Kann nur ein Katholik ein guter Pole sein?

Surreale Szenen beim Kampf um ein von Pfadfindern aufgestelltes Kreuz

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Polen streitet, und dies nicht unbedingt besonnen. Östlich der Oder, wo politische und gesellschaftliche Debatten in den letzten Jahren teilweise sehr emotional geführt wurden, also nichts Ungewöhnliches. Erstaunlich ist jedoch der Gegenstand der aktuellen Diskussion. Ausgerechnet das katholische Polen streitet um ein mannshohes Holzkreuz, das polnische Pfadfinder als Zeichen ihrer Trauer um die Opfer des Flugzeugabsturzes von Smolensk im April vor dem Präsidentenpalast in Warschau aufgestellt haben. Doch bei dem Streit um den zukünftigen Standort des Kreuzes, bei dem neuerdings auch die Politik kräftig mitmischt, geht es längst um mehr als nur um das Gedenken an die Toten von Smolensk. Mittlerweile geht es auch um die in Polen alte Frage, ob nur ein Katholik ein guter Pole sein kann und welchen Einfluss die Religion auf einen demokratischen Staat haben soll und kann.

Am Freitag wurde Bronislaw Komorowski, der sich Anfang Juli bei dem 2. Wahlgang der Präsidentschaftswahlen gegen seinen Widersacher Jaroslaw Kaczynski durchgesetzt hat, zum Präsidenten vereidigt. Der ehemalige Sejmmarschall, der nach dem Tod von Lech Kaczynski bereits als Interimspräsident fungierte, ist damit nach Lech Walesa, Aleksander Kwasniewski und Lech Kaczynski der vierte frei gewählte Staatspräsident Polens seit der politischen Wende von 1989.

Die Vereidigung des 58-jährigen Komorowski, die durch die Prüfung der Wahlergebnisse durch das Oberste Gericht verzögert wurde, sollte auch die endgültige Rückkehr des Landes in die politische Normalität bedeuten. Doch der Tod Lech Kaczynskis und 95 weiterer Menschen, darunter ranghoher Vertreter staatlicher Institutionen, bei einem Flugzeugabsturz (siehe [Link auf 147408]) am 10. April in Smolensk, bestimmt immer noch die polnische Politik. Und dies sogar mehr als in den Wochen des Präsidentschaftswahlkampfs.

Mehr als nur einem Trauersymbol

Zu einem Symbol für diese Rückkehr der Toten von Smolensk in die polnische Politik ist ein simples Holzkreuz geworden. Kurz nach dem Flugzeugabsturz haben es polnische Pfadfinder vor dem Präsidentenpalast aufgestellt, als Zeichen ihrer Trauer. Doch ziemlich schnell wurde das Kreuz zu mehr als nur einem Trauersymbol. Polens national-katholische Kreise, die schon vor der umstrittenen Beisetzung Kaczynskis auf dem Krakauer Wawel fleißig an Verschwörungstheorien bezüglich des Todes Kaczynskis strickten (siehe "Es waren die Russen") und es auch weiterhin tun, stilisierten das Kreuz zu einem Symbol für die Zustände im heutigen Polen.

Sie haben nicht nur Angst, dass mit der Entfernung des Kreuzes nicht mehr an die Toten von Smolensk gedacht wird. Für sie ist das Kreuz auch das Zeichen für ein souveränes, starkes und katholisches Polen, für das Lech Kaczynski kämpfte, und gleichzeitig auch das Abbild des neuen, heuchlerischen, gottlosen und liberalen Polens, weil vor ihm Menschen den Tod Kaczynskis beweinten, die wenige Tage vor dem Unglück noch Witze über ihn machten.

Und wie verlogen dieses liberale Polen ist, zeigte sich nach Ansicht der Nationalisten, die aus dem Umfeld des rechtsklerikalen Radio Maryja des Redemptoristenpfarrers Tadeusz Rydzyk (siehe Die Graue Eminenz) kommen, kurz nach dem Wahlsieg Komorowskis. Nur wenige Tage nach seinem Wahlsieg erklärte Komorowski in einem Interview für die liberale Gazeta Wyborcza, dass das Kreuz demnächst von seinem bisherigen Standort entfernt wird.

Ein Wunsch, der nicht nur von dem neuen Präsidenten, sondern auch von den Pfadfindern und dem polnischen Episkopat geäußert wurde. Die katholische Kirche schlug mit der vom Präsidentenpalast nicht weit entfernten Sankt Anna-Kathedrale auch gleich einen neuen Ort für das Holzkreuz vor.

Sie beschimpfen jeden, der nicht ihren Vorstellungen entspricht und sich dennoch wagt, dem Kreuz zu nähern

Die national-katholischen Kreise, die in Polen durchaus eine Minderheit darstellen, rief diese Ankündigung jedoch auf die Barrikaden. Seit nun fast einem Monat verteidigen sie das Holzkreuz vor dem Präsidentenpalast, und dies nicht gerade still. Teilweise sind es mehrere hundert Personen, die sich auf der Warschauer Prachtstraße Krakowskie Przedmiescie versammeln und auf das Kreuz achten.

