Lucys Schlachtfest

Zwei parallele Schnittspuren auf dem versteinerten Knochen eines Huftieres von der Größe einer Kuh, Foto: Dikika Research Project

Spektakulärer Fund in Äthiopien: Steinwerkzeuge gab es bereits vor mehr als drei Millionen Jahren

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Afrika bleibt der Kontinent der großen Erkenntnisse für die Forscher, die sich mit der Frühzeit der Evolution des Menschen beschäftigen. In Ostafrika entdeckten Paläoanthropologen jetzt Fossilien von Tierknochen, die eine echte Überraschung bargen: Offensichtlich haben schon die Australopithecinen scharfkantige Steinwerkzeuge benutzt, um das Fleisch von den Knochen toter Tiere zu schaben. Die Hominiden vor rund drei Millionen Jahren waren Fleischesser und schlachteten mit Werkzeug.

Der Gebrauch von Werkzeugen gilt als wesentlicher Bestandteil der Menschheitswerdung. Irgendwann in grauer Vorzeit begannen affenähnliche Wesen sich auf zwei Beine zu erheben, die so frei gewordenen Hände entwickelten sich zu vielseitig einsetzbaren, natürlichen Tast- und Greifwerkzeugen. Zunehmend ergriffen die Hände menschlicher Vorfahren natürliche Materialien wie Äste oder Steine, um damit den Körper funktionell zu erweitern, zum Beispiel, um besser an Nahrung zu gelangen oder Essbares mundgerecht zu zerteilen. Zur Evolution des Menschen gehört die technische Entwicklung, die Herstellung und immer weitere Verfeinerung von Werkzeugen.

Wie sich in den letzten Dekaden zeigte, benutzen Tiere – vor allem Menschenaffen – auch Werkzeuge, diese Eigenschaft ist also kein exklusives Vorrecht der Menschen, aber ihre diesbezüglichen Fähigkeiten sind sehr limitiert (vgl. Werkzeuggebrauch bei Tieren)

Vor ungefähr vier Millionen Jahren erschien der Australopithecus (abgeleitet vom lateinischen australis "südlich" und dem altgriechen pithekos "Affe") in Afrika. Diese Gattung der Hominiden hatte relativ kleine Gehirne, die Individuen waren zwischen 1,00 und 1,60 m groß und gingen aufrecht (vgl. mögliches Aussehen). Ihre bekannteste Vertreterin ist Lucy, die bei ihrer Entdeckung fälschlich als „afrikanische Urmutter“ gefeiert wurde, und zur Art Australopithecus afarensis gehört.

Lucy und ihre Brüder gingen aufrecht durch offenes Land, kletterten aber auch noch auf Bäume. Sie ernährten sich von Früchten, Blättern und Wurzeln, ihren Speiseplan ergänzten sie durch Insekten, die sie im Zweifelsfall auch mit Grabstöcken aus dem Boden gruben. Dieses Bild hat die Forschung bis heute gezeichnet. Es muss nun bezüglich der Ernährungsweise und des Werkzeuggebrauchs revidiert werden.

Klassische Illustration eines Australopithecus, Bild: Leibniz-Institut für Primatenforschung (Illustration einer Veranstaltung zum Darwin Jahr)

In der aktuellen Ausgabe des Wissenschaftsmagazins Nature stellen Zeresenay Alemseged von der California Academy of Sciences in San Francisco und Kollegen verschiedener Forschungsinstitute in den USA, Frankreich und Deutschland ihren spektakulären Fund vor.

Seit 1999 gräbt das Foscherteam in Dikika, südlich von Hadar, wo auch Lucy einst lebte, in der äthiopischen Afar-Region. 2006 machten sie mit dem Fund eines Australopithecus afarensis-Kleinkindes Schlagzeilen, das vor 3,3, Millionen Jahre lebte und von den beteiligten Paläoanthropologen liebvoll auf den Namen Selam getauft wurde (vgl. Little Lucy).

Nur 200m von der damaligen Fundstelle entfernt, spürte das Team um Zeresenay Alemseged jetzt die nur auf den ersten Blick unspektakulär aussehenden versteinerten Knochenstückchen auf. Der Fundort liegt in einer Dränage, einem natürlichem Ablaufkanal. Die vulkanische Ascheablagerung, in Form von Tuffstein vor Ort, lassen eine präzise Datierung auf ein Alter zwischen 3,42 und 3,24 Millionen Jahren zu. Die Forscher schätzen das Alter der Fossilien auf 3,4 Millionen Jahre. Teammitglied Curtis Marean von der Arizona State University erklärt:

Die Knochen stammen von zwei Tieren: Der Oberschenkelknochen entspricht der Größe nach dem entsprechenden Knochen einer Ziege. Das andere Tier, von dem die Rippe stammt, hatte wenigstens die Größe einer Kuh. Unsere nächsten lebenden Verwandten, Schimpansen und Bonobos, jagen Tiere dieser Größenordnung nicht. Sie fressen auch nicht deren Kadaver.

Aus den Knochenfunden schließen wir also, dass die Australopithecinen aus Dikika bereits größere Säugetiere verzehrten. Ob diese Tiere gejagt wurden oder ob die Australopithecinen Aasfresser waren, wissen wir derzeit noch nicht. Die meisten Spuren zeigen Eigenschaften, die zweifelsfrei darauf schließen lassen, dass sie von Steinwerkzeugen verursacht wurden.

