Energieversorger klammern sich an die Kernkraft

RWE sieht den Ausbau erneuerbarer Energien durch Atomausstieg gefährdet

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Eine Anhörung im Umweltausschuss des Bundestages zu einem Antrag der Grünen zur Beschleunigung des Atomausstieges zeigte deutlich, dass die erneuerbaren Energien für die großen Energieversorger ein Vorwand sind, um nicht aus der Kernkraft, deren Ende eigentlich schon beschlossene Sache war, auszusteigen. Bis zum Jahr 2022 sollte der noch von der rot-grünen Bundesregierung beschlossene Atomausstieg beendet sein, doch nach dem Regierungswechsel 2009 konnte Angela Merkel den von ihr schon zu Zeiten der Großen Koalition gewünschten Ausstieg aus dem Ausstieg vorantreiben - angeblich zum Wohle des Klimas. Dabei stehen die unflexiblen Kernkraftwerke den erneuerbaren Energien im Weg.

RWE-Vorstand Rolf Martin Schmitz. Bild: S. Duwe

"Das Abschalten der Kernkraftwerke begrenzt den Ausbau erneuerbarer Energien", beginnt RWE-Vorstand Rolf Martin Schmitz seine Ausführungen. Die erforderlichen Mittel, um die Energiewirtschaft umzubauen, stammten aus den Kernkraftwerken, so Schmitz. Mit jedem abgeschalteten Atomkraftwerk werde deshalb die Investitionskraft geschwächt und der Strom verteuert. Was den RWE-Mann aber "am meisten ärgert", das ist die Forderung der Grünen nach der Reduzierung des Strombedarfs. Moderne Energieeinspartechnologien brauchten immer mehr Strom als Energie zum Energiesparen, erklärte Schmitz.

In seinem Plädoyer für die Kernkraft erhält Schmitz Rückendeckung von Alfred Voß, der als Konsequenzen aus dem Atomausstieg ebenfalls "deutlich" höhere Stromkosten und einen Anstieg des CO2-Ausstoßes sieht. Seiner Ansicht nach würden nicht nur die Betreiber, sondern auch den Verbrauchern und die Gesamtwirtschaft von Laufzeitverlängerungen profitieren. Je nach Ausgestaltung, so Voß, würden die Verbraucher durch sie um 50 bis 140 Milliarden Euro entlastet, die Stromerzeuger könnten mit zusätzlichen Gewinnen nach Steuern von 40 bis 160 Milliarden Euro rechnen. Durch die dadurch entstehenden Nachfrage- und Wettbewerbseffekte könne eine Laufzeitverlängerung von 60 Jahren sogar zu einem um 290 Milliarden Euro höheren Bruttoinlandsprodukt führen. Realistisch bewerten lassen sich derartige Zahlen, noch dazu über einen Zeitraum von Jahrzehnten, jedoch nicht. Als wirklich gesichert kann aber gelten, dass eine Laufzeitverlängerung für die Bilanzen der Kraftwerksbetreiber einen positiven Effekt hätte.

Alfred Voß, Direktor des Institut für Energiewirtschaft und Rationelle Energieanwendung an der Universität Stuttgart. Bild: S. Duwe

Stephan Weil (SPD), der Präsident des Verbands Kommunaler Unternehmen (VKU) und Oberbürgermeister von Hannover, konnte dem aus Sicht der großen Stromerzeuger nur zustimmen, abgeschriebene Atomkraftwerke seien "konkurrenzlos wirtschaftlich". Allerdings würden gerade kleinere und mittlere Erzeuger in der Laufzeitverlängerung eine Schwächung des Wettbewerbs und eine deutliche Entschleunigung der Energiewende sehen.

Im Gegensatz zu den derzeit dominierenden Großkraftwerken werde die Zukunft durch viele kleine dezentrale Erzeuger gekennzeichnet sein, das Stromnetz, welches bisher mit einer Einbahnstraße vergleichbar sei, würde zum Gegenstromverkehr ausgebaut. Da die kleinen Versorger bisher auf einen langsamen Atomausstieg gesetzt haben, seien sie von wachsenden Absatzmöglichkeiten ausgegangen. Das hat sich auch in deren Planung niedergeschlagen. Schon allein die Diskussion des Ausstiegs aus dem Ausstieg hat bei den Stadtwerken und anderen kleinen Stromproduzenten für Verunsicherung gesorgt.

Justus Haucap, der Direktor der Instituts für Wettbewerbsökonomie an der Universität Düsseldorf und zugleich Leiter der Monopolkommission ist, die die Bundesregierung berät, äußerte Verständnis für beide Seiten. Die Verlängerung der Laufzeiten führt seiner Meinung nach zu einer Zementierung der Marktstrukturen und würde bereits begonnene Investitionen entwerten. Zugleich erklärte Haucap, dass die Laufzeitverlängerung auch zu einer Senkung der CO2-Emmissionen führen würde, ohne dass die Strompreise drastisch steigen würden – von sinkenden Preisen war bei ihm keine Rede. Zudem wies Haucap auf die gesellschaftlichen Kosten der Kernkraft hin, die im Strompreis nicht enthalten sind. Diese gebe es jedoch bei allen Energiearten.

Diese externen Kosten der Kernenergie seien jedoch deutlich niedriger als für Kohle, Gas, Photovoltaik und Windenergie, versuchte Voß die bisher nicht abschätzbaren Kosten unter anderem für die Endlagerung des Atommülls zu relativieren. Auf den Zwischenruf aus der Opposition, wer denn die Kosten für die Asse zahle, erwiderte Voß, man müsse von den eigenen Vorurteilen zurücktreten und "einigermaßen rational" einschätzen, was Ökonomen heute als externe Kosten ansehen würden – was Kosten der Kernkraft akzeptiert wird, entscheidet letztlich auch immer der Blickwinkel.

