nur wachsweich, sondern auch weitestgehend belanglos. Sollte die Weltwirtschaft sich solide entwickeln, dürfte es für kein Land ein Problem geben, 2013 nur die Hälfte der Defizite des Katastrophenjahrs 2009 einzufahren. Sollte die Weltwirtschaft hingegen schwächeln, wird kein Land auch nur einen Pfifferling auf die Absichtserklärung aus Toronto geben. Es sind weder Kontrollen noch Sanktionen vorgesehen - entweder man hält sich an die Absichtserklärung oder man lässt es.

Das "Chermany-Problem"

Eine weitere Absichtserklärung dürfte den Lesern deutscher Zeitungen größtenteils unbekannt sein:

12. Staaten mit Handelsbilanzüberschüssen werden Reformen umsetzen, um ihre Abhängigkeit von der externen Nachfrage zu reduzieren und sich darauf fokussieren, die Binnennachfrage zu stärken (...) Um dies umzusetzen, werden entwickelte Staaten mit Handelsbilanzüberschüssen strukturelle Reformen umsetzen, die darauf ausgerichtet sind, die Binnennachfrage anzukurbeln.

Annex I der Abschlusserklärung

China und Deutschland (Chermany) gelten bei internationalen Beobachtern nicht als Musterschüler, sondern als Problemkinder des Welthandels. Ihre Handelsbilanzüberschüsse sorgen für Defizite in anderen Staaten. Um den Welthandel im Sinne der Gemeinschaft zu harmonisieren, müssen daher auch die Überschussstaaten Reformen umsetzen, um ihre Überschüsse abzubauen und die Binnennachfrage zu stärken. China hat die Forderungen der Weltgemeinschaft noch am gleichen Tag umgesetzt und den Yuan aufgewertet. Allerdings werden noch einige Aufwertungen nötig sein, um die chinesische Binnennachfrage signifikant anzukurbeln und indirekte Exportsubventionen abzubauen. Als Symbol kann die jüngste Aufwertung jedoch durchaus gelten.

Ob Deutschland sich zumindest dazu durchringen kann, die Binnennachfrage auch nur symbolisch zu stärken, ist jedoch mehr als zweifelhaft. Wenn die deutsche Regierung die Abschlusserklärung ernst nehmen würde, müsste sie eine politische 180-Grad-Wende hinlegen. "Glücklicherweise" handelt es sich aber nur um eine weitere Absichtserklärung und es ist absehbar, dass Deutschland diese Erklärung mit einem Schulterzucken ignorieren wird.

Bis zur nächsten Krise

Während alle Staaten immer noch mit den Folgen der Finanzkrise kämpfen, hat sich das kurze Handlungsfenster für echte Reformen bereits wieder geschlossen. Die Mächtigen dieser Welt wollen - oder können - den Finanzsektor nicht mehr bändigen.

Damit sind die Weichen gestellt. Die nächste Krise wird kommen. Dann wird es zwar ein neues Handlungsfenster geben, ob die Staaten dann allerdings überhaupt noch das Geld haben, die Weltwirtschaft ein weiteres Mal vor dem Zusammenbruch zu retten, ist ungewiss. Dies ist wohl der Preis der selbst gewählten Handlungsunfähigkeit.