Zwei vom Steinwerkzeug-Gebrauch gezeichnete Knochenfragmente: Die zwei Schnitte am oberen Knochen sind auch auf dem Bild oben in einer Vergrößerung durch das Mikroskop zu sehen. Foto: Dikika Research Project

Der Australopithecus war ein Fleischfresser

Die versteinerten Knochenstücke zeigen deutliche Spuren, die durch die Bearbeitung mit scharfen Steinwerkzeugen entstanden sind. Das sind zum einen Schnitt- und Schabbeschädigungen, die durch das Ablösen des Fleisches vom Knochen entstanden sind. In einer Schnittkerbe fand sich sogar ein winziger Splitter des Steins, mit dem er vor mehr als drei Millionen Jahren malträtiert wurde. Zum anderen gab es Beschädigungen, die klar zeigten, dass die Hominiden die Knochen auch zertrümmerten, um an das nahrhafte Knochenmark zu kommen.

Mittels Untersuchungen mit dem Elektronenmikroskop und eines speziellen Verfahrens der Röntgenspektroskopie konnten die Wissenschaftler klar ausschließen, dass die Kerben und Brüche in den Knochen durch Raubtierbisse verursacht wurden – noch nach der Versteinerung passiert sein können.

In direktem Zusammenhang mit den Tierknochen wurden keine Fossilien von Vor-Menschen gefunden. Aber nicht nur das uralte Kind Selam stammt aus nächster Nähe – in dieser Region lebte vor rund drei Millionen Jahren wahrscheinlich ausschließlich Australopithecus afarensis. Deshalb gehen die Forscher davon aus, dass es diese Art gewesen sein muss, die sich hier ein Festmahl bereitete. Australopithecus afarensis war kein Vegetarier, er verleibte sich Fleisch ein – das ist die zweite überraschende Entdeckung.

Der Hauptautor der aktuellen Nature-Veröffentlichung, der Archäologe Shannon McPherron vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig erläutert die Bedeutung:

Mit Steinwerkzeugen ausgerüstet, mit deren Hilfe man Fleisch schnell vom Knochen schaben oder Knochen aufbrechen kann, wurden Tierkadaver zu einer attraktiven Nahrungsquelle. Dieser neue Verhaltenstypus wies unseren Vorfahren den Weg, der später zu zwei Eigenschaften führte, die unsere Art Homo definieren - der Verzehr von Fleisch sowie die Herstellung und der Gebrauch von Werkzeug.

Projektleiter Zeresenay Alemseged birgt in Dikika die 3,4 Millionen Jahre alten Fossilien eines Nashorns. Foto: Dikika Research Project

Die Umgebung, in der die Hominiden ihre Fleischmahlzeit einnahmen, sah völlig anders aus als heute. Sie war sehr fruchtbar, es gab eine Vielzahl von Tieren und möglicherweise auch einen großen See.

Die Steinwerkzeuge

Unklar bleibt, ob die Verwandten von Lucy die Steinwerkzeuge selbst herstellten, oder schlicht scharfkantige Brocken aufsammelten. Vor Ort in der Fundschicht lagen weder die Werkzeuge selbst, noch andere, dafür geeignete Steine. Dort fanden sich nur Kiesel. Der nächste geeignete Ort, wo es entsprechende Stücke gegeben haben könnte, liegt sechs Kilometer entfernt. Alles spricht dafür, dass die Hominiden bei ihren Streifzügen die steinernen Messer bei sich trugen. Sie waren ihr kostbarster Besitz.

Ob sie die Werkzeuge auch für die Jagd einsetzen, oder sich für ihre Ur-Metzgerei nur an Aas bedienten, bleibt unklar. Aber in jedem Fall konkurrierten sie mit den Raubtieren bereits um Beute – das machte ihr Leben sicher noch gefährlicher.

Die ältesten vordem bekannten Steinwerkzeuge sind 2,6 Millionen Jahre alt und wurden in Äthiopien und Kenia entdeckt (vgl. Oldowan - Steinwerkzeuge). In der Nähe eines äthiopischen Fundes fand sich ein 2,4 Millionen Jahre alter Oberkiefer eines frühen Homo – und entsprechend ging die Paläoanthropologie mehrheitlich davon aus, dass erst der echte Mensch sie nutzte.

Das muss jetzt revidiert werden, denn die neuen Dikika-Funde beweisen, dass Hominide schon 800.000 Jahre früher Steinwerkzeuge für ihr Schlachtfest verwendeten. Zeresenay Alemseged freut sich über seinen wissenschaftlichen Durchbruch und zieht vor lauter Begeisterung gleich eine durchgehende Linie der Menschheitsgeschichte bis ins Heute:

Diese Entdeckung verschiebt den bisher bekannten Zeitpunkt erheblich nach vorne, ab dem unsere Vorfahren die Spielregeln komplett änderten. Der Werkzeuggebrauch hat die Interaktion unserer Vorfahren mit der Natur maßgeblich verändert, indem er den Verzehr neuer Nahrungsmittel und die Erschließung neuer Territorien ermöglichte. Er führte auch zur Herstellung neuer Werkzeuge - den Vorläufern von hochentwickelten Technologien wie Flugzeug, Magnetresonanztomographie und iPhone.

Ein bisschen gewagt, denn die Paläoanthropologen wagen es nach der Vielzahl der in den letzten Jahren neu entdeckten Hominiden kaum noch, gerade Linien zu ziehen. Die Evolution des Menschen verlief eher in Zickzackform, und wer unter den Hominiden tatsächlich zu unseren direkten Vorfahren zählt, ist umstrittener den je. Viele Arten von Vormenschen lebten wohl parallel, die Geschichte der Menschheit wird gerade umgeschrieben. Das Kapitel Australopithecus ist nun aktuell in Überarbeitung.