Störfall: Amoklauf

Interview mit Jörn Ahrens über den Zusammenhang von extremer Gewalthandlung und Gesellschaft

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Vom 12. bis 14. Mai fand in Berlin eine kulturwissenschaftliche Tagung zum Thema „Störfälle“ statt, aus der das Phänomen aus verschiedenen Perspektiven diskutiert wurde. Technikwissenschaftler, Philosophen, Historiker, Medien- und nicht zuletzt Sozialwissenschaftler versuchten dabei ein komplexeres Bild auf den Störfall zu werfen und auch dessen konstruktive Seite zu beleuchten. Dr. Jörn Ahrens, derzeit Vertretungsprofessor für Allgemeine Soziologie an der Universität in Gießen, hat dort über sein neues Forschungsprojekt, „Amok und die gesellschaftliche Bearbeitung von Gewalt“ gesprochen.

Jörn Ahrens. Bild: Stefan Höltgen

Sie untersuchen die Funktion von Gewalt in der Gesellschaft als Kultursoziologe. Wie ist das Verhältnis von Gewalt und Gesellschaftskonstitution von dieser Warte aus historisch zu interpretieren?

Jörn Ahrens: In historischer Perspektive müssen wir das Verhältnis von Gesellschaft zur Gewalt immer als ambivalent betrachten. Einerseits kann man sagen, die Fähigkeit, Gewalt auszuüben, gehöre zur anthropologischen Verfassung des Menschen. Wir können andere verletzen und sind selbst verletzbar. Dass wir Gewalt nicht als Mittel unseres Handelns anwenden, ist ja nicht selbstverständlich, sondern Ergebnis eines historischen Prozesses, der bestimmte normative Standards durchsetzt. Gesellschaft muss also immer ein gesteigertes Interesse daran haben, die legitimen Gewaltkompetenzen ihrer Individuen gering zu halten, um ein gedeihliches Miteinander, eine nicht existentiell gefährdete Lebenswelt zu ermöglichen. Auf der anderen Seite basiert Gesellschaft bekanntlich auf Gewaltverhältnissen, materiell wie symbolisch. Eigentlich jede Gesellschaft kennt Strukturen der sozialen Ungleichheit und der Herrschaft, die letztlich nur über Gewalt - oder über die Möglichkeit der Gewaltandrohung - durchgesetzt werden.

Gewaltausübung erscheint aber auch als ein konstruktiver Faktor in Gesellschaften.

Jörn Ahrens: Natürlich ist jede Durchsetzung einer sozialen Norm auch ein Akt der Gewalt gegen die Individuen, die sich dieser Normsetzung unterwerfen sollen, oder wird im Rückgriff auf Gewalt durchgesetzt. Das moderne Gewaltmonopol etwa garantiert die weitgehende Abwesenheit von Gewalt aus dem öffentlichen Raum, trägt zur Pazifizierung und Stabilisierung von Gesellschaft bei. Zugleich ist es natürlich einer hobbesianischen Logik des Souveräns verpflichtet. Dieser darf Gewalt als einziger Akteur legitim, gegen seine Bürger einsetzen. Gesellschaft muss also immer mit diesem Paradox klarkommen, u.a. aus Gewaltverhältnissen hervorgegangen zu sein, darauf auch immer wieder zurückgeworfen zu sein und trotzdem eine ihrer wichtigsten Aufgaben darin zu finden, die Gewalt in der Gesellschaft selbst zu neutralisieren.

Das erinnert an Gesellschaftstheorien, wie die von Norbert Elias. Elias schreibt der Gesellschaft eine kathartische, ja eigentlich schon katalytische Funktion von Gewalt-Kanalisierung zu: Aus dem Mörder wird der höfische Intrigant. Nun gibt es in modernen Gesellschaften allerdings trotzdem anomische Vorgänge, die die Pazifizierung unterlaufen oder sogar vollständig zu ignorieren scheinen. Stellen diese derartige gesellschaftliche Gewaltverhältnisse und den Souverän nicht vollständig in Frage?

Jörn Ahrens: Der Intrigant kann ja jederzeit wieder zum Mörder werden. Dieser Firnis der Kulturkompetenzen ist sehr dünn, instabil und vor allem immer gefährdet. Das sieht übrigens auch Elias sehr genau. Worum es geht, ist ja die Kontinuität einer Anwesenheit von Gewalt in Kultur und Gesellschaft als Hypothek und als kulturelle Ressource. Elias ist da etwas optimistisch der Meinung, es sei hinreichend, Kompensationsreservate wie den Sport, zeitgenössisch vielleicht auch den Splatterfilm, zu schaffen.

Keine Katharsis-Theorie, nach der Gewalt sublimiert und dadurch gezähmt werden kann?