Dabei beten sie, singen Kirchenlieder, hören Radio Maryja und beschimpfen jeden, der nicht ihren Vorstellungen entspricht und sich dennoch wagt, dem Kreuz zu nähern. Den schwersten Stand in ihrem Kreis hat jedoch der neue Präsident Bronislaw Komorowski. Für manche Verteidiger des Kreuzes ist er entweder ein Jude oder mindestens ein Lakai von Juden (in dieser Frage ist sich die Gruppe vor dem Präsidentenpalast noch nicht einig), der in den Präsidentenpalast nur deshalb einzieht, weil der "wahre Präsident Polens" umgebracht wurde.

Den bisherigen negativen Höhepunkt bei der Verteidigung des Holzkreuzes stellte der 3. August dar. An diesem Dienstag sollten katholische Priester gemeinsam mit den Pfadfindern das Kreuz von seinem bisherigen Ort in die Sankt Anna-Kathedrale bringen. Doch aus dem feierlichen Akt, der den Streit beenden sollte, wurde ein Handgemenge, das die polnische Hauptstadt bisher noch nicht gesehen hat.

Schlägerei ums Kreuz

Mit Rufen wie "Judas", "Bolschewisten" und "Verräter" griffen die "Kreuzritter", wie die Verteidiger des Kreuzes in Anlehnung an den gleichnamigen Roman des Literaturnobelpreisträgers Henryk Sienkiewicz in der Presse genannt werden, nicht nur die Sicherheitsleute an, die die Zeremonie beschützen sollten, sondern auch die Geistlichen.

Um die Situation wieder in den Griff zu bekommen, musste die Polizei Schlagstöcke und Tränengas einsetzen. Doch endgültig beruhigte sich die Situation erst, nachdem die Kirche und die Präsidialkanzlei die Verlegung des Kreuzes auf einen bisher nicht genannten Tag verschoben.

Während die Verteidiger des Kreuzes die Nachricht wie einen Sieg feierten und ankündigten, weiterhin für ihr Ziel kämpfen zu wollen, zeigte sich das restliche Polen schockiert. "Die einen sprechen von einem Sieg der Bürger über eine gottlose Regierung, die anderen, und dies nicht zu Unrecht, von Anarchie, Aushebelung des Staates und Erpressung", schrieb beispielsweise Pawel Lisicki, Chefredakteur der nicht gerade mit Tusk und Komorowski sympathisierenden konservativen Tageszeitung Rzeczpospolita, in einem Kommentar.

Politisierung des Kreuzes

Und auch die Kirche verurteilte die Ereignisse vor dem Präsidentenpalast. "Das Kreuz darf nicht dazu missbraucht werden, Menschen zu spalten, Interessen und Gebiete abzustecken oder um seine persönlichen Ziele zu erreichen. Denn das ist eine schreckliche Instrumentalisierung des Kreuzes", mahnte am 5. August der Warschauer Erzbischof Kazimierz Nycz in einer Predigt.

Eine Aussage, die Jozef Kowalczyk, Erzbischof von Gnesen und dadurch auch Primas von Polen, am Montag bekräftigte. "Das Kreuz ist ein Symbol der Erlösung und nicht der Konflikte, der Teilung und des Kampfes um die politische Macht", erklärte der ranghöchste Geistliche des Landes, der bereits Ende Juli bei einer Wallfahrt in Tschenstochau vor einer Politisierung des Kruzifixes warnte.

Doch es sind Mahnungen, die von der Kaczynski-Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) überhört wurden und weiterhin überhört werden. Und dies nicht ohne Grund. Denn den Streit um das von den Pfandfindern aufgestellte Holzkreuz hat die nationalkonservative Partei nicht nur mitverantwortet, sondern mittlerweile für eigene Zwecke instrumentalisiert. Bereits kurz nach dem Präsidentschaftswahlkampf hat die PiS, deren Rhetorik während der Wahlkampfwochen sehr zurückhaltend war, aggressive Töne angeschlagen.

Sie beschuldigte die Regierung, die Smolensk-Ermittlungen zu verzögern, gab der regierenden Bürgerplattform gar eine Mitschuld für den Tod der 96 Menschen und gründete im Parlament eine eigen Untersuchungskommission unter der Leitung des ehemaligen Innenministers Antoni Macierewicz.. Und als ob dies nicht genug wäre und Lech Kaczynski mit seiner Grabstätte in der ehemaligen Königsresidenz Wawel in Krakau nicht ausreichend geehrt worden wäre, fordert die PiS ein Denkmal für Lech Kaczynski und die anderen tödlich verunglückten, das ausgerechnet vor dem Präsidentenpalast aufgestellt werden soll.

"Kreuzritter"

All diese Forderungen brachten die "Kreuzritter" auf die Straße, die aus ganz Polen in die polnische Hauptstadt kamen, um das Kreuz zu verteidigen. Wahrscheinlich würde auch ein Wort von Jaroslaw Kaczynski reichen, um dem Spuk in der Warschauer Altstadt ein Ende zu machen. Doch mit seinen Interviews und Aussagen, dem demonstrativen Wegbleiben bei der Vereidigung Komorowskis sowie seinen Auftritten vor dem Präsidentenpalast, wo Kaczynski am Dienstagvormittag gemeinsam mit seinen Anhängern betete, verschärft er die Situation.

