"Es geht nicht um eine religiöse oder kulturelle Differenz"

Kommen Burka-Verbote in den EU-Ländern, entspreche das einem "postliberalen Rassismus", der migrantische Staatsbürgerrechte antastbar mache. Ein Gespräch mit dem Soziologen Vassillis Tsianos

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Nachdem Belgien das Tragen der muslimischen Burka in der Öffentlichkeit per Parlamentsbeschluss verboten hat, zog Frankreich nach. Am vergangenen Dienstag wurde der Gesetzesentwurf gegen die Vollverschleierung vom Parlament, der Assemblée Nationale, verabschiedet – mit einer Gegenstimme, die Opposition übte größtenteils Stimmenthaltung (siehe Ein Fall für den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte?).

Vorausgesetzt, der Gesetzentwurf passiert auch den Senat im September und vor allem die sehr viel größere Hürde, den Verfassungsrat, der nach Vorstellungen des Fraktionschefs der Regierungspartei, Jean-François Copé, danach angerufen werden soll, dann müssen Frauen, die künftig gesichtsverschleiert in der französischen Öffentlichkeit auf vorschriftsmäßig handelnde Polizisten treffen, mit einer Geldbuße von etwa 150 Euro rechnen. Doch auch der Ehemann kann – wenn ihm Entsprechendes nachgewiesen wird – bestraft werden: Wer eine Frau zur Gesichtsverhüllung zwingt, sei es durch "Gewalt, Drohung, Macht- oder Autoritätsmissbrauch", wird mit 15.000 Euro oder bis zu einem Jahr Haft bestraft (siehe "Hinter tausend Stäben keine Welt"). Schon im Januar äußerte Parlamentspräsident Bernard Accoyer:

Der Ganzkörperschleier widerspricht den Werten der französischen Republik. Er ist ein Zeichen für die Unterwerfung der Frau und für radikalen Fundamentalismus.

Hatte Präsident Nicolas Sarkozy im Vorjahr die Burka für unerwünscht erklärt, so wurde diese erst im März 2010, kurz vor der Regionalparlamentswahl, zum ausgewiesenen Lieblingsthema seiner Partei UMP: Premierminister Francois Fillon (UMP) erklärte dieses muslimische Kleidungsstück zum gesellschaftlichen Problem und verlangte das Totalverbot. Dies im Schnelldurchgang ins Parlament einzubringen, sollte Sache der Konservativen sein. Seitdem mehrten sich Stellungnahmen verschiedener Regierungsbeauftragter: Das Tragen der Burka sei "eine Bedrohung für unsere Gesellschaft", sagte UMP-Fraktionschef Jean-François Copé, und die für die Einwandererviertel zuständige Staatssekretärin Fadela Amara forderte ein Totalverbot der "Särge der Freiheit", wie sie die Burkas nannte.

“Beschimpft, gekniffen, angespuckt“

Auffällig ist dabei, dass sich Sarkozy plötzlich als Feminist geben konnte, nachdem sich eine Wahlschlappe in der Anlaufphase zu den Regionalwahlen abzeichnete, und das kurz nachdem der rechtsextreme Jean-Marie le Pen für den Front National mit Plakaten geworben hatte, die vollverschleierte Frauen neben Minaretten abbildeten und die den Plakaten der schweizerischen rechten Volkspartei SVP markant ähnelten.

Bei den neuen Wertedebatten in EU-Regierungen zum Thema kamen Burka tragende Frauen, ob mit oder ohne europäischen Pass, zu dem zweifelhaften Vergnügen, nur als Objekte der Erörterungen behandelt zu werden. Wo sie sich den Medien gegenüber äußern konnten, dementierten Vollverschleierte ihre vermeintliche Befreiung - in einem Bericht des Schweizer "Tagesanzeigers" äußerten Burkaträgerinnen, dass das Verbot sie in die Isolation zwingen werde.

Die nichtmuslimische Künstlerin Bérengère Lefranc lief laut einem Bericht der ZEIT in Paris einen Monat lang in einem Ganzkörpergewand herum. Doch sie hatte "ausgerechnet jene vier Wochen gewählt, in denen der Streit um die Ganzkörpertracht losbrach. Auf einmal schien alles erlaubt zu sein, berichtet Lefranc. Sie wurde beschimpft, gekniffen, angespuckt: Das sind ihre Erfahrungen mit einem Verbotsvorhaben, das angeblich die Frauen beschützen soll."

