Telefonieren? Nur, wenn es unbedingt sein muss

Je jünger die Menschen sind, desto weniger und kürzer telefonieren sie

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Natürlich weiß man, dass nach dem Boom der E-Mail-Kommunikation mit dem Siegeszug der Handys eine Explosion der SMS-Kurzbotschaften erfolgte. Gleichwohl könnte man sich vorstellen, dass mit den Handys auch mehr telefoniert wird, schließlich hat man diese Geräte immer dabei, zudem sind sie fast immer an. Das aber wäre falsch gedacht.

Nach einer aktuellen Nielsen-Studie verändert sich die Kommunikation von einer Menschen- und Technikgeneration zur anderen doch recht beachtlich. Auch wenn die Menschen in der Öffentlichkeit pausenlos mehr oder weniger Gehaltvolles zu reden scheinen, so ging mit der Erweiterung der Handys durch SMS und den Internetzugang der Anteil der Anrufe deutlich zurück. Schon 2008 stellte Nielsen fest, dass die Handybenutzer weit mehr SMS erhalten oder versendet, als sie telefoniert haben. Und erwartungsgemäß drehte sich das Verhältnis mit zunehmendem Alter um. Bei den 35- bis 44-Jährigen hielten sich Telefonieren und SMS etwa die Waage, ab 45 Jahren überwog das Telefonieren, während vor allem die 13- bis 17-Jährigen achtmal so viele SMS empfangen oder verschicken als sie telefonieren. Allerdings waren sie auch telefonisch noch aktiver als die Menschen über 45.

In Deutschland wurden 2009 mit 34,4 Milliarden SMS 24 Prozent mehr verschickt als noch im Vorjahr, so eine Mitteilung von BITKOM, woran auch die zunehmende Popularität von Twitter seinen Anteil hat. Allerdings wird bereits auch SMS bei den jüngeren Menschen gegenüber dem Internet verdrängt. Jeder Sechste unter 30 Jahren geht mit dem Handy ins Netz, die Über-65-Jährigen nutzen das Handy "fast ausschließlich zum Telefonieren oder für andere traditionelle Anwendungen wie SMS".

Womöglich folgt das Telefonieren nun dem Schreiben von Briefen, es wird eine untergehende, veraltete Kommunikationsform, die von Generation zu Generation weiter ausstirbt. Abgesehen von der Altersgruppe der 55- bis 64-Jährigen nimmt das Telefonieren bereits bei allen Altergruppen ab, so Nielsen. Besonders deutlich ist dies bei der Altersgruppe der 18- bis 34-jährigen Amerikaner, die vor zwei Jahren noch durchschnittlich 1 200 Minuten telefoniert haben und dies jetzt nur noch 900 Minuten, bei den 18- bis 24-Jährigen hat sich in der selben Zeit das Simsen mehr als verdoppelt. Aber es ist nicht nur die Zahl der Telefongespräche zurückgegangen, es wird auch nicht mehr so lange telefoniert. Dauerte ein durchschnittliches Gespräch 1993 noch 2,38 Minuten, so sollen es 2009 nur noch 1,81 Minuten sein.

In der Washington Post wird vermutlich zu Recht vermutet, dass Vielen das Telefonieren, wenn es nicht unbedingt notwendig ist, als zu zeitaufwändig erscheint. Deswegen wird auch ungern zurückgerufen oder auch der Anrufbeantworter gleich abgeschaltet. Wer telefoniert, muss gewissermaßen Rede und Antwort stehen, ohne sich entziehen zu können; Texting, E-Mailen oder Tweeting hat hingegen den Vorteil, ohne direkten zeitlichen Zwang erfolgen zu können. Man wird damit nicht in die Kommunikation hineingezwungen, hat mehr Abstand, sie ist weniger intim. Manche würden auch sagen, dass Telefonanrufe an sich unhöflich seien, weil sie weitaus stärker für eine Unterbrechung sorgen, als wenn der Empfang einer SMS-Botschaft durch einen Ton angekündigt wird.

Allerdings könnte eine solche Unterbrechung, wenn man sich gerade mit Menschen an einem Ort befindet, ganz willkommen sein, um diese Intimität zu lösen. Oft kann man beobachten, dass für den Angerufenen der ferne Kommunikationspartner wichtiger zu sein scheint als der räumlich anwesende. Das Annehmen des Gesprächs kann hier auch als unhöflich empfunden werden, weil das schließlich auch die Botschaft enthält, dass der Anwesende unwichtiger ist, was sich möglicherweise auch verallgemeinern ließe: Dass überhaupt das, was sich nicht hier abspielt, wo man sich gerade befindet, in vielen Fällen wichtiger oder interessanter zu sein scheint.

Der Übergang vom Telefonieren zum zeitversetzten schriftlichen Kommunizieren wird überdies damit zusammenhängen, was auch in der Washington Post anklingt, dass es um die Kontrolle über die eigene Zeit geht, die mit der Verdichtung der Kommunikations- und Informationsflüsse, in die wir alle eingebunden sind, immer wichtiger und üblicher wird. Mit der Zahl der Medien und Kommunikations- und Informationsgeräte sind auch die Optionen explodiert, für die wir uns entscheiden, aus denen wir auswählen oder in denen wir surfen können und wollen. Alles was bindet und Ausschließlichkeit einfordert, soll nur noch möglich sein, wenn und solange wir dies wollen.

Daher haben wir nicht ein Fernseh- oder Radioprogramm, sondern Dutzende und Hunderte, zwischen denen wir ebenso zappen, wie wir im Web surfen oder mit Anderen kommunizieren. Das wird sich auf Beziehungen zwischen Menschen ebenso auswirken wie etwa zu Informationsangeboten. Online liest man keine ganzen Zeitungen mehr, sondern nur noch einzelne Kapitel, wenn überhaupt. Und man stellt sich - wie in den sozialen Netzwerken seine "Freunde" - aus verschiedenen Quellen seine eigene Publikation zusammen.

Und solange es uns nicht möglich ist, gleichzeitig mit mehreren Menschen zu telefonieren und nebenher noch anderes zu machen, rauben uns Telefonate die Kontrolle über unsere Zeit und über unseren Entscheidungsspielraum und werden deshalb lieber umgangen. Allerdings könnte dies auch ein erstes Zeichen dafür sein, dass allmählich wieder telekommunikationsfreie Räume und Zeitinseln entstehen.