Kirgisistan: Ein Konflikt mit Ansage?

"Informationsvakuum" und Gerüchte um die Drahtzieher des blutigen Konflikts

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Am vergangenen Sonntag sprachen sich bei einem Referendum über 90 Prozent der Kirgiser für eine Verfassungsänderung aus, die aus dem zentralasiatischen Staat eine parlamentarische Republik machen soll. Überschattet war die Volksabstimmung von dem blutigen Konflikt zwischen Kirgisen und Usbeken, der im Süden des Landes vor einigen Wochen ausbrach und der 2.000 Menschen das Leben kostete und 500 000 zur Flucht zwang. Wer für den Konflikt verantwortlich ist, lässt sich aufgrund der schlechten Informationslage schwer sagen. Aber auch wenn das bisherige Zusammenleben zwischen den beiden Volksgruppen nicht von Hass geprägt war, waren die Beziehungen angespannt genug, um zu einem blutigen Konflikt eskalieren zu können.

Die Rückkehr in ihre Heimatstadt Osch hat sich die kirgisische Übergangspräsidentin Rosa Otunbajewa sicherlich anders vorgestellt. Als sie am vorletzten Freitag von Leibwächtern umringt und in einer schusssicheren Weste vor die Bewohner der Stadt trat, wurde sie alles andere als freundlich begrüßt. Ihrer Wut auf die Zentralregierung in Bischkek ließen die Menschen freien Lauf. Nach Meinung der Bewohner von Osch sah die Regierung eine Woche lang machtlos dabei zu, wie die zweitgrößte Stadt des Landes zu einem Schlachtfeld zwischen Kirgisen und Usbeken wurde (siehe Eruption der Gewalt in Kirgisien).

Der Vorwurf ist nicht ganz unbegründet. Auch wenn Otunbajewa in Kirgisistan die Mobilmachung ausrief und Soldaten nach Osch entsandte, konnte das Blutvergießen im Süden des Landes nicht verhindert werden. Fraglich ist auch, ob Russland, das Otunbajewa wiederholt um Militärhilfe bat oder die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) die Situation unter Kontrolle hätte bringen können. Auf diesen Versuch wollten sich Moskau und seine Partner jedenfalls nicht einlassen.

Wer ist für diese Tragödie verantwortlich?

Doch wie konnte es eigentlich zu dem ethnischen Konflikt kommen, bei dem 2.000 Menschen ums Leben kamen, wie die kirgisische Regierung behauptet, und nach Schätzungen der Vereinten Nationen 500.000 Kirgisen und Usbeken zur Flucht zwang? Und wer ist eigentlich für diese Tragödie verantwortlich? Fragen über Fragen, die man aufgrund der Informationslage, um die es in Zentralasien traditionell nicht zum Besten steht, nur schwer beantworten kann.

Alle bisherigen Nachrichten basieren zu einem Teil aus Gerüchten und Augenzeugenberichten, deren Authentizität sich teilweise schwer überprüfen lässt. "Wir leben in einem Informationsvakuum", beschrieb der kirgisische Journalist Almaz Kelat in einem Augenzeugenbericht für den Radiosender WDR 3 die aktuelle Nachrichtenlage in Kirgisien.

In diesem Augenzeugenbericht schildert Kalet auch, wie der blutige Konflikt begann. Demnach soll eine Massenschlägerei zwischen usbekischen und kirgisischen Jugendlichen in den Abendstunden des 10. Juni zu dem ethnischen Konflikt eskaliert sein. Und dies innerhalb weniger Stunden. Schon am nächsten Tag haben marodierende Gruppen das Stadtbild in Osch bestimmt. Das ist eine Version, die sich mit anderen Augenzeugenberichten deckt.

Doch auch um diese Banden, die Berichten zufolge 70 Prozent der Stadt zerstört haben, gibt es sehr viele Gerüchte. In einem Interview für die polnische Tageszeitung Gazeta Wyborcza, berichtet Almaz Kelat, dass Söldner aus Tadschikistan, Usbekistan, Kirgisistan und sogar Lettland und der Ukraine die Massaker angerichtet haben sollen. Dies erzählen sich die Menschen jedenfalls in Osch.

Gerüchte um die Drahtzieher

Viele Gerüchte und Mutmaßungen gibt es auch bezüglich der mutmaßlichen Drahtzieher des Konflikts. Russische Drogenfahnder beispielsweise vermuten hinter den Ereignissen in Osch und Dschalalabat islamische Extremisten, die den Süden Kirgisistans als wichtigste Route für ihre Drogenexporte nutzen. "Es handelt sich um ein seriöses Extremismuszentrum, das über immense Finanzressourcen und wichtige Beziehungen verfügt und sich sogar politische Ziele wie politische Umstürze setzt", sagte der Leiter der russische Drogenbehörde, Viktor Iwanow, am 21. Juni. Passend dazu forderte die Behörde am selben Tag die Errichtung einer zweiten russischen Militärbasis in dem zentralkaukasischen Land.

Die Übergangspräsidentin Rosa Otunbajewa macht wiederum andere Kreise für die blutigen Unruhen verantwortlich. Egal, ob in Interviews für russische oder westliche Medien, überall nennt sie den im April gestürzten und nach Minsk geflüchteten Ex-Präsidenten Kurmanbek Bakijew als Drahtzieher der Unruhen. "Die Angreifer waren also keine Staatsdiener, sondern Söldner – angeheuert von Leuten meines Vorgängers Bakijew", sagte Otunbajewa beispielsweise Deutschlands größtem Nachrichtenmagazin.