Verfassungsrechtlich umstritten

Die Befürworter eines Verbotes in der französischen Regierung argumentieren zugleich auf mehreren Ebenen: sicherheitspolitisch und universalfeministisch. Verfassungsrechtlich stehen ihnen jedoch die Bedenken des Staatsrats entgegen. Denn die oberste Verwaltungsinstanz erklärte in einem Gutachten vom März, dass es keine unbestreitbare rechtliche Grundlage zu einem Totalverbot der Burkas gebe (siehe dazu "Würde der Frau" möglicherweise mit Burkatragen vereinbar und Generelles Burka-Verbot ohne festes juristisches Fundament). Hierzulande befand der wissenschaftliche Dienst des Bundestags ein Burka-Verbot für verfassungswidrig.

Differenz der Kulturen?

Forscher aus dem Bereich der Gendertheorie und Critical-Racial-Studies sehen politische Integrationsdiskurse über muslimische Kleidungs- und Lebensgewohnheiten sehr kritisch, weil somit "von unüberbrückbaren Identitäten und Kulturen ausgegangen werde", wie es z. B. Johanna Künne formulierte.

Eine vermeintliche Differenz der Kulturen gebe es nicht, ist die These des Soziologen Vassilis Tsianos am Institut für Soziologie in Hamburg, früher Mitglied des antirassistischen Netzwerks "Kanak Attak". In dem belgischen Burka-Verbot sieht er eine Facette von „postliberalem Rassismus“, der Staatsbürgerrechte von Einwanderern neu verhandelt bzw. reversibel macht. Telepolis sprach mit ihm.

Ein neuer “anti-muslimischer Rassismus“ und die „kriminalisierende Differenz des terroristischen Generalverdachts“

Zu dem belgischen Burka-Verbot merkten Sie kürzlich an, dass es sich um „anti-muslimischen Rassismus“ handle, der nicht mit kulturellen Erörterungen beantwortet werden sollte. Wie ist das zu verstehen?

Vassilis Tsianos: Es gibt einen neuartigen Rassismus, der sich jetzt ganz deutlich gegen Muslime richtet, den wir als "anti-muslimischen Rassismus" bezeichnen sollten. Doch möchte ich zugleich davon abraten, von einem „anti-islamischen Rassismus“ zu sprechen. Denn nach meiner Einschätzung richtet sich dieser Rassismus nicht einfach gegen Muslime als Vertreter einer Religionszugehörigkeit, sondern gegen eine bestimmte Minderheit mit einem bestimmten Migrationshintergrund.

Ich gehe bei meinem analytischen Arbeiten über die neuen Formen des Rassismus von Erfahrungen aus, von verkörperten Erfahrungen der Stigmatisierten selbst. Ich will Personen beschreiben, mit oder ohne Niqab, die bestimmte Erfahrungen als postnationale migrantische Subjekte machen und gemacht haben, und zwar vor dem scheinbar harmlosen Hintergrund eines neolaizistischen Europas.

Es gibt neue Formen von Rassismus, modernisierte Formen, die nicht nur an der kulturellen Differenz zu fokussieren sind, auch wenn das immer noch so dargestellt wird. Es ist nicht eine religiöse Differenz, die bei der politischen Thematisierung von Burka, Niqab oder Kopftuch aufgetan wird, sondern eine kriminalisierende Differenz des terroristischen Generalverdachts, die an dem Zeichen einer migrantischen oder postnationalen Gruppe festgemacht wird und auf diese Weise ihre sonst unangreifbaren Niederlassungsrechte in Europa in Frage stellt bzw. die Reversibilität der neuen deutschen Staatsangehörigkeiten von MigrantInnen favorisiert. Das ist, was ich postliberalen Rassismus bezeichne. Ein prominentes Beispiel ist Murat Kurnaz.

Das Rätsel des Bartes von Murat Kurnaz

Was interessiert Sie am Fall Kurnaz, den Sie ja auch in Ihrem Buch1 erwähnen?

Vassilis Tsianos: Murat Kurnaz ist ein bekanntes Gesicht in Deutschland, sicherlich auch wegen seines voluminösen Vollbarts. Kurnaz ist ein klassisches postnationales Subjekt, dessen Niederlassungsrechte in Deutschland angetastet wurden. Wie wir wissen, hat er eine merkwürdige Reise gemacht - machen müssen. Das Rätsel seines Bartes nach seiner unerwarteten Entlassung aus dem Guantamo-Camp interessierte die deutsche Öffentlichkeit offensichtlich mehr als die dubiosen Modalitäten seiner Entführung von US-Streitkräften und die noch dubioseren Manöver gegen seine Entlassung seitens des deutschen Außenministeriums.

