Für AIPAC bleiben nur die Orthodoxen

Junge, nicht-orthodoxe Juden wenden sich mehr und mehr von Israel ab

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Ein kürzlich in der „New York Book Review“ veröffentlichter Artikel sorgte für Aufruhr im US-jüdischen Establishment. Sein Autor, Peter Beinart, Politikwissenschaftler und seinerseits US-Jude, wirft AIPAC & Co. bitteres Versagen vor. Sie hätten dazu beigetragen, dass immer mehr junge amerikanische Juden Israel die kalte Schulter zeigen.

„The Failure of the American Jewish Establishment“ betitelte Beinart seine fünf Seiten lange Abrechnung mit US-Organisationen wie AIPAC oder der „Konferenz der Präsidenten der Amerikanisch-Jüdischen Organisationen“. Als Ausgangspunkt nimmt er die Studie des US-republikanischem Politberaters Frank Luntz von 2003, die feststellte, dass immer mehr jungen amerikanischen Juden der Bezug zu „Erez Israel“ fehlt. Warum dem so sei, erklärt Beinart kurz und bündig: Die jungen Menschen, die an offene Debatten und Menschenrechte, statt an militärische Gewalt glauben, seien schlicht zu liberal gesinnt für AIPAC & Co.

Letztere würden tatsächlich den einzigen Zionismus wirksam bekämpfen, der den nach 1974 geborenen Generationen noch attraktiv erscheine: einer, der Palästinensern Würde und Friedensfähigkeit zugestehe. Stattdessen sende das Establishment Männer wie Effi Eitam auf Werbetour: ein ultrarechter israelischer Politiker, der dafür plädiert, „das Gros der Araber aus Judäa und Samarien zu vertreiben“ und die israelischen Araber ("ein Krebsgeschwür") aus dem politischen System zu „entfernen“. Genau er habe im akademischen Jahr 2009-2010 US-Hochschulen besucht – als Israels Sondergesandter für das Programm „Campus Engagement“.

AIPAC-Logo

Zwar wiederholen die US-jüdischen Organisationen nicht die rassistischen Ansichten eines Eitam, doch würden sie sie auch nicht kritisieren, sondern, im Gegenteil, mit dem ewig gleichen Selbstverteidigungsmantra ummänteln. Dergestalt seien sie letztlich nichts anderes als die „intellektuellen Bodyguards“ der Extremisten.

Generationenwandel zieht an AIPAC vorbei

Zugleich ignorierten sie damit den generationenbedingten Wandel unter US-Juden und blieben auf die Zielgruppe fixiert, die durch die Kriege von 1967 und 1973 geprägt sei. Damals schien Israel momentweise tatsächlich gefährdet und dieses Israel hätte sich den heute rund 50- bis 60-Jährigen eingeprägt. Indem AIPAC & Co. den später immer offenkundiger werdenden anti-arabischen Rassismus herunterspielen würden, würden sie den älteren Generationen ihre Erinnerungen an ein „unschuldigeres“ Israel bewahren.

Doch diese Generationen reproduziere sich nicht selbst. Noch könnten sie ihre Ansichten auf ihre Kinder übertragen, die Israel nie als bedroht, sondern in folgenden Kontexten wahrgenommen hätten: Invasion in den Libanon 1982, Ausbruch der 1. Intifada 1987, zunehmend dominante aggressive Siedlerbewegung. (Man könnte Beinarts Bilanz noch anfügen: Ausbruch der 2. Intifada 2000, Angriff auf den Libanon 2006, Angriff auf Gaza 2009, Angriff auf die Solidaritätsflottille 2010.)

Entsprechend unbeeindruckt blieben sie von den Verschleierungstaktiken des Establishment. Wolle dieses seinen unkritischen Zionismus weiterhin hochhalten, müsse es sich also nach einer anderen Gefolgschaft umsehen. Die, so Beinart, könne nur aus denen bestehen, die nicht einmal das US-jüdische Establishment begrüssen würde: den Orthodoxen.

AIPACS künftige Gefolgschaft

Tatsächlich sind diese auch in den USA auf dem Vormarsch. Laut einer Studie des American Jewish Committee von 2006 waren nur 12 Prozent der über 60-Jährigen orthodox, jedoch 34 Prozent der 18- bis 24-Jährigen. In ihren Yeshivas erlernen sie von klein auf Ergebenheit gegenüber Israel. Wie sich dies auswirkt, demonstrierte unter anderem der Israel-Solidaritätstag in Washington, zu dem führende jüdische Organisationen 2002 eingeladen hatten.