Der Vorwurf wird von Bakijew natürlich bestritten. "Für all das, was heute in der Republik vor sich geht, ist allein die provisorische Regierung verantwortlich", erklärte Bakijew, der 2005 durch die vom Westen finanziell unterstützte Tulpenrevolution an die Macht kam.

Als Begründung dafür nennt er die blutigen Unruhen während seines Sturzes, der nicht mit Plakaten, sondern mit Waffen erzwungen wurde. "Mehr als 80 Menschen kamen damals ums Leben, und alles wurde mir in die Schuhe geschoben, deshalb trauten sich meine Anhänger nicht mehr auf die Straße. Warum aber kam die Opposition mit Waffen in der Hand zum Weißen Haus, meinem Regierungssitz?", so Bakijew, der in dem gleichen Interwiew Otunbajewa als eine "Geisel" der im Hintergrund agierenden Oppositionsführer bezeichnete.

Mutmaßungen westlicher Journalisten

Doch nicht nur islamische Extremisten und der Ex-Präsident Kurmanbek Bakijew werden für die jüngsten ethnischen Konflikte verantwortlich gemacht. Immer wieder wird in den hiesigen Medien gemutmaßt, dass auch die zentralasiatischen Staaten, die alle von Diktatoren regiert werden, für die Unruhen in Kirgisistan verantwortlich sein könnten. Mehrmals wurden in der deutschen Presse die zentralasiatischen Republiken auch mit dem Kaukasus verglichen, wo es heute aufgrund der willfährigen Grenzziehungen der Sowjets zu blutigen ethnischen Konflikten kommt.

Diese zwei Theorien sind jedoch wohl nur Mutmaßungen westlicher Journalisten, deren Kenntnis über Zentralasien sehr gering ist. "Die Machthaber der Nachbarstaaten haben sehr großes Interesse daran, dass die Lage in Kirgisistan stabil bleibt", so der Zentralasienexperte der Stiftung Wissenschaft und Politik Tommaso Trevisani gegenüber Telepolis.

Auch die Grenzziehungen der Sowjets waren nicht willkürlich, sondern hatten wirtschaftliche Gründe. Außerdem gab es damals andere ethnische Differenzierungen, was dazu geführt hat, dass die von den Sowjets durchgeführten Grenzziehungen erst Ethnien im eigentlichen Sinne geschaffen haben. Deshalb gab es nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in der Region auch keine militärischen Grenzkonflikte, so wie es sie im Kaukasus gab.

Tommaso Trevisani

Gegenseitige Klischees und ein schwelender Konflikt zwischen den Volksgruppen

Konfliktlos war das Zusammenleben der Usbeken und Kirgisen in den letzten Jahrzehnten dennoch nicht. Bereits im Juni 1990, nicht mal zwei Jahre vor der Auflösung der Sowjetunion, kam es in Südkirgisistan zu einem blutigen Konflikt zwischen Usbeken und Kirgisen. Auslöser dafür waren Land- und Wasserkonflikte in einer Kolchose. Die Lage konnte damals aber sehr schnell von der Sowjetarmee unter Kontrolle gebracht werden.

Und es war ein Frieden, der bis zum 10. Juni dieses Jahres hielt, auch wenn das Zusammenleben zwischen den beiden Volksgruppen in den letzten 20 Jahren nicht unbedingt harmonisch war. "Es sind zwar zwei Volksgruppen mit unterschiedlichen Kulturen, aber man kann nicht von einem schwelenden Konflikt sprechen", erklärt Tommaso Trevisani. Doch wie der Zentralasienexperte betont, sind die gegenseitigen Klischees ausreichend genug ausgeprägt, um von Dritten für einen blutigen Konflikt ausgenutzt werden zu können.

Ich halte es jedenfalls für möglich, dass der jüngste Konflikt aufgrund politischer Konstellationen und Interessen von irgendwelchen Handlangern angezettelt worden sein könnte.

Tommaso Trevisani

Dies wiederum würde die Behauptungen von Übergangspräsidentin Rosa Otunbajewa stärken, die ihren gestürzten Vorgänger Bakirew für den blutigen Konflikt verantwortlich macht. Doch wegen der Informationslage lässt sich schwer beurteilen, ob Kurmanbek Bakijew aus seinem weißrussischen Asyl aus noch genügend Einfluss auf die Ereignisse in Kirgisistan nehmen kann und will. Er selber, der durch Korruption und Vetternwirtschaft ein ordentliches Vermögen ins Ausland geschafft haben soll, scheint jedenfalls seine Zukunft mehr in der Wirtschaft als in der Politik zu sehen, wie Bakirew selbst in dem schon erwähnten Interview behauptet.

Eskalation einer Konfrontation?

Bei dem bisherigen Verhältnis zwischen Kirgisen und Usbeken und den aktuellen Informationen aus Zentralasien ist es aber auch nicht ausgeschlossen, dass vielleicht tatsächlich nur eine Konfrontation zwischen usbekischen und kirgisischen Jugendlichen zu dem schrecklichen ethnischen Konflikt eskaliert ist, dem angeblich 2.000 Menschen zum Opfer gefallen sind.

Doch egal wer nun tatsächlich der Urheber ist oder wer sie sind. Das schon so gespannte Zusammenleben zwischen Kirgisen und Usbeken ist durch den jüngsten blutigen Konflikt vielleicht nicht nur für Jahre, sondern für Jahrzehnte vergiftet. Das Misstrauen zwischen den beiden Gruppen ist jedenfalls größer geworden. Kirgisistan und seinen Bewohnern, die sich am Sonntag bei einem Referendum für eine parlamentarische Verfassung ausgesprochen haben, wäre es zu wünschen, dass dies zukünftig nicht wieder zum Blutvergießen führt.