Recht auf Internet und Reform des Bildungssystems

Welche Folgen die Umsetzung einer Empfehlung der EU-Kommission zum lebenslangen Lernen hätte

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Brüssel beschließt und wir denken, das hätte ohnehin keine Folgen - und wenn ja, dann höchstens solche, die sich in einem Übermaß an Bürokratie äußern würden. Vielleicht gibt es aber auch Empfehlungen der EU-Kommission, die den Mitgliedsstaaten durch die Hintertür ein Mehr an Bürgerrechten und die Notwendigkeit das Bildungssystem zu reformieren bescheren könnten.

Im Jahr 2006 gab die europäische Kommission den Mitgliedsstaaten einen Referenzrahmen vor, dem zu Folge allen Bürgern der Union die Möglichkeit gegeben werden solle, acht Schlüsselkompetenzen zu erwerben, die für lebenslanges Lernen notwendig sind. Neben sprachlichen, sozialen, naturwissenschaftlichen und persönlichen Kompetenzen findet sich in dieser sinnvoll anmutenden Aufstellung auch der Begriff der Computerkompetenz. Mit Schaudern mag man vielleicht daran denken, was wohl in jahrelanger Gremienarbeit bei solch einem Thema herauskommen soll. Doch es lohnt sich, diese Computerkompetenz zu betrachten.

Computerkompetenz umfasst die sichere und kritische Anwendung der Technologien der Informationsgesellschaft (TIG) für Arbeit, Freizeit und Kommunikation. Sie wird unterstützt durch Grundkenntnisse der IKT (Informations- und Kommunkationstechnologie): Benutzung von Computern, um Informationen abzufragen, zu bewerten, zu speichern, zu produzieren, zu präsentieren und auszutauschen, über Internet zu kommunizieren und an Kommunikationsnetzen teilzunehmen.

EU-Kommissio

Nun ist es mit solchen Empfehlungen der EU-Kommission wie mit vielen von Ausschüssen erstellten Schriften - sie erbringen meist den Beweis, dass Papier geduldig ist und der digitale Speicherplatz der EU-Kommission ans Unendliche grenzende Kapazitäten aufweist. Es steht in Frage, ob und wenn ja, auf welche Weise diese acht Schlüsselkompetenzen von einer unverbindlichen Empfehlung an die Mitgliedsstaaten zu einem Recht würde, auf dass sich tatsächlich jeder EU-Bürger berufen kann. Gönnen wir uns jedoch einmal den Luxus uns vorzustellen die einzelnen Positionen des Begriffes Computerkompetenz würden tatsächlich umgesetzt werden. Die Folgen wären wohl erheblich.

Buzzwords mit Substanz

Werfen wir zuerst einen Blick darauf, was die EU-Kommission überhaupt unter Kompetenz versteht: Der Begriff der Kompetenz kann seit einigen Jahren zu den Buzzwords der Bildungspolitik gezählt werden. Viele nehmen die Vokabel in den Mund - wenige wissen, was damit gemeint ist.

Unter Kompetenz kann die Möglichkeit verstanden werden, die eigenen Kenntnisse, Fähigkeiten und Einstellungen auf unterschiedliche Kontexte anzuwenden. Im Zusammenhang mit der Definition von Kompetenzen spricht man auch von Selbstorganisationsdispositionen oder dem Sich-Zuständig-Erklären.

Betrachtet man sich vor diesem Hintergrund die Operationalisierung der Computerkompetenz, wie sie von der EU beschrieben wird, so wird es interessant: Neben der Kenntnis verschiedener Anwendungen sollen die Menschen auch in die Lage versetzt werden, "Chancen und potentielle Gefahren" elektronischer Medien "für Arbeit, Freizeit, Informationsaustausch und Kooperationsnetze, Lernen und Forschung" zu erkennen. Darüber hinaus solle der Einzelne auch verstehen, "wie die TIG Kreativität und Innovationen fördern können, und sich der Problematik in Bezug auf Gültigkeit und Verlässlichkeit der verfügbaren Informationen […] bewusst sein".

Als relevante Fähigkeiten (wobei der Fähigkeitenbegriff in diesem Zusammenhang diskussionswürdig ist) führt das Papier im Wesentlichen die "Fähigkeit zu recherchieren, […] Virtuelles von Realem zu unterscheiden, […] sowie das Vermögen komplexe Informationen zu produzieren, zu präsentieren und zu verstehen auf. Der Einzelne sollte ferner fähig sein, TIG zu nutzen, um kritisches Denken, Kreativität und Innovation zu fördern."

Zu guter Letzt soll bei EU-Bürgerinnen und EU-Bürgern eine kritische und reflektierte Einstellung gefördert werden […] sowie das Interesse daran, "sich in Gemeinschaften und Netzen für kulturelle, soziale und/oder berufliche Zwecke zu engagieren".

Das Versagen des Bildungssystems

Was EU-Bürger dieser Empfehlung zu Folge also erlangen können sollen, ist eine umfassende Medienkompetenz. Und es ist nur realistisch, diese als Computerkompetenz zu bezeichnen und damit der künftigen Marginalisierung der klassischen Medienkanäle Rechnung zu tragen. Der Mensch soll den Computer beruflich wie privat, zur Bildung, zur Kommunikation, für soziale Wohltaten und dafür nutzen, sich politisch zu informieren und zu betätigen.