Jörn Ahrens: Nein, Gewalt verschwindet natürlich nicht aus der Gesellschaft, auch nicht als extremes Phänomen. Hingegen lässt sich eine Implementierung sozialer Normen beobachten, die die gewaltlose Interaktion der Individuen gewährleisten und forcieren sollen. Diese werden jedoch mit Akten der Gewalt konfrontiert, die trotz dieser Normsetzung stattfinden. Gesellschaft hat also ein gewissermaßen antagonistisches Verhältnis zur Gewalt: in der Gesellschaft ist Gewalt permanent virtuell präsent - als Möglichkeit und als vorgestellte Handlungsweise - und sie muss außerdem geradezu imaginär präsent gehalten werden, um genau diese paradoxe Vergesellschaftung, der sie als Gewalt unterliegt, kulturell zu verarbeiten.

Amoklauf in Littleton

Eine der krassesten Formen der Gewalt ist der Amok-Lauf, über den Sie ja bereits geforscht haben. Sie sagen, dass Amok-Läufe als massive Störung dieses imaginären Verhältnisses einen anderen Stellenwert einnehmen als andere anomische Prozesse (wie Mord). Worin unterscheiden sie sich diesbezüglich? Und ab wann und auf welche Weise kippt ein noch integrierbares Delikt in eine solche massive Störung?

Jörn Ahrens: Der Amok kündigt den „Gesellschaftsvertrag“ über die Anerkennung einer allgemein geteilten Normalität auf, in der sich so etwas wie sozialer Alltag abspielen kann, worin Individuen sich als handlungsmächtig erfahren können und worin vor allem eine Art von Berechenbarkeit des Wahrscheinlichen in einem Umfeld der Kontingenz herrscht. Der Soziologe Heinrich Popitz hat einmal gesagt, Normativität sei zwar eine wesentlich Voraussetzung für das Gelingen von Gesellschaft, aber dass sie verwirklicht werde, sei eine durchaus merkwürdige Leistung. Denn es gibt ja keinen Grund dafür, keine Notwendigkeit, keine Bedingung, außer vielleicht die hobbessche Frage des wer frisst wen. Aber de facto ist diese allgemein gültige Normativität sozialer Verhältnisse eine rabiate Konstruktion, artifiziell und imaginär - eingebildete Realität, die trotzdem wirksam wird. Und das wissen die Leute eigentlich auch, müssen es aber vergessen, wenn sie innerhalb einer gesellschaftlichen Normalität siedeln wollen. Und das wollen wir natürlich auch.

Der Amoklauf reißt den Einzelnen sozusagen aus unserer gesellschaftlichen Vergessenheit?

Jörn Ahrens: Man muss ja sehen, dass Gesellschaft die denkbar abstrakteste Angelegenheit ist, die aber, wenn sie funktionieren soll, in jedem Augenblick ganz ungeheuer konkret und materiell verbindlich wirken muss. Dazu gehört insbesondere die Vermittlung von Kontinuität, Sicherheit, Berechenbarkeit. Ein extremes Phänomen wie der Amok stellt das radikal zur Disposition; nicht etwa nur diskursiv, sondern ganz real, plötzlich und existentiell bedrohlich. Jeder Ort der Gesellschaft wird so ein potentiell permanent gefährdeter und lebensgefährlicher Ort, damit ist der gesellschaftliche Konsens der Normalität ad absurdum geführt. Natürlich gibt es auch andere extreme Phänomene, die das leisten können. Aber speziell der Amok ist hier in der letzten Zeit ikonisch geworden. Das hat ohne Zweifel auch etwas mit seinem spezifischen Gewaltbezug zu tun.

Die Gesellschaft, insbesondere Medien und Politik, versuchen dem Phänomen Amok dennoch Herr zu werden. Das hat schon beinahe ritualhaften Charakter, mit dem nach solchen Taten bestimmte Debatten geführt werden. Ist das eine Reaktion auf die Ikonographisierung des Amoklaufs?

Jörn Ahrens: Der Amok kippt, wie gesagt, die Funktionalität von gesellschaftlicher Normalität und stellt damit auch die Legitimität von Normsetzungen in Frage, die ja massiv darauf aufbauen, dass sie als selbstverständlich und schlechthin gültig wahrgenommen werden – völlig unabhängig davon, dass alle wissen, dass es keine absolute Normkonformität geben kann. Trotzdem beruht dieses Arrangement sozialer Normalität, das heißt ja der Ermöglichung von Alltag und Routine, auf gemeinsam geteilten Imaginationen, kulturellen Narrationen, die gewissermaßen als die materielle Basis einer kulturellen Realität akzeptiert und festgeklopft werden, die ja letztlich immer eine inszenierte ist. Wenn diese normbasierte Normalität durchbrochen wird, dann müssen soziale, kulturelle Instrumente greifen, die solche anomischen Handlungen in die allgemein gültigen Narrative von Gesellschaft, in den Möglichkeitshorizont des zwar Kontingenten aber dennoch Erwartbaren reintegrieren.

Wir „erzählen“ uns die Normalität, um der Ausnahme Herr zu werden?