Kurnaz war gebürtiger Bremer mit türkischem Pass. Man hat aus ihm aufgrund rassistischer Zuschreibungen mit dem bloßen Verdacht des Dschihadismus ein Subjekt des radikalen Ausschlusses gemacht. Deutsche Behörden wussten spätestens Anfang Januar 2002 von der Inhaftierung Kurnaz' durch die USA. Obwohl die deutschen Guantanamo-Vernehmer festgestellt hatten, dass er keinerlei Kontakte zum terroristischen Milieu hatte und von Kurnaz' Unschuld überzeugt waren, verweigerten ihm das BKA und das Bundeskanzleramt die von der USA im Herbst 2002 in Aussicht gestellte Freilassung nach Deutschland.

Das ist es, was mich interessiert: Dass die Instanz, die für die Wahrung seiner Rechte zuständig gewesen wäre, die deutsche Regierung und das deutsche Außenministerium, diese Zuständigkeit ganz einfach zurückwiesen mit der vagen Begründung des Sicherheitsrisikos und mit der Begründung seines türkischen Passes. "Ich sehe dabei das Ergebnis eines antimuslimischen Rassismus, der darin besteht, die aus der Einwanderungsgeschichte resultierenden Niederlassungsrechte postnationaler Subjekte einzuschränken, indem man sie mit dem generellen Terrorismusverdachtes in Verbindung bringt. Murat Kurnaz ist inzwischen rehabilitiert, seinen verdächtigen Bart hat er noch eine Weile behalten. Kurnaz machte mit der Materialität des rassistischen Verdachtes etwas, er verkörperte ihn.

Ich will mit seinem Beispiel deutlich machen: Ausgrenzung kann heute auch anders funktionieren als bei dem Rassismus gegen Migranten etwa in den 1980er Jahren: Es sind heute neue Grenzziehungen innerhalb der Einwanderungsgesellschaft zu beobachten.

Neue Formen des Rassismus

Wo verlaufen diese Grenzziehungen?

Vassilis Tsianos: Zwar bleibt das gesellschaftliche Phänomen von Rassismus auch mit seinen traditionellen Formen, der biologistischen, kolonialistischen und kulturalisierten bestehen. Diese spielen immer noch eine größere Rolle und es ist weiterhin notwendig, sie auch in die Analyse und die Formen antirassistischen Widerstands einzubeziehen. Aber zugleich etablieren sich auch neue Formen von Rassismus, die mit der postliberalen Situation aufgetreten sind und die mit Staatsangehörigkeiten zu tun haben. Diese Staatsangehörigkeiten wurden in der vorübergehenden liberalen Gesellschaftsordnung von Einwanderern errungen.

Was wir gegenwärtig erleben, ist die staatlich institutionalisierte Möglichkeit, Niederlassungsrechte reversibel zu machen mittels eines antimuslimischen Rassismus. Ich sehe eine neue Formation von Staatlichkeit bei dieser Art von Rassismus – wohlgemerkt, Rassismus wird hier nicht als eine Ideologie der kulturellen Unvereinbarkeit von Sub- und Leitkultur verstanden, sondern als ein Machtverhältnis zwischen postnationalen Minoritäten und nationaler Mehrheit innerhalb der Grenzen unserer liberalen Demokratie. Diese Grenzen der liberalen Demokratie nenne ich postliberal.

Und in diesem Verhältnis hat die Integrationsdebatte, die heute institutionell verankert ist, großes Gewicht. Der Integrations-Topos war nicht immer der leitkulturelle Anpassungsimperativ an Minderheiten, als der er sich uns heute darstellt. In den 1970er und 1980er Jahren bedeutete er mal ein Versprechen auf Gleichstellung von Migranten in der Gesellschaft. Heute ist der Diskurs über "Integration" nicht nur eine harmlose Debatte über die Modalitäten der Partizipation, sondern er stellt einen buchstäblich para-staatlichen Apparat, mit dem Legitimität und Recht auf Staatsbürgerschaften angetastet werden können.

Die postmigrantischen Subjekte verbleiben somit auf dem prekären gesellschaftlichen Feld zwischen Assimilation und restriktiver Rückwanderungspolitik. Ausgrenzende und reglementierende Praktiken mit Bezug auf Staatsangehörigkeiten werden dann auch mit egalitären Ideologemen betrieben, bei denen man sich auf bestimmte eigentlich liberale Werte bezieht und bei denen merkwürdige, unerwartete Allianzen mit fatalen Effekten plötzlich möglich sind. Postliberaler Rassismus operiert wesentlich fluider als die Form des traditionellen Rassismus, der sich auf solch naturalisierenden Kategorien wie "Rasse" berief und über die offene und strukturelle Gewalt der Segregation und der Exklusion operierte.