Die Frage ist nur, wie eine solche Medienkompetenz erlangt werden kann. Welche Menschen und Institutionen sind in der Lage, diese umfassende Medienkompetenz zu vermitteln? Kaum jemand dürfte der Ansicht sein, das Schul- und Hochschulpersonal wäre in der Lage, einem solchen Bildungsauftrag gerecht zu werden. Die wenigsten Lehrer und Hochschuldozenten dürften sich zutrauen, den ihnen anvertrauten jungen Menschen Computer- oder Medienkompetenzen im genannten Sinne vermitteln zu können. Man mag sich gar nicht vorstellen, wie es einem Lehrer erginge, der seinen Schülern etwas über Facebook erzählen wollte. Ja, es scheint sogar, als handele es sich um eine Kompetenz, bei dem unser Input-orientiertes Bildungssystem grundsätzlich an seine Grenzen stößt.

In einer sich rasant wandelnden Medienwelt wirkt ein Ansatz, in dem über Jahre und Jahrzehnte Wissen kanonisiert wird, um es als Konzentrat an junge Menschen weiterzugeben, antiquiert. Kein Lehrplan, kein Lehrer, kein Dozent kann so schnell auf neue Entwicklungen in der Medienlandschaft auf eine Weise reagieren, die es ermöglichen würde, den Schutzbefohlenen nicht veraltetes Wissen zu vermitteln.

Das ist nicht Schuld der Lehrer und Dozenten. Es ist ein Fehler im System, das bislang darauf angelegt ist, als Medienkompetenz zu vermitteln, man solle Nachrichtensendungen auf öffentlich-rechtlichen Fernsehsendern ansehen und Dokumentation auf arte, um sich als medienkompetent zu erweisen. Mozart ist gut und fördert die Hirnentwicklung, Heavy Metal ist böse und lässt Blumen verwelken. Alle Filme des unabhängigen französischen Kinos sind gut, alle Splatter-Filme und an sich auch amerikanische Filme sind böse. Zeitung ist gut, Internet Schund. Bezahlen ist gut, gratis ist schlecht. So einfach ist das.

Nüchtern betrachtet sind nur wenige der Kenntnisse aus der oben aufgeführten Definition im geltenden System zu vermitteln. Man kann Wissen dafür weitergeben, wie man eine Präsentation erstellt, wie man ein Textverarbeitungsprogramm bedient, wie man mit Tabellen kalkuliert. Die wenigsten Jugendlichen werden in diesen Grundfertigkeiten Nachhilfe benötigen, aber es ist legitim, sicherstellen zu wollen, dass zumindest solche und ähnliche Inhalte vermittelt werden.

Mit allen anderen Aspekten von Computerkompetenz scheinen System und Personal unseres Input-orientierten Bildungssystems jedoch grundsätzlich überfordert zu sein: das Interesse, sich kulturell, beruflich und sozial zu engagieren, die kritische Reflexion der Nutzung, die Beurteilung von guten und schlechten Inhalten - das alles sind erstrebenswerte Ziele, deren konkrete Umsetzung in der Schul- und Hochschulpraxis jedoch gegenwärtig illusorisch erscheinen. Notwendig wären Projektunterricht, Abkehr von zentralisierten Lehrplänen und generell die Ermächtigung der Belehrten gegenüber den Lehrenden, um die Förderung von Computerkompetenz im skizzierten Sinne zu gewährleisten. Nichts andere wäre also notwendig, als eine fast vollständige Abkehr vom derzeit geltenden Paradigma.

Recht auf Berieselung oder auf Teilhabe?

Doch nicht nur das Bildungssystem müsste umgekrempelt werden. Auf welche Weise nämlich sollte Computerkompetenz überhaupt entwickelt werden, wenn nicht durch ein Recht darauf, überhaupt über einen Internetzugang zu verfügen? Und wie kann ein Internetzugang eigentlich sinnvoll genutzt werden, wenn man über keinen Computer verfügt? Wohlgemerkt werden die Schlüsselkompetenzen für lebenslanges Lernen von der EU-Kommission nicht als Selbstzweck oder aus rein sozialen Überlegungen gefordert. Im Papier klingt das so:

Die Schlüsselkompetenzen sind aufgrund ihres transversalen Charakters von entscheidender Bedeutung. Sie stellen einen Fortschritt für den Arbeitsmarkt, den sozialen Zusammenhalt und die Jugend (Pakt für die Jugend) dar.

EU-Kommission

Hinsichtlich der Umsetzung heißt es:

Da jeder Einzelne diese Kompetenzen erlangen sollte, stellt die vorliegende Empfehlung ein Referenzinstrument für die Mitgliedstaaten dar, um sicherzustellen, dass sie die Schlüsselkompetenzen vollständig in ihre Strategien und Infrastrukturen, vor allem im Bereich des lebenslangen Lernens, integriert haben.

EU-Kommission

Vor diesem Hintergrund erscheint es absurd, dass verschuldeten Menschen etwa der Computer gepfändet werden kann, nicht aber Fernseher oder Radio. Berieselung durch private und öffentlich-rechtliche Sendungen ist also eine Art Grundrecht - Teilhabe an der Informationsgesellschaft hingegen Luxus?

In Diskussionen darüber, was HartzIV-Empfängern zusteht und was ihnen bitteschön verwehrt bleiben soll, offenbart sich noch immer allzu häufig der Wunsch einer in Auflösung begriffenen, verängstigten Mittelschicht, die sich gegenüber einer Unterschicht abzugrenzen versucht. Und im Schweigen der meisten Parteien zu diesem Thema zeigen sich fehlender Gestaltungswille und die Weigerung anzuerkennen, was im Sinne einer echten Verbesserung des Standortes Europa von Seiten der EU-Kommission vorgeschlagen wird.

Claas Triebel ist promovierter Psychologe. Als Experte in Sachen kompetenzorientierter Laufbahnberatung und -entwicklung ist er Gesellschafter einer Beratungsfirma und Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität der Bundeswehr München. 2010 ist sein Buch "Mobil, flexibel, immer erreichbar" im Verlag Artemis & Winkler erschienen.