Der Zulauf bestand zu 70 Prozent aus Orthodoxen. Als der seinerzeit stellvertretende US-Verteidigungsminister und der Palästinafreundlichkeit unverdächtige Paul Wolfowitz auf der Kundgebung bemerkt habe, „auch“ Palästinenser würden leiden und sterben, buhten sie ihn in Grund und Boden.

Die Antwort des Establishments

Beinarts Artikel forderte eine Vielzahl von Kommentaren von US-jüdischer Seite heraus, die nicht selten – und völlig wider Willen - seiner Analyse passgenau zuspielten. Etwa Steve Rosen, ehemaliger leitender AIPAC-Mitarbeiter, der nichts eiliger hatte, als zu betonen, dass AIPAC ein „florierender Riese“ sei und dass es seit jeher unzufriedene Juden gegeben habe und nur die Aufmerksamkeit, die ihnen zuteil würde, neu sei. Auf die von Beinart angeführten Studien ging er gar nicht erst ein.

David Frum blies in das gleiche Horn. Palästinenser, so der ehemalige Redenschreiber von George W. Bush und Co-Autor von Richard Perle in "An End to Evil", seien friedensunfähig und gewaltbereit. „Der Schlächter“ (Palästina) sei an allem schuld.

J.J. Goldberg, Autor des Buches „A Jewish Power: Inside the American Jewish Establishment“, fügt hinzu: „Anti-Semitismus galt seit 1945 als Tabu. Doch das Tabu bröckelt. Und zwischen dem alten und dem neuen Juden-Bashing existiert ein entscheidender Unterschied: Jüdischen Einfluss zu schmähen, pflegte aus dem irregleiteten Hass auf ein Phantasma zu bestehen. Heute aber besteht er aus der Opposition zu einer aktuellen politischen Kraft“. Goldbergs Vermengen zwischen „Phantasma“ und „aktueller politischer Kraft“ ist bemerkenswert: er weist beide zu Recht als Kontrapole aus, nur um die Differenz mit dem Totschlägerargument vom „Anti-Semitismus“ wieder zuzuschaufeln.

Argumentationen, die Jeremy Ben-Ami, den Präsidenten von "J Street", nur bestärken. Seine von US-Juden, darunter Investmentbroker George Soros, mit einem Budget von über drei Millionen US-Dollar finanzierte Graswurzel-Bewegung hat 29 Mitarbeiter im Durchschnittsalter von 30 Jahren. Neben dem sofortigen Stopp des israelischen Siedlungsbaus setzt sie sich für die Zwei-Staaten-Lösung ein.

Laut Ben-Ami hat dies mittlerweile über 140.000 Mitglieder angezogen. Dies wären 40.000 mehr als bei AIPAC, (sollten die auf deren Webseite im Jahr 2007 gemachten Angaben noch zutreffen), was umsomehr verblüfft, als „J Street“ knapp drei, AIPAC hingegen 57 Jahre alt ist. Die Reaktionen auf Beinarts Artikel kommentierte Ben-Ami jedenfalls amüsiert:

Ist es nicht die ultimative Ironie, dass die Antwort eben des Establishments, das Peter Beinart herausfordert, wiederum darin besteht, den fundamentalen Fragen auszuweichen und sich in eine Kampagne persönlicher Angriffe zu stürzen?

Fazit

In der Tat: Peter Beinart ist in seinem Atikel weit gegangen - etwa wenn er die jetzigen Führer Israels mit den Faschisten unter Francos Diktatur vergleicht -, und doch nicht weit genug. So rühmt er in seiner Passage über den Generationenwandel die „Unschuld“ des jungen Staates zwischen 1948 und 1973. Offensichtlich kommt auch Beinart, der doch Grundsätzliches offen legen will, die grundsätzlichste aller Fragen gar nicht in den Sinn: Wie sollte der zionistische Traum von „Erez Israel“ jemals gerecht auf einem Boden realisiert werden, der seit Jahrhunderten von einem anderen Volk besiedelt war und ist?

Dass er dem ausweicht, ist seinem Artikel abträglich – zumindest für die, die Israels gesamtes Dilemma wahrnehmen wollen. Im selben Atemzug aber ist es jenen zuträglich, die nicht einmal ein Drittel des Dilemmas wahrnehmen wollen. Denn, dass der Artikel soviel Empörung im Establishment auslöste, wurzelt zweifelsohne darin, dass Beinart in diesen Kreisen kein unbeschriebenes Blatt ist: der Professor an der City University of New York prägte lange den Tenor des „New Republic“ mit - ein US-Magazin, das durch uneingeschränkte Israel-Verteidigung ebenso auffällt wie durch zuweilen explizit rassistische Ausfälle gegenüber Arabern.

Zudem: Beinart ist selbst erst 39 Jahre alt und somit offensichtlich ein junger US-Jude mehr, der sich auf die Seite der Liberaleren schlägt.