Jörn Ahrens: Ja, das funktioniert ziemlich gut bei nicht normalen Ereignissen wie dem Banküberfall, dem Flugzeugabsturz, dem Ehrenmord – alles sehr ungeliebte und auch seltene Handlungen, von denen man aber weiß, dass sie möglich (wenn auch nicht wahrscheinlich) sind, weil die Gesellschaft dafür Narrative und Erklärungsparameter bereit stellt. Darüber werden solche Handlungen immanent und bzgl. der Akteursmotivation nachvollziehbar gemacht und erweisen sich zwar als Grenzfälle des Sozialen, aber dennoch als immanent angelegt. Kulturelle Artefakte, speziell in den Massenmedien, sind massiv damit beschäftigt, hieran zu arbeiten. Ein Phänomen wie der Amok hingegen überschreitet diese Grenze einer in den Raum des Normalen integrierbaren Anomie. Das trifft natürlich nicht nur auf den Amok zu.

Aber der Amoklauf ist in dieser Hinsicht besonders archetypisch geworden. Warum?

Jörn Ahrens: In den vergangenen Jahren hat der Amok hier eine Art indexikalische Qualität gewonnen, dadurch dass er scheinbar seriell auftritt, dass er irrational, willkürlich und desintegrierend ist. Diese Massivität des Gewalteinbruchs ohne erkennbares Objekt oder Motivation ist überhaupt nicht mehr zu vereinbaren mit der Anerkennung einer Normalität, die den Individuen einen Raum der Berechenbarkeit und der Entlastung von Kontingenzen bereitstellt. Im Gegenteil, wenn der Amok die absolute Zerbrechlichkeit dieses Normalitätsrahmens klarmacht, dann sind wir potentiell jederzeit, überall und durch jedermann gefährdet. Genau davon geht übrigens auch ein wichtiger Teil der sozialwissenschaftlichen Amokforschung in seinen Präventionsansätzen aus.

Die Bearbeitung solcher Fälle durch die Massenmedien trägt aber auch problematische Züge: Oft werden vor allem fiktionale Auseinandersetzungen mit Gewalt als Ursache für spätere reale Gewalt angesehen – gerade bei Amokläufen kommen Gewaltdarstellungen in Filmen und Videospielen („Killerspiele“) immer wieder in die Debatte. Liegt der Grund dafür in einer vermeintlichen Homologie von medialer Vorlage und realer „Nachahmung“?

Jörn Ahrens: Ich bin nicht der Ansicht, dass mediale Artefakte im größeren Stil zur Generierung, Nachahmung oder Vermeidung von Gewalthandlungen beitragen. Hier sehe ich keine Funktion der medialen Bearbeitung von Gewalt; einzelne Ausnahmen auf beiden Seiten gibt es sicherlich, ein Beleg dieser, ja auch recht umstrittenen, Thesen ist das aber nicht. Meiner Ansicht nach unterbewerten solche Ansätze entweder die Rezeptionskompetenzen eines mediengeschulten Publikums oder sie überbewerten die unmittelbar individuelle Wirkungsmacht von Medien. In jedem Fall aber sehen derlei Positionen vom eigentlichen Problem ab, dem Amok, der gesellschaftlich offenbar nicht verstanden werden kann, und lenken die Debatte auf ein anderes Feld, das diskursiv besser beherrscht wird.

Welche Funktion sehen Sie in die Auseinandersetzung der Medien mit anomischen sozialen Prozessen?

Jörn Ahrens: Diese Funktion sehe ich viel eher auf einer Meta-Ebene von Kultur und Gesellschaft; hier werden die entsprechenden Narrative und Ästhetiken produktiv und entfalten Wirksamkeit. Nach meinem Dafürhalten handelt es sich dabei um Praktiken der gesellschaftlichen Kommunikation. Über narrative, ästhetische Prozesse können symbolisch Fragen eines kulturellen Selbstverständnisses ausgehandelt, als Thesen, und das heißt durchaus kontrovers, in die Gesellschaft der Rezipienten hineingetragen und dort weiter bearbeitet werden.

Also spielen Gewaltdarstellungen sogar eine positive gesellschaftliche Rolle?

Jörn Ahrens: „Positiv“ beinhaltet natürlich schon wieder eine Wertung, die hier missverständlich sein kann. Ich spreche deshalb lieber davon, dass solche Inszenierungen gesellschaftlich produktiv sind. Die mediale Aufbereitung, gerade auch extremer, ungeliebter gesellschaftlicher Phänomene halte ich für einen zentralen Bestandteil in der gesellschaftlichen Bearbeitung sozialer Problemlagen. Praktiken der Medialisierung sind in diesem Sinne auch Praktiken der Generalisierung, die innerhalb der Gesellschaft thesenhaft zur Disposition gestellt werden. Daran kann sich das Selbstverständnis von Kultur und Gesellschaft dann reiben, auch aufregen oder Einverständnis zeigen. Wichtig ist, dass innerhalb solcher indirekter Inszenierungspraktiken die Legitimität anomischer Handlungen thematisiert und der gesellschaftlichen Reflexion und Kontroverse zugänglich gemacht wird. Das ist oft immens konfliktbesetzt und muss es auch sein. Gesellschaft ohne Konflikt wäre eine überaus öde, erstarrte Veranstaltung.