Reality Check vor Gericht

Die notwendige Erschütterung medialer Gewissheiten im Fall Brunner

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Der "Held von Solln", Blumen, Teddybären, das Bundesverdienstkreuz, der bayerische Verdienstorden - im Tod hat Dominik Brunner mehr Aufmerksamkeit erfahren, als er sich wohl im Leben je hat träumen lassen. Die Demontage des Heldenbildes vor Gericht fällt nun umso drastischer aus.

Das Publikum will Helden, und nichts liebt es mehr als einen wie du und ich, der im entscheidenden Moment über sich hinauswächst und dann tragisch scheitert, um gleicherweise die beiden Pole des kleinbürgerlichen Begehrens zu illustrieren: die Mühe und ihr Scheitern gegen die Übermacht.

Die besten Helden, die deutschen Meister der Herzen sind demnach nicht immer diejenigen, die siegen, sondern diejenigen, die kämpfend untergehen, und Dominik Brunner war einer, der im Tod dieses Paradigma aufs i-Tüpfelchen zu bestätigen schien: Normaler Bürger trifft auf dem Nachhauseweg auf das unheilvolle Treiben gewaltbereiter Jugendlicher. Der normale Bürger beschützt die von diesen gewaltbereiten Jugendlichen bedrohten nichtgewaltbereiten Jugendlichen und büßt dafür mit dem Leben. Die Presse überschlug sich vor Begeisterung, klarer konnten das Gute und das Böse nicht verteilt sein.

Nun gab es schon von Anfang an Stimmen, die zur Vorsicht rieten. Als die Zeit jüngst die Kampfsporterfahrung Brunners geklärt haben wollte und leise Zweifel an seinem Heldenstatus aufkommen ließ, traf sie bei den Aktivbürgern, die aus seinem Tod den Grund für bürgerschaftlichen Aktivismus gestrickt haben, auf Schweigen.

Auslegungsbedürftige Vorkommnisse

Spätestens nach den ersten Aussagen vor Gericht ist nun aber klar, dass die Vorkommnisse zumindest auslegungsbedürftig sind: Mehrere Zeugen haben bestätigt, dass Brunner nicht nur zuerst zugeschlagen, sondern den für ihn letztlich tödlichen Kampf regelrecht herausgefordert hat, durch aggressives Herumtänzeln in Boxerart (die ihm von seinem Kickboxtraining in den Neunzigern her vertraut war), über starke Sprüche, bis hin zu Geschubse.

Das macht die Angeklagten noch lange nicht zu harmlosen Jugendlichen, die sich bloß mal einen Spaß erlauben wollten. Was hormongesteuerte männliche Jugendliche unter Alkoholeinfluss in öffentlichen Verkehrsmitteln mit dem Verkehrsmittel, sich selbst und anderen anstellen, hat oft genug mit Spaß nichts mehr zu tun, und Fakt ist und bleibt, dass Markus S. und Sebastian L. einen Menschen getötet haben. Aber es kann gut sein, dass sie nicht die Monster sind, zu denen die Presse und das Publikum sie aufgepumpt hat, und dass Dominik Brunner nicht der strahlende Held war, sondern jemand, der in einer brenzligen Situation handeln wollte, übers Ziel hinaus schoss und seine körperlichen Möglichkeiten überschätzte - dies möglicherweise im Wissen um ein erhöhtes Grundrisiko auf seiner Seite: Wie sich jetzt herausstellte, hatte Brunner einen Herzfehler, der im Zusammenspiel mit den Verletzungen durch seine jugendlichen Gegner anscheinend den Tod Brunners herbeigeführt hat.

Analoge mediale Aufbereitung

Die Nachbegutachtung der für die Öffentlichkeit eigentlich schon abgeschlossenen Geschichte vor Gericht erinnert deutlich an einen anderen Vorfall im Juni dieses Jahres. In Hamburg-Neuwiedenthal waren fünf Polizisten bei einem Einsatz verletzt worden, als sie sich mit Bewohnern des Viertels eine wüste Schlägerei lieferten. Einer der Polizisten erlitt dabei einen mehrfachen Schädelbruch. Der Landesvorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft, Joachim Lenders, griff zum Vokabular des Wilhelminismus, um seiner Empörung Herr zu werden:

Es ist unfassbar, mit welcher Brutalität diese Straftäter, die nur noch als Unterschicht und Abschaum der Straße zu bezeichnen sind, gegen unsere Kollegen vorgegangen sind.

Leider vergaß Herr Lenders bei dieser Aufwallung der gerecht gekränkten Polizistenehre, dass seine Kollegen vor der Zusammenrottung des Abschaums in durchaus unschöner Art ihr Mütchen an einem Unterschichtler gekühlt hatten und dabei gefilmt worden waren.

Die Art, wie einer der Kollegen die sich zusammenrottende Menge zusätzlich verbal provozierte, kann man durchaus mit dem vergleichen, was von Dominik Brunners Auftreten jetzt bekannt wird. Und die mediale Aufbereitung beider Vorfälle ist ohnehin analog: Hier der Abschaum, da der heldenhafte Aktivbürger, hier die Unterschicht, da die mutwillig angegriffene Polizei.

Die „gefühlte Realität“

Warum aber diese simplen, und in ihrer Einfachheit verzerrten Realitätskonstruktionen? Neulich habe ich eine Skizze des zeitgenössischen Infantilismus versucht (Ölpest an Gefühlen). Die Art, in der sich im Fall Brunner und in der Affäre Neuwiedenthal das Publikum in Hass, Wut, Liebe und Verehrung an primitiven moralischen Zuschreibungen regelrecht aufgeilt, scheint mir ebenfalls ein Aspekt des besagten Infantilismus zu sein: Die "gefühlte Realität" geht über alles, Analyse bedeutet nichts, und "Problemlösungen" der allereinfachsten Art sind Trumpf.

Man kann in der Tat froh sein, dass im Fall Brunner der zugehörige Gerichtsprozess die schnellfertigen Schlussfolgerungen noch einmal überprüft, dass es Leute mit Kameras gibt, die bei entsprechenden Vorfällen geistesgegenwärtig genug sind, zu filmen, dass die Seltsamkeiten im Zusammenhang mit dem Neuwiedenthaler Vorfall immerhin in Blogs diskutierbar bleiben und dass der Videobeweis wenn schon nicht im Fußball, dann doch in den Gerichtssälen ab und an Gewicht bekommt.

Gar nicht froh sein kann man über die Rolle der Presse, die, von Ausnahmen abgesehen, den Infantilismus ihres Publikums nach Kräften bedient, und ohne Ende in der heavy rotation hält, was der verschwitzte, mit empörungsrotem Kopf vor der Glotze sitzende Spießbürger ohnehin immer schon "weiß". Aufklärung, das ist gewiss, geht anders.