Der neue Diskurs verläuft nun weniger über biologistische und kulturalistische Markierungen von Überlegenheit und Inferiorität, sondern auch mittels der Rekombination egalitärer Ideologeme der "feministischen Disziplinierungen des migrantischen Subjekts"2, Queer- und Homo-Nationalismus 3, laizistischer Antireligiosität (gemäß der Feststellung von Etienne Balibar) und mittels "urbaner Paniken"4.

Die Burka ein äußerliches Zeichen von Andersheit

Somit wäre z. B. die Burka ein äußerliches Zeichen von Andersheit, das im gesellschaftlichen Bild stört, wie in Belgien?

Vassilis Tsianos: Burka-Trägerinnen, übrigens eine absolute Minderheit, wurden in Belgien nicht mit ihrem Anspruch auf Selbstbestimmung akzeptiert, sondern als die ambulante Verkörperung eines Verdachts wahrgenommen. Die Bekämpfung von Rassismus definiert sich für mich im Augenblick über diese Situation des antimuslimischen Rassismus. Es muss nicht paradox sein, die Emanzipationsfrage von Minderheiten in Europa an der emphatischen Verteidigung der Selbstbestimmungsrechte der Burka-Trägerinnen zu stellen.

Hierzulande haben wir mit einem geduldeten Skandal zu tun, den wir auch als solchen benennen sollten, nämlich mit einem institutionalisierten antimuslimischen Rassismus. Die Verweigerung von bestimmten Berufsausübungen – nicht nur im Staatsdienst, auch in der Privatwirtschaft – für migrantische Frauen, die den Hijab, das Kopftuch tragen, ist paradigmatisch. Ich möchte hier auf die hervorragende Arbeit des Juristen Cengiz Barskanmaz hinweisen, der zur Rechtskonstruktion Kopftuch und Rassismus arbeitet.

Wir kennen das Beispiel von Fereshta Ludin, der Lehrerin afghanischer Herkunft in Baden-Württemberg. Sie wurde wegen ihres Beharrens auf dem Hijab nicht verbeamtet. Was jedoch für eine deutsche Muslima nicht galt: Die Konvertitin bzw. die "gebürtige Deutsche", so der Wortlaut des Lüneburger Oberverwaltungsgerichts vom 16.10.20005 erhielt die Erlaubnis, den Hijab auf Probe beim Unterrichten zu tragen. In ihrem Fall sei, so das Gericht, die fundamentalistische Bedeutung des Kopftuchs ohnehin auszuschließen, da eine fundamentalistische Grundeinstellung "bei der Klägerin als Deutscher mit evangelisch-lutherischer Erziehung fern liegen dürfte"6. Es sind eben postmigrantische oder migrantische Personen, die unter Druck gesetzt werden - und das im Zusammenhang mit der Kriminalisierung ihrer transnationalen Sozialisation, ihrer multiplen Loyalitäten.

Wir haben in Deutschland heute einen Anteil von mindestens 30 Prozent Staatsangehörigen mit migrantischem Hintergrund (wobei also noch gar nicht die Rede ist von einer halben Million und mehr Papierlosen, Illegalisierten). Und ich finde, das ist unsere beste Ausgangsmöglichkeit für aktiven Antirassismus! Aber es hat sich zugleich ein neues Verhältnis von Inferiorität unter einer Staatsapparatur etabliert, die es möglich macht, bestimmte Niederlassungsrechte für diese Personen anzutasten und reversibel zu machen.

Staatliches Erziehungsprojekt „Integration“

Die Islamwissenschaftlerin Mariam Popal analysiert in ihrem Essay "Kopftücher Hip Hop" das "koloniale Wohlwollen" am Beispiel der Kopftuchdebatte: Der koloniale Blick trachte "nach Ent-deckung, Ent-hüllung, Kontrolle und Umerziehung der als minderwertig, aber faszinierend begriffenen Anderen"7.

Vassilis Tsianos: Sicherlich, die koloniale Komponente spielt dabei auch eine wichtige Rolle. Außerdem kommt auch eine Art von staatlichem Erziehungsprojekt zum Tragen, als das "Integration" heute buchstäblich verordnet wird. Zugleich sehe ich auch eine Art negativer "cultural intimacy" in der Regulation von Intimität und Staatlichkeit. Zeichen der Differenz werden an unmittelbar körperlichen Merkmalen oder Kleidungsstücken festgemacht, die aber nicht mehr als eine kulturalistische Abweichung von der deutschen leitkulturellen Norm markiert werden, sondern als der sichtbare Beweis für eine Schläferbereitschaft innerhalb der angenommenen deutschen Staatsangehörigkeit. Das ist das spezifisch Neue an diesem Rassismus, den ich als postliberal bezeichne.