Mit einem ersten Erfolg. Das polnische Episkopat tritt in der Angelegenheit nicht mehr so geschlossen auf, wie noch vor einigen Tagen. Während eines Gottesdienstes am Montag machte der Stettiner Erzbischof Andrzej Dziega keinen Hehl aus seinen Sympathien für die Verteidiger des Kreuzes und betete für sie und ihre Sache. "Das Kreuz hat ein Anrecht darauf, an seinem bisherigen Ort zu bleiben", sagte Dziega während eines Gottesdienstes.

Doch der bisher größte Erfolg für die "Kreuzritter", sind die jüngsten Äußerungen des Vorsitzenden des polnischen Bischofskonferenz, Jozef Michalik. "Das Episkopat hat den Konflikt nicht ausgelöst und das Episkopat wird es auch nicht lesen", sagte Michalik in einem gestern erschienen Interview für die Rzeczpospolita und nannte zu allem Überfluss die Verteidiger des Kreuzes auch noch die "Stimme des Volkes".

Ein Rückzieher, der zeigt, dass es bei dem Streit um das vor dem Präsidentenpalast aufgestellte Holzkreuz um mehr geht als nur um das Andenken an die Toten von Smolensk. Es ist ein politischer Machtkampf zwischen der PiS und der regierenden Bürgerplattform (PO) von Premierminister Donald Tusk, noch mehr aber ein Diskurs um die in Polen schon alte Frage, ob nur ein Katholik ein guter Pole ist und wie groß der Einfluss der Religion auf einen demokratischen Staat sein soll.

Und ausgerechnet in dieser Frage befinden sich die polnischen Bischöfe in einem Dilemma. Die politischen Spielchen des geschäftstüchtigen Tadeusz Rydzyk (vgl. Gotteskrieger mit Mobilfunknetz) betrachtet das Episkopat zwar mit Misstrauen, doch das alte Denken, dass die katholische Kirche die Hüterin des Polentums ist, so wie während der Teilungen, und eine politische Kraft wie in den Zeiten der Volksrepublik, konnten die Kirchenoberen in den letzten 20 Jahren nicht ablegen.

Die polnische Gesellschaft

Ganz anders dagegen die polnische Gesellschaft. Die Polen sind zu über 90 Prozent zwar immer noch katholisch und ein Großteil von ihnen geht regelmäßig in die Kirche, doch die Religion wird von der Bevölkerung immer mehr als eine Privatangelegenheit betrachtet, die im öffentlichen Raum nicht zu suchen hat. Was dazu geführt hat, dass man auch in Polen in den letzten Jahren über die Kruzifixe in den Schulen debattiert hat und die Kritik an dem politischen Einfluss der Kirche lauter wurde. Vor allem bei der jüngeren, westlich orientierten Generation stoßt dies auf immer heftigere Kritik.

Deshalb ist die aktuelle Debatte auch der Höhepunkt der bisherigen Entwicklung, mit dem Ergebnis, dass sich eine Minderheit, die sich in dem heutigen Polen nicht mehr zurechtfindet, immer mehr radikalisiert. Die Reaktionen darauf sind verschieden. Das Bündnis der Demokratischen Linken (SLD) versucht sich als Hüterin der Verfassung, in dem die Trennung zwischen Staat und Kirche klar festgeschrieben ist und demonstrierte am Dienstag unter dem Motto "Erst die Verfassung, dass das Kreuz" für einen säkularen Staat.

Surreale Szenen

Die effektivste Reaktion organisierte jedoch der 22-jährige Student Dominik Taras. Über Facebook rief er für den Montag zu einer Gegendemonstration vor dem Präsidentenpalast auf, zu der mehrere tausend vorwiegend junge Polen kamen. Mit Transparenten wie "Das Kreuz gehört in die Kirche" protestierten sie gegen das Holzkreuz vor der präsidialen Kanzlei und zogen so den Unmut der "Kreuzritter“ auf sich. Wenn nicht mit Beschimpfungen, dann versuchten die Verteidiger des Kreuzes die Demonstranten mit Gebeten und Kirchenliedern zum Schweigen zu bringen. Die Anhänger der "Aktion Kreuz" antworteten darauf mit Kinder- und Volksliedern.

Es war eine surreale Szene, die sich vor dem Präsidentenpalast abspielte. Und die sich in den nächsten Tagen wiederholen wird. Am gestrigen Dienstag organisierten die Kreuzritter eine Demonstration gegen ihre Gegendemonstranten.

Information: Über die Zukunft des Holzkreuzes wurden im Auftrag der Tageszeitung Rzeczpospolita und des Fernsehsenders TVN zwei Umfragen durchgeführt, die am Montag veröffentlicht wurden. Da die Meinungsumfragen jedoch zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, sind sie wenig aussagekräftig. Das einzige was sie gemeinsam haben: in allen beiden Umfragen spricht sich eine Mehrheit gegen den Präsidentenpalast als dauerhaften Standort für das Holzkreuz aus.