Justus Haucap, Direktor der Instituts für Wettbewerbsökonomie an der Universität Düsseldorf. Bild: S. Duwe

"Wir verlassen die Grundlastwelt"

Nach Ansicht des Volkswirtes Uwe Leprich ist die Zeit herkömmlicher Grundlastkraftwerke vorbei. Mit dem Ausbau der fluktuierenden erneuerbaren Energien würde der Bedarf an diesem Kraftwerkstyp, der sozusagen den Sockelbedarf deckt, sinken. Der bestehende Kraftwerkspark müsse sich ändern und flexibel werden, doch gerade die Kernkraftwerke könnten das nicht. "Ich kenne keine seriösen Studien zur Flexibilität der Kernkraftwerke, schon gar nicht zum langfristigen Verschleiß von möglichen Sicherheitsgefährdungen durch eine flexible Fahrweise", so Leprich.

RWE-Vorstand Schmitz widersprach umgehend. In der Vergangenheit sei es lediglich nicht notwendig gewesen, Kernkraftwerke herunterzufahren. Wenn der Strom aus regenerativen Quellen erzeugt werden soll, dann benötige man Schattenkraftwerke, die im Bedarfsfall einspringen können und möglichst schon abgeschrieben sein sollten, so Schmitz. Voß nannte den Systemkonflikt zwischen erneuerbaren Energien und der Kernkraft gar einen Mythos. In Frankreich würden die Kernkraftwerke seit Jahrzehnten im Lastfolgebetrieb gefahren, Sicherheitsprobleme dort seien ihm aber nicht bekannt. Allerdings würden bei der Einspeisung von erneuerbaren Energien zuletzt die Kernkraftwerke heruntergefahren, dies sei ein Gebot der Ökonomie. In Frankreich dürfte sich dieses Problem jedoch gegenwärtig gar nicht stellen, schließlich setzen unsere Nachbarn im Westen recht einseitig auf Atomstrom.

Rainer Baake, Bundesgeschäftsführer der Deutschen Umwelthilfe. Bild: S. Duwe

Doch auch Rainer Baake, der als Staatssekretär unter Trittin den Atomausstieg mitverhandelte und heute Bundesgeschäftsführer der Deutschen Umwelthilfe ist, sprach sich entschieden gegen das bisherige Prinzip der Grundlastkraftwerke und die Laufzeitverlängerung aus. Im alten Stromsystem sei Grundlast das gewesen, was aus Grundlastkraftwerken kommt, heute müsse man das vom Verbraucher denken, denn die Erneuerbaren Energien seien aufgrund der Einspeiseverpflichtung für erneuerbare Energien zur Grundlast per Gesetz geworden.

Zu den Zeiten, zu denen ein Überangebot auf dem Strommarkt zu negativen Strompreisen führt, komme der Strom im Netz bereits jetzt zu bis zu drei Vierteln aus erneuerbaren Energien, so etwas könne in Frankreich gar nicht passieren. Spätestens in der nächsten Legislaturperiode werde es mit Sicherheit zum ersten Mal dazu kommen, dass es eine Spitze mit 100 Prozent Versorgung aus erneuerbaren Energien geben werde. Wenn am Vorrang der regenerativen Energien festgehalten werden solle, bedeute dies, dass alle anderen Kraftwerke heruntergefahren werden müssten.

Baake erinnerte zudem an die Sicherheitsgefährdung, die von Atomkraftwerken ausgehen. Bei keinem Kraftwerk in Deutschland könne eine Kernschmelze ausgeschlossen werden. Zwar sei 1994 ein Sicherheitsstandard eingeführt worden, der besagt, dass die Auswirkungen einer Kernschmelze bei neuen Kraftwerken auf die Anlage selbst begrenzt seien müssen, doch nach diesen Kriterien wurde nie ein Kraftwerk in Deutschland gebaut.

Baake rechnet vor, dass die Wahrscheinlichkeit einer Kernschmelze in einem der 17 deutschen Kraftwerke bei einer Laufzeitverlängerung von 60 Jahren innerhalb dieses Zeitraumes bei einem Prozent läge. Wenn etwas als "sicher" bezeichnet würde, heiße das nur, dass das Risiko gesellschaftlich akzeptiert sei, so Baake. Schmitz konterte, die von Baake vorgetragene Rechnung sei "statistisch unzulässig".

Weiterhin erinnerte Baake an einen Test der Bundesregierung, der im Zuge des 11. September 2001 durchgeführt worden war. Damals wurde am Simulator untersucht, ob Piloten und Laien in der Lage wären, mit einem Passagierflugzeug ein Kernkraftwerk zu treffen, und ob das zu einer Kernschmelze führen kann. Die Antwort auf beide Fragen sei eindeutig ja gewesen, Details dazu jedoch Verschlusssache. Einen Schutz gegen derartige Angriffe gibt es nicht.

100 Prozent regenerativ bis 2050

Vor diesem Hintergrund interessant ist eine Studie, die das Umweltbundesamt gerade vorgestellt hat. Diese kommt zu dem Ergebnis, dass ein kompletter Umstieg auf erneuerbare Energien bis zum Jahr 2050 möglich sei. Das Umweltbundesamt sieht selbst bei einem Atomausstieg bis 2020 keinen Bedarf an herkömmlichen Kraftwerken ohne Kraft-Wärme-Kopplung über die derzeit in Bau befindlichen hinaus.

"Für eine Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke besteht aus Sicht des Klimaschutzes und der Versorgungssicherheit kein Bedarf", schreibt das Umweltbundesamt und stellt sich damit deutlich gegen den Kurs der Regierung und die Argumente der großen Kraftwerksbetreiber.