Verkörperte Erfahrungen

In Ihrem Buch sprechen Sie von "verkörperten Erfahrungen" von Migranten im Alltagsleben unter einer "Norm, die soziale Hierarchien und Herrschaftsverhältnisse strukturiert". Sie beziehen sich dabei konkret auf Beispiele zweier Migrantinnen, die mit deutschen Behörden bzw. mit Ausbeutung am Arbeitsplatz konfrontiert sind. Ist deren Situation mit der von migrantischen Muslimas in der Burka-Debatte vergleichbar?

Vassilis Tsianos: Muslimas mit oder ohne Burka gehen – jenseits okzidentalischer Enthüllungslüsternheiten – arbeiten, haben eine Migrationsbiographie und durchleben Situationen, in denen sie keine resignierten Opfer sind. Es sind Situationen, bei denen die unmittelbare Erfahrung von Hierarchisierung unter Bedingungen normativer Disziplinierung bis hin zur Bedrohung von Gewalt vollzogen und ein selbstbewusster, nicht-normativer Umgang damit gesucht wird. Insofern ist diese Situation vergleichbar, und sollte auch so in Betracht gezogen werden, da es darum geht, Wege und praktizierte Optionen des Widerstandes, dissidente Praktiken zu finden.

Das ist z. B. bei der Interviewpartnerin Zora in meinem Buch der Fall. Sie war als 19-jährige mit einem Touristenvisum aus Ex-Jugoslawien nach Deutschland gereist und blieb als Illegalisierte, erlebte den prekären und rechtlosen Status als papierlose Arbeiterin mit Putzjobs und in der Gastronomie. Zora berichtet, dass sie zu einem bestimmten Zeitpunkt eine Arbeitssituation einfach aufkündigte, als ihr Chef fest mit ihrer Arbeit rechnete und noch auf das Ausbeutungsverhältnis anspielte: "Du Arme, hast du wieder kein Trinkgeld gekriegt…". Sie ging daraufhin vom Arbeitsort einfach weg: "Da hab ich dann gesagt, mach dein Zeug alleine".

Es sind Verhandlungen und Umarbeitungen, in denen die Produktion von Subjektivität als fortlaufende, produktive Subjektivierung stattfindet. Der individuelle Körper wird so zum unablässig neu adressierten Verhandlungsort und zum Mittel, um eine Positionierung auf dem Feld der Arbeit zu produzieren. Dies lässt sich auch als verkörperte Erfahrung eines neuen biopolitischen kapitalistischen Regimes – eines „embodied capitalism“8 beschreiben, der die individuellen Körper zum Austragungsort von Ausbeutungsregimen und Konflikten werden lässt.

Es geht darum, die Handlungsfähigkeit von postmigrantischen Subjekten, ihren beharrlichen und listigen Umgang mit neuen rassistischen Zumutungen zu erkennen, um den Anspruch auf ein postnationales Leben im Einwanderungsland Deutschland zu wahren. Und die besten Möglichkeiten für Widerstand sehe ich bei den Formen migrantischer Partizipation im städtischen Raum. Städte sind, um es mit einem gelungenen Begriff des Psychologen und Journalisten Mark Terkessidis9 zu sagen, gelebte, angeeignete (manchmal auch erlittene) Orte der "Interkultur", einer real existierenden urbanen Integration. In diesem Zusammenhang arbeite ich seit mehreren Jahren über das Thema der "urbanen Paniken" in der Stadt Hamburg, über das umkämpfte Feld der Stadt als Ort von sozialer Durchmischung, einem Ort, an dem Normierungsdiskurse über Parallelgesellschaften panisch geführt werden, und an dem die Wette von Exklusion oder Partizipation täglich entschieden wird.

Vassillis Tsianos arbeitet an den Themen Transitmigration, Prekarität und Biopolitik. Gemeinsam mit Serhat Karakayali, Thomas Atzert und Marianne Pieper ist er Herausgeber von "Biopolitik in der Debatte", das im Verlag für Sozialwissenschaft erscheint. Zusammen mit Efthimia Panagiotidis und Marianne Pieper präsentiert er in einem Beitrag über "Postliberalen Rassismus" Ergebnisse